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Gewaltfrei und mit langem Atem - Elisa Rheinheimer-Chabbi
Der religiöse Sozialist Christoph Blumhardt d. J. - Albrecht Esche / Jörg Klingbeil
»Sehet die Vögel unter dem Himmel an...« - Brigitte Hoffmann
Jahrestagung der Initiative »Reich Gottes jetzt« - Jörg Klingbeil
Deutsche Kolonie Haifa weiterhin im Fokus - Peter Lange
Widerstand ohne Waffen: Jeden Freitag demonstrieren die Bewohner von mehr als dreißig Ortschaften im Westjordanland gegen die israelische Besatzung. Friedlich. Und kreativ.
Saeed Amireh hat viel zu tun in diesen Tagen. Gemeinsam mit Freunden und Bewohnern seines Dorfes Nilin ist der 23-Jährige dabei, einen Film zu drehen und ein Buch zu schreiben. Ihr Thema: der gewaltfreie Widerstand gegen die israelische Besatzungsmacht. Saeed Amireh ist ein palästinensischer Friedensaktivist. Einer von vielen. Nilin ist ein Dorf im Westjordanland, dessen Bewohner sich widersetzen, ohne sich als Selbstmordattentäter in die Luft zu sprengen, Waffen zu nutzen oder Steine zu werfen. Es ist ein Dorf von vielen.
Jeden Freitag treffen sich die Bewohner, um zu protestieren. Mit Händen, die sie gen Himmel recken, um zu zeigen, dass sie nicht bewaffnet sind. Mit Plakaten, auf denen sie ihr Land zurückfordern. Mit Fotos ihrer getöteten oder verletzten Angehörigen. Saeed Amireh macht das seit sieben Jahren. Jeden Freitag. »Entweder stirbst du irgendwann still und leise, oder du leistest Widerstand. Wir wollen unser Zuhause verteidigen, unser Land. Wir wollen eine bessere Zukunft«, sagt er. Doch fast jeden Freitag kehren die Menschen in Nilin mit Verletzten nach Hause zurück. Die israelischen Soldaten schießen mit Tränengasgranaten, häufig auch mit Gummigeschossen, die einen harten Kern haben und lebensgefährliche Verletzungen herbeiführen können. Verhaftungen und nächtliche Razzien sind an der Tagesordnung. Auch Saeed Amireh war schon dreimal in Haft. Während der friedlichen Proteste wurde ihm einmal ins Bein geschossen und unzählige Male mit Tränengas direkt ins Gesicht. »Freiheit gibt es eben nicht umsonst. Freiheit hat ihren Preis«, sagt er...
Dieser Artikel ist für die Internetausgabe der »Warte« leider nicht freigegeben. Lesen Sie den vollständigen Artikel in der gedruckten Ausgabe der »Warte« oder in »Publik-Forum«, kritisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 15/2015, Seite 22.
Die Aufforderung Jesu »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit« (Mt 6, 33) ist der Leitspruch der Tempelgesellschaft. Ihre Gründer haben durch die vorbildhafte Bildung christlicher Gemeinden, nicht zuletzt im Heiligen Land, auch zur Lösung sozialer Missstände in der Welt beitragen wollen. Die »soziale Frage« hat aber auch viele Christen in Deutschland umgetrieben. Einer der profiliertesten Vertreter eines »religiösen Sozialismus« war Christoph Blumhardt d.J.. Das folgende - hier gekürzte - Referat wurde im Juni 2009 im Rahmen der Tagung »Reich Gottes heute« an der Evangelischen Akademie Bad Boll gehalten.
Beim Thema »Reich Gottes heute« kommt man hier in Bad Boll an den Blumhardts nicht vorbei, denn an deren Geschichte kann abgelesen werden, wie sich »Reich Gottes« und »heute« zueinander verhalten. »Reich Gottes« hat nirgends anders so Fuß gefasst wie in Württemberg, wo der »Reich-Gottes-Glauben« im Pietismus elementar verankert ist. Johann Albrecht Bengel hatte um 1750 herum sogar aus Zahlen und Daten der Bibel den Anbruch dieses 1000-jährigen Reiches auf den 16. Juni 1836 datiert. Wenige Jahre später, 1844, erfolgte durch den Pfarrer Johann Christoph Blumhardt (1805-1880) die »Wunderheilung von Möttlingen« an einer jungen Frau, die offenbar an psychosomatischen Störungen litt. Blumhardt (d.Ä.) wertete dies als Zeichen für das Anbrechen des Reiches Gottes, getreu dem Bibelwort »Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen« (Lukas 11, 20). Für Blumhardt wurde der Glaube auf diese Weise erfahrbar und blieb weder eine reine »Herzensangelegenheit« noch eine intellektuelle theologische Denkrichtung. Kein Wunder, dass sein Sohn Christoph Blumhardt (1842-1919) vom Studienort Tübingen aus dem Vater schrieb »Vater, erlöse mich von der Theologie!«: Die trockene akademische Gelehrsamkeit stand eben in einem diametralen Gegensatz zu den Erfahrungen im Möttlinger Pfarrhaus und im Kurhaus von Bad Boll, wo Johann Christoph Blumhardt ab 1852 mit großem Erfolg als Pfarrer, Seelsorger und Heiler wirkte. Sein »Geheimnis« war den Berichten seiner Zeitgenossen zufolge neben seinem unerschütterlichen Gottvertrauen sein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und seine Fähigkeit, Hoffnung zu vermitteln, weil er der Überzeugung war, dass Hoffnungslosigkeit krank macht. Für ihn war das Reich Gottes »im Kommen«. Damit begeisterte er unzählige Menschen der damaligen Zeit; Bad Boll wurde zum regelrechten Wallfahrtsort. Nebenbei finanzierte er auch den Kauf des Bad Boller Kurhauses und die nachfolgenden Tätigkeiten. Als er 1880 starb, bevollmächtigte er seinen Sohn »zum Siegen«, so wie er es schon 1852 in seinem programmatischen Choral gedichtet hatte: »Dass Jesus siegt, bleibt ewig ausgemacht«.
Sein Sohn, Christoph Blumhardt d.J., distanzierte sich schon früh von einer falsch verstandenen Kirchlichkeit. 1894 übergab er alle Rechte, im Kirchensaal des Kurhauses auch kirchliche Amtshandlungen vornehmen zu dürfen, an die Stiftskirche im Dorf Boll, wo sein Bruder Theophil als Pfarrer amtierte, verzichtete also auf die ausübende Funktion eines Pfarrers. 1895 distanzierte er sich aber auch von seinem Vater, dem er im Grunde drei Fehler vorwarf: Erstens habe er das Reich Gottes viel zu individualistisch verstanden, so als ob nur die Heilung dieses oder jenes Menschen zeichenhaft bedeutsam sei. Reich Gottes meine aber den ganzen Kosmos, also Mensch, Natur, Umwelt, Völker. Zweitens habe sein Vater zu sehr auf die Kirche gesetzt, die aber ein bürgerlicher Verein sei, dem es primär um Macht und Einfluss, um Erhalt seiner Strukturen gehe; Gott aber wolle viel mehr. Schließlich sei auch sein Verständnis von Mission falsch gewesen, die nicht dem kommenden Herrn entgegenarbeite, sondern ein verlängerter Arm des Kolonialismus und des Imperialismus sei. Das alles müsse revidiert werden, ausgehend von der Reich-Gottes-Definition des Apostels Paulus, wonach das Reich Gottes nicht Essen und Trinken sei, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude in dem heiligen Geist (Römer 14, 17). Darin sah Blumhardt die Losung der Arbeiterbewegung bereits biblisch vorgezeichnet, was ihn schließlich zur Politik führte.
Blumhardts Verständnis vom diesseitigen Reich Gottes findet sich in folgenden Zitaten wieder: »Das Ziel war ein irdisches, zunächst nicht, wie wir Christen meinen, ein himmlisches, sondern ein himmlisches auf Erden… dass auf Erden Gottes Name geheiligt werde, dass auf Erden Gottes Reich sei und auf Erden sein Wille geschehe. Die Erde soll das ewige Leben verkündigen… Ich habe keinen Gott im Himmel, den haben die Engel, ich will da unten beten. Ich muss Gott da haben. Die Erde ist der Schauplatz des Reiches Gottes… Das Ziel Gottes ist das Diesseits. Jesus ist der Trotz gegen die Armut, Sünde und alles Elend. … Redet nicht von Jesus - seid Jesus! … Das Neue, was Christus wollte und was ich nun auch will, ist, den Menschen zu sagen: Hütet euch davor, Christus in den Wolken zu suchen, im Jenseits zu suchen. Nein, suche ihn in dir, da, wo du eine gute Regung, ein hohes Empfinden entdeckst! … Man braucht keinen dogmatischen Glauben an Jesus, den Sohn Gottes - man braucht nur zu folgen.«
Wenn Gott seine Heilsgeschichte irdisch realisiert, so waren für Christoph Blumhardt weder die Amtskirche des 19. Jahrhunderts noch die deutsch-national gesinnte Geistlichkeit dafür die geeigneten Werkzeuge. Er sah vielmehr nur eine richtige gesellschaftliche Kraft am Werk, die göttliche Visionen wie Gerechtigkeit, Menschenliebe und Freiheit im Blick hatte und politisch umsetzen wollte: Die Sozialdemokratie, damals noch eine atheistische, kirchenfeindliche Partei, die aber für Blumhardt ein Instrument Gottes im Wachsen der Heilsgeschichte war. Er beschäftigte sich eingehend mit der sozialen Frage, besuchte Arbeiterversammlungen und solidarisierte sich schließlich 1899 öffentlich mit der Arbeiterbewegung: »Jesus starb als Sozialist, die Apostel waren Proletarier.« Er trat der Sozialdemokratischen Partei bei, für die er im Jahr 1900 umgehend erfolgreich für den Stuttgarter Landtag kandidierte - wie er seinem Schwiegersohn, einem Missionar, berichtete, »trotz des Zornes aller Pfarrer und Stundenleute... Nun aber nur keine Kirche mehr, keine Trennung, alles Volk soll die Herrlichkeit Gottes schauen.« Und weiter: »Heutzutage ist nicht mehr entscheidend, was einer glaubt, sondern wie einer lebt. ...Taufe Du ja keinen Chinesen! Gott tauft seine Menschen mit Geist und mit Feuer. Wer den Willen Gottes tut, ist Gottes Kind, gleich ob er von Konfuzius oder von den Kirchenvätern abstammt.« Derartige Äußerungen entfachten einen ungeheuren Sturm der Entrüstung; die Kirchenleitung legte ihm schriftlich nahe, auf Titel und Rang eines Pfarrers der Landeskirche (samt allen Versorgungsansprüchen) zu verzichten, was Blumhardt mit den Worten kommentierte »das tu ich gern - was soll ich mit dene Läpple«, womit er sowohl die Ordinationsurkunde als auch das Beffchen des Talars gemeint haben könnte. Einem fassungslosen Anhänger schrieb er: »Eins weiß ich heute schon, dass Menschen, welche das Ziel einer neuen Gesellschaftsordnung im Herzen tragen, Christus näher stehen als manche Orthodoxen, die ja mich mit meinem brennenden Wunsch und meinem Arbeiten auf ein neues Geschlecht mit neuen Sinnen niemals aufgenommen haben. Christusschwärmerei soll’s gewesen sein? Ja, weil eben Christentum an Christi Stelle getreten ist, muss ein wirklicher Nachfolger Christi Schwärmer heißen. … Das Bewusstsein, von Gott geführt zu sein, ist meine Stärke, wie allezeit so auch jetzt, da es Sturm gibt.« Blumhardt forderte indirekt eine Gesellschaftsanalyse und konnte so seine Reich-Gottes-Theologie irdisch verankern. Seine damalige Kapitalismuskritik klingt geradezu modern: »Der letzte Feind ist der Kapitalismus, der tötet. … Wir wollen nicht einen Umsturz, wo alles umgedreht wird, sondern wir wollen den Umsturz, den Jesus angekündigt hat, den Umsturz des Kapitals. … Das Kapital ist der Tyrann der heutigen Menschheit. … Christus will von dieser Kapitalwirtschaft nichts wissen. … In Christi Reich muss das Geld auch eine Rolle spielen, aber keine größere als das Leben. … Gott will auch die soziale Frage lösen; deshalb bin ich Sozialist. Und ehe die soziale Frage nicht gelöst ist, hat unser Christentum die Höhe nicht erreicht. Jedenfalls ist es eine Schmach der christlichen Kirche, dass sie die soziale Frage nicht zu lösen verstanden hat.« Gesellschaftspolitisch liefen diese Forderungen darauf hinaus, die Klassenunterschiede zwischen Kapitalisten und Arbeitern, zwischen arm und reich aufzuheben, allerdings aus Sicht Blumhardts ohne die von Marx propagierte Diktatur des Proletariats: »Es wird schließlich Gottes Reich heißen, nicht Sozialdemokratisches Reich.«
Die kämpferische Botschaft Blumhardts drang weit in theologische Kreise vor, wenngleich nicht in lutherische oder württembergische, weil diese eher konservativ dachten. Besonders sprach sie reformierte Theologen aus der Ostschweiz an, unter ihnen auch der bedeutende Theologe Karl Barth (1886-1968), der Blumhardt mehrfach besuchte und rückblickend schrieb: »Das Einzigartige, (…) das Prophetische in Blumhardts Botschaft und Sendung lag darin, wie sich das Eilen und Warten, das Weltliche und das Göttliche, das Gegenwärtige und das Kommende in seinem Reden und Tun begegnete, vereinigte, ergänzte, immer wieder suchte und fand. … Ich sehe nur, dass Blumhardt etwas kann, was wir meistens nicht können: Gottes Sache in der Welt vertreten und doch nicht gegen die Welt Krieg führen. Die Welt lieb haben und doch Gott ganz treu sein - …vor Gott und zu Gott unablässig und unbeirrt flehen: Dein Reich komme! und mit den Menschen warten und eilen, diesem Kommen entgegen.«
Im Jahr 1907 erfolgte in Zürich die erste »Religiös-Soziale Zusammenkunft«; im Jahr 1926 wurde schließlich der (heute noch bestehende) »Bund der Religiösen Sozialisten Deutschland« gegründet, dessen wichtigste Vertreter der Religionsphilosoph Martin Buber, der Theologe Paul Tillich und der Quäker Emil Fuchs waren. Mit dem Zusammenbruch der sozialistisch geführten Staaten 1989 mag die Frage nach der Relevanz eines religiösen Sozialismus verstummt sein. Gewiss aber nicht sein Anliegen, zur Verwirklichung des Reiches Gottes hier auf Erden, zu einer humanen Gesellschaft und einer befriedeten, gerechten Weltordnung beizutragen, dem sich Christoph Blumhardt mit seiner ganzen Existenz verschrieben hatte. So möge auch ein Zitat von ihm nun Abschluss und Aufbruch markieren: »Es besteht ein Unterschied zwischen dem Glauben, der einfach nur so Gott annimmt, und dem Glauben, der wirklich etwas erwartet. Und ich möchte euch ermuntern: Erwartet doch etwas!«
Albrecht Esche, Studienleiter an der Evangelischen Akademie Bad Boll; das vollständige Referat kann hier nachgelesen werden.
(Matthäus 6, 25-34)
Ich liebe diese bekannte Bibelstelle aus der Bergpredigt und möchte andere an meiner Freude teilhaben lassen. Sie beschreibt zunächst Fauna und Flora, die nicht für sich sorgen und doch ernährt bzw. herrlich gekleidet werden. Und Jesus fügt an: Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: was werden wir essen (trinken, anziehen)? Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.
Das klingt wunderbar tröstlich: das Bild des Schöpfers, der seine Geschöpfe kennt und liebt. Aber zugleich wird der Widerspruch bewusst, der unterschwellig den ganzen Text durchzieht. Denn der Trost ist brüchig: wie auch immer wir uns Gott vorstellen - er nährt uns nicht ohne unsere eigene Arbeit und unser eigenes Mühen. Und wir wissen, dass viele sich trotz allem Mühen und Sorgen nicht ernähren können.
Bei genauerer Betrachtung merken wir zudem, dass auch das Bild von den Vögeln nicht stimmt. Vögel sind für uns ein Symbol für Freiheit, in der Realität gehören sie zu den Tieren, die »planen« und vorsorgen. Ist dieses Beispiel denn nur eine schöne Illusion, die mit der Realität nichts zu tun hat? Warum habe ich dann das Gefühl, dass es mich angeht? Warum macht es mich froh? Dazwischen steht die Erinnerung daran, dass keiner von uns seiner Lebensspanne auch nur eine kleine Frist hinzusetzen kann, auch wenn er sich noch so sehr darum müht. Eigentlich ein ziemlich trostloser Aspekt. Warum wirkt es nicht so, zumindest nicht auf mich?
Vielleicht deshalb: in dem Bild spiegeln sich die Fülle und die Schönheit der Schöpfung, die Herrlichkeit speziell des Sommers - deshalb passt es jetzt so gut.
Der Text bindet uns ein in diese Herrlichkeit - eine Herrlichkeit, in die auch Trauer, Tod und Vergänglichkeit gehören. Alles entfaltet sich - das schließt ein, dass diese Herrlichkeit auch wieder vergeht. Das gilt für die Natur, das gilt auch für uns. Sorget nicht? Das können wir nicht, und das dürfen wir auch nicht, auch dann nicht, wenn diese Herrlichkeit uns oft Mühen kostet. Wir sind ein Teil dieser Herrlichkeit, und deshalb können und dürfen wir uns darin geborgen fühlen. Der Text leitet uns an, hinzuschauen und ihre Schönheit wahrzunehmen und uns daran zu erfreuen. Wir müssen uns sorgen, aber wir sollen nicht zulassen, dass die Sorgen unsere Freude überwuchern, - auch die Freude auf das Neue und Andere, das die stete Verwandlung notwendig bringen wird. Das kann uns mehr Vertrauen lehren und mehr Gelassenheit. Vielleicht schließt deshalb dieser eigentlich irrationale Text mit einem ganz banalen und praktischen Rat: Darum sorget nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat. Ich füge hinzu: wenn wir es zulassen, wird er auch seine eigene Freude haben.
Die Jahrestagung der Ökumenischen Initiative » Reich Gottes jetzt«, an der Peter Lange und ich teilnahmen, fand Mitte Juli im Zinzendorfhaus in Neudietendorf statt, das heute u.a. der Evangelischen Akademie Thüringen als Tagungsstätte dient. Rund 20 Teilnehmer hatten sich in dem idyllisch gelegenen ehemaligen Schwesternhaus der Herrnhuter Brüdergemeine eingefunden. Nach einer Begrüßung und einer Vorstellungsrunde am Freitagabend folgte am Samstagvormittag ein Referat über Thomas Müntzer, den im Bauernkrieg hingerichteten anfänglichen Weggefährten und späteren Widersacher Martin Luthers.
Referent war der Historiker Dr. Thomas T. Müller, der Vorsitzende der Thomas-Müntzer-Gesellschaft und zugleich Direktor der städtischen Museen von Mühlhausen (Thüringen), der bereits zahlreiche Publikationen zu Reformation und Bauernkrieg herausgegeben hat.
Mit dem Vortragsthema sollte zugleich ein kritischer Blick auf Martin Luther und die offiziellen Veranstaltungen im Jubiläumsjahr der Reformation 2017 - u.a. mit dem Evangelischen Kirchentag in Berlin und Wittenberg - geworfen werden. Ferner befassten sich die Teilnehmer intensiv mit der nächsten Tagung, die die Initiative am 21.-23. Juli 2017 in der (anderen) Lutherstadt Eisenach am Fuße der Wartburg durchführen möchte. Unter dem Motto »Die Reformation geht weiter: Wir feiern das Reich Gottes!« will sie einen anderen, auf die Jesusbotschaft vom Reich Gottes gerichteten Kontrapunkt setzen und sich damit zugleich von der (offiziell dominierenden) paulinischen Sühnopfertheologie absetzen. Weitere Informationen zum Programm sind auf der Homepage der Initiative nachzulesen.
Angeregt durch den »Warte«-Bericht über den Fußballsport in der früheren Kolonie Wilhelma trägt unser Mitglied Erika Krügler noch Beschreibungen von sportlichen Aktivitäten der jungen Templer in Haifa bei, die sie von ihrem verstorbenen Ehemann Otto vorliegen hat. Sie schreibt:
»Mein Mann war ein begeisterter Sportler, er hat auch im Neckarwerk in Esslingen noch einige Zeit im Fußballtor gestanden. Seine Erzählungen aus alten Zeiten waren immer so begeisternd, dass ich manchmal glaubte, selbst dabei gewesen zu sein. Hier ein kleiner Auszug aus Ottos Erinnerungen:
Der deutsche Sportverein Haifa pflegte neben Fußball auch Wasserball. Bei diesen beiden Sportarten war ich immer mit Begeisterung dabei. Beim Fußball war ich ein leidenschaftlicher Torwart. Wir waren ein gutes und erfolgreiches Team. Wir spielten nicht nur gegen andere Kolonien, besonders gegen Sarona und Wilhelma, sondern auch gegen englische, arabische, jüdische und italienische Mannschaften. Es gab auch Pokalspiele.
Wasserball trainierten wir rechts oder links des Kaiserdamms im offenen Meer, was bei stürmischem Wetter nicht ganz einfach war. Wenn die Zeit der Wettkämpfe kam, veranstaltete der Verein auch Spiele gegen englische, jüdische und arabische Vereine. Ich kann mich noch gut an Spiele erinnern, die wir gegen eine der besten Mannschaften der englischen Mittelmeerflotte, die damals in Haifa stationiert war, ausgetragen haben. Darüber wurde auch lobend im Jahresbericht geschrieben. Wir kannten schon die kleinen und größeren Tricks, von denen wir glaubten, uns Vorteile verschaffen zu können. Man zog sich gegenseitig unters Wasser - wohlgemerkt: es war Salzwasser - und es gab mehr oder weniger sanfte Rippenstöße auszuhalten, die der Schiedsrichter nicht so leicht sehen und dann bestrafen konnte wie hierzulande in den übersichtlichen Schwimmbädern. Aber nach dem Spiel war alles wieder vergessen, so wie auch die Fouls beim Fußball, und die beiden Mannschaften saßen im Vereinsheim friedlich zusammen, meistens bis spät in den Abend, und beim Auseinandergehen freute man sich schon wieder auf die nächste Begegnung.
Die »Warte des Tempels« berichtete von einem großen Wassersportfest, das im August 1927 in Haifa stattfand und an dem sieben Sportvereine (zwei englische, ein deutscher, zwei jüdische und zwei arabische) teilnahmen, und an dem die deutschen Spieler zwei Ehrenpreise errangen: den Ersten Preis für ein 400 Meter-Schwimmen und die Siegtrophäe im Wasserball. Das Wasserballspiel konnte nur nach großen Anstrengungen gegen eine arabische Mannschaft gewonnen werden. Die Mannschaft des deutschen Sportvereins Haifa wurde im Wasserball bei öffentlichen Wettspielen noch nie von einer anderen Mannschaft geschlagen und galt deshalb mit Recht als die beste des Landes.
Ottos Bruder Fried (Friedrich) Krügler war ein sehr guter Wettkampfschwimmer, der andere Bruder Budi (Christian) sowohl ein guter Schwimmer als auch ein ausgezeichneter Tennisspieler. Drei also sehr sportliche Brüder.«
Im März-Heft der »Warte« hatten wir berichtet, dass eine israelische Studentin, Dorit Yona, in einer Prüfungsarbeit für das Bachelor-Examen sich mit der Geschichte der Seifenfabrik Struve und Scheerer in der ehemaligen Tempelgemeinde Haifa befasst hat und dabei von unserem Mitglied Dr. Herbert Struve sowie vom Templer-Archiv mit geschichtlichen Informationen unterstützt worden ist. Inzwischen ist die Arbeit von der Hochschule angenommen und mit einer Auszeichnung versehen worden.
Wir hatten die Entwicklung dieses Unternehmens aus der Anfangszeit der Templer in Palästina in dem »Warte«-Bericht durch Text und Bilder aufgezeigt und freuen uns, dass durch die Prüfungsarbeit von Frau Yona die damalige Pionier-Arbeit der deutschen Siedler nun auch einem erweiterten Publikum in Israel bekannt wird. Die Studentin hat uns freundlicherweise den Text ihrer Arbeit zukommen lassen, und wir überlegen, auf welche Art und Weise wir eine Übersetzung aus dem Hebräischen ins Deutsche bewirken können.
Immer mal wieder erhalten wir von verschiedener Seite Personen-Bilder aus älterer Zeit mit der Anfrage, ob wir die Abgebildeten auch mit Namen identifizieren könnten. So sandte uns der israelische Restaurator Shay Farkash diese hier wiedergegebene Aufnahme einer Gruppe junger Mädchen aus der deutschen Schule in Haifa zu. Er verband damit die interessante Information, dass in der Klasse der Mädchen die Tochter Ruth des in Haifa lebenden jüdischen Ehepaares Rothschild Mitschülerin gewesen war (markiert mit Kreuz). Er fragt an, ob wir auch die Namen der anderen Schülerinnen wüssten.
Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, denn es muss zunächst festgestellt werden, in welcher Zeit das Bild entstanden ist und wie alt die Schülerinnen damals waren. Nach verschiedenen Berechnungen muss es sich bei dem Kreis der Mädchen um die Geburtsjahre 1906-1907 handeln (damals wurde nur in jedem zweiten Jahr eingeschult). Verhältnismäßig schnell wurden daraufhin zwei der Mädchen identifiziert: Mariechen Krügler (sitzend, zweite von links, Jahrgang 1906) und Christine Appinger (später: Stoll, sitzend erste von rechts, Jahrgang 1907). Wer von unseren Lesern kann uns da weiterhelfen? Doris Frank von der TSA-Heritage-Gruppe meint, dass die Schülerin stehend, zweite von links Käthe Beilharz (später: Keller, Jahrgang 1907) sein könnte.
Von Shay Farkash erfahren wir noch, dass der Vater von Ruth Rothschild der Architekt und Kunstmaler Julius Rothschild gewesen sei, der 1906 aus Deutschland nach Palästina kam und Kunstunterricht an der Reali-Schule in Haifa, der Vorstufe zum Technion, in Haifa gegeben habe. Ruth sei 2010 im Alter von 103 Jahren in Israel gestorben.
Über einen längeren Zeitraum hinweg hat der Baha’i-Theologe Fuad Izadinia in Pretoria, Südafrika, geschichtliche Einzelheiten der Tempelbewegung im 19. Jahrhundert gesammelt, zum Teil hat unser Archiv ihn dabei unterstützt. Was ihn besonders bewegte, ist jetzt in seiner »Studie der Tempelbewegung in Bezug auf den Baha’i-Glauben - das Major Opus (das bedeutsame Werk)« nachzulesen (verfasst im August 2014, nur in Englisch).
Für ihn ist es nicht ein »Zufall«, dass die Ankunft der Tempelgründer Hoffmann und Hardegg in Haifa Ende Oktober 1868 und die Deportation des Baha’i-Führers Baha’ullah nach Haifa wenige Monate davor erfolgte. Die zeitliche Nähe hatte ihre besondere Bedeutung. Haifa ist in seinem Verständnis ein »göttlicher Schlüsselpunkt«. Hätten die Templer auch vor Baha’ullah nach Haifa kommen können, fragt er, und antwortet darauf: Nein, es hat so sein müssen »aus göttlichem Ratschluss«, zur Erfüllung einer Prophezeiung, einer Verkündigung.
Dementsprechend sieht er die Kolonie der Templer in Haifa, wie sie nach einiger Zeit ausgesehen hat, in einem besonderen Licht: »Der Besucher von Haifa nimmt unwillkürlich die große Schönheit der Deutschen Kolonie wahr: die zahlreichen Häuser in schwäbischer Bauweise, die sich dem Klima Palästinas anpassen und sich von der Mittelmeerbucht bis zu den Ausläufern des Karmelgebirges erstrecken. Das aufmerksame Auge des Betrachters erfasst eine Ordnung und Schönheit, die von der dahinter liegenden Kultur hervorgebracht worden ist. Es ist dies ein auserwählter Ort von ganz besonderem Reiz mit dem unübertrefflichen Entwurf einer Stadtplanung, die eine Wohnsiedlung inmitten landwirtschaftlicher Flächen und einer Industriezone an der Meeresküste vorgesehen hat.«
Für Izadinia hatte das damalige Zusammentreffen von Georg David Hardegg mit Baha’ullah eine von den Beteiligten nicht bewusst wahrgenommene Mission enthalten, einen »göttlichen Ruf«, der sich bis zur Anlage der »Königstraße« Carmel Avenue auswirkte, dem Weg zum Ort, an dem der Tempel Gottes erbaut werden würde, jedoch nicht durch sie. Sie hätten lediglich die Fundamente in der Entwicklung des Heiligen Landes geschaffen. War also die Fortsetzung der Koloniestraße von Haifa in der Treppenanlage der Baha’i-Gärten ein solcher »Ratschluss«?
Es ist eine interessante und bedenkenswerte Verbindung, die der verfasser der Studie hier vorträgt. Manches, was - für uns überraschend - jetzt in der Restaurierung alter Templerhäuser von Israel unternommen wird, könnte in den Zusammenhang eines uns unbekannten und unerklärlichen Rufes passen.
Ich gebe zu, dass ich bisher nur wenige der 108 Seiten der Studie durchgearbeitet habe. Wer mehr daraus lesen möchte, kann den Band vom TGD-Archiv ausleihen und dabei vieles aus dem Baha’i-Glauben besser verstehen lernen.
Unser fleißiger Internetseiten-Pfleger Jörg Struve hat einen weiteren geschichtlichen Beitrag in unsere Internetseiten eingebaut. Gerade passend zum Gedenken an die vor 75 Jahren erfolgte zwangsweise Aussiedlung der Templer aus Palästina nach Australien ist jetzt eine Beschreibung dieser Deportation unter der Rubrik »Geschichte« nachzulesen. Verfasst wurde der Bericht über die im August 1941 erfolgte Umsiedlung von 665 Palästina-Deutschen auf dem Truppentransporter »Queen Elizabeth« von dem inzwischen verstorbenen TSA-Mitglied Helmut Ruff, der die Reise mit seinen Eltern und Geschwistern als damals 13-Jähriger mitgemacht hatte. Es ist eine packend geschriebene Geschichte, die vor vielen Jahren schon einmal in der »Warte« veröffentlicht worden ist.
Wie wir aus der Gemeinde-Zeitschrift »Templer Talk« für August entnehmen, sind zum Gedenken an die Deportation, den großen Einschnitt ins Leben der Templer im Jahr 1941, zwei Gottesdienste in Bentleigh und in Sydney gewidmet. Ich finde es beachtenswert, dass in der Gemeinde Bentleigh die Gemeinde-Älteste Renate Weber und in Sydney die Älteste Renate Beilharz amtieren werden. Dass zwei nicht nur durch den gleichen Vornamen verbundene Frauen solche religiöse Veranstaltungen leiten, zeigt deutlich die Entwicklung, die seit dem Ende der »alten Zeit« in den neuen Gemeinden der Templer stattgefunden hat.
Renate Weber schreibt im »Templer Talk«, dass für ihren Gottesdienst aus dem Losungskalender eigentlich Verse aus den »Klageliedern« des Alten Testaments über Fall und Zerstörung Jerusalems vorgesehen seien, die einen gewissen Bezug auch zur Vertreibung der Templer aus ihren Siedlungen hätten, dass sie aber diese düsteren Worte nicht zum Thema ihrer Ansprache nehmen wolle. Sie lehnt es auch ab, die Vertreibung als eine »Strafe für vergangene Sünden« aufzufassen, sondern die harte Verschickung »ans Ende der Welt« als die Chance für einen Neubeginn der Gemeindearbeit zu begreifen, die inzwischen schon fast das Alter der früheren Siedlungstätigkeit erreicht habe. »How lucky we are to live in Australia!« schreibt sie im »Templer Talk«. Man hätte diese Chance für eine Neuorientierung nicht besser beschreiben können als in diesen Worten.
Sie will nicht die Schwierigkeiten und Härten der Anfangszeit in Australien ignorieren, der Jahre, in denen die Neubürger in Boronia, Bayswater und Bentleigh noch nicht zu Wohlstand gekommen waren und oftmals auf Möbelwagen mit längsseits gestellten Sitzbänken zum Gottesdienst oder zu Freiluftveranstaltungen fahren mussten. Für junge Heranwachsende war es damals eine Herausforderung gewesen, eine Ausbildung für einen höheren Beruf in Angriff zu nehmen. Das Leben auf dem neuen Kontinent hatte eine Reihe gemeinnütziger Einrichtungen hervorgebracht, von denen bis heute das Alten- und Pflegeheim TABULAM besonders hervorsticht. All das bisher in der Gemeinschaft Geleistete soll den Mitgliedern, ihren Nachkommen und Freunden in den vorgesehenen Gedenkfeiern nun nochmals vor Augen geführt werden.
Professor Uri Yinon von der Universität Tel Aviv hat unsere Archiv-Besatzung schon über Jahre hinweg durch zahlreiche Anfragen »in Atem gehalten«. Auch wenn wir hier im Templer-Archiv manchmal die Ansicht vertreten, der Anfragende könnte sich seine Informationen auch anderswoher holen, sind wir doch auch stolz, wenn durch unsere Hilfe ein Aufsatz oder Buch zustande kommt. Die Anfragen bewirken ja auch, dass unser Archiv seine »Schätze« so unterbringt und verwaltet, dass sie auch anderen nutzbar gemacht werden können. Jedenfalls gibt uns ein Lob des »Hilfe-Suchenden« dann wieder neuen Schwung und neues Selbstwertgefühl. Professor Yinon drückte seine Anerkennung vor Kurzem so aus: in keinem Archiv der Welt (und er habe für sein Buchprojekt viele besucht und angeschrieben), in London, Washington, München, Paris, Tel Aviv würde man jemand finden, der sich so schnell bemüht, die Quelle für ein angefragtes Thema zu finden und nachzuweisen, wie bei uns. Wenn man so etwas hört und liest, vergisst man natürlich sofort jede Frustration und Verzweiflung, die mitunter bei uns eintritt. Die Anfragenden könnten solches Lob viel öfter aussprechen, meinen wir!
Peter Lange, Archivbetreuer