Geschichte
Eine Reise ans Ende der Welt

Erinnerungen an ein schicksalhaftes Jahr

von Helmut Ruff, Bayswater, Australien

 

Vorbemerkung: Fünfundsiebzig Jahre ist es (2016) jetzt her, dass eine große Zahl der in Palästina lebenden Deutschen im Juli 1941 von den damals im Land herrschenden britischen Mandatsbehörden nach Australien zwangsausgesiedelt und in das Internierungslager Tatura bei Rushworth gebracht wurde. Insgesamt umfasste die Seereise in dem umgebauten Truppentransporter "Queen Elizabeth" 665 Personen, 536 von ihnen waren Templer bzw. Kirchenangehörige aus den von Hoffmann und Hardegg initiierten Kolonien. Es war ein Abtransport mit unbekanntem Ziel. Der Verfasser des Berichts war zu jener Zeit erst 13 Jahre alt. Aus Anlass des 50. Jahrestages der Ankunft der Internierten in Australien hat er 1991 seine Erinnerungen an diese das Leben so vieler Menschen erschütternde Ausweisung der Palästina-Deutschen in dem folgenden Aufsatz veröffentlicht.

Unfreiwilliger Abschied von Zuhause

Juli 1941. Der Krieg wütete nun schon zwei Jahre lang. In Palästina, das von Großbritannien seit 1919 unter dem Mandat des Völkerbundes verwaltet wurde, hatte man die deutschen Templer seit den Tagen der Kriegserklärung Englands und Frankreichs in ihren Siedlungen eingesperrt. Die landwirtschaftlichen Niederlassungen Betlehem, Waldheim, Sarona und Wil­helma waren von den Behörden zu Internierungslagern umgewandelt worden. Die Deutschen aus den Städten Haifa, Jaffa, Jerusalem und Nazareth mussten in diese Lager umziehen. Eine Anzahl Männer - offensichtlich solche, die man als ein größeres Sicherheitsrisiko eingestuft hatte - waren innerhalb weniger Stunden nach Ausbruch des Krieges von ihren Familien getrennt und unter primitiven Verhältnissen zuerst in einem Lager bei Akko, später in der Nähe von Jaffa gefangen gehalten worden. Unsere Familie Ruff wurde im Dezember 1939 von Haifa nach Betlehem gebracht.

Im Juli 1941 wurden wir davon unterrichtet, dass eine große Gruppe von uns in ein anderes Land gebracht werden sollte. Jedem Erwachsenen wurde die Mitnahme von 40 kg an Gepäck zugestanden, Kindern weniger. Ein Ziel wurde nicht angegeben, doch es hieß, es würde ein warmes Land sein, sodass wir keine warme Winterkleidung benötigten.

Donnerstag, 31. Juli 1941: Wir müssen Großvater und den Tanten und all den anderen Freunden und Verwandten, die zurück bleiben, "Auf Wiedersehen!" sagen. Wir versammeln uns im Schulhof, und unser Handgepäck sowie der Inhalt unserer Taschen werden inspiziert. Dann weisen uns die jüdischen Wachen in die Busse ein. Mein Bruder Ernst und ich werden von unserer Mutter und Schwester getrennt, die sich immer noch bei der Durchsuchung im Schulgebäude befinden. Als unser Bus am Hauptbahnhof in Haifa ankommt, warten wir vergebens auf die anderen aus Betlehem und Waldheim. Nun bin ich wirklich beunruhigt! Dann erscheint endlich ein Polizist auf einem Motorrad und wir fahren den Weg zurück, den wir gekommen waren. Am Eisenbahn-Anschluss von Nesher östlich von Haifa treffen wir auf die anderen und besteigen einen Zug. Der Zug fährt ab, wir fahren erneut durch Haifa, werfen einen letzten Blick auf unsere Koloniestraße, kurz danach auf unseren Friedhof und den "Muschelesberg". Dann umfahren wir das Karmeleck, und es geht entlang der Küste nach Süden. Neuhardthof taucht auf, die kleine Templer-Niederlassung, wo wir viele heiße Sommer­tage am herrlichen Wellenstrand genossen haben.

Lydda! Internierte aus Sarona und Wilhelma sowie die Männer aus Jaffa stoßen zu uns. Unsere Mutter und wir Kinder sind aufgeregt, weil wir Vater wiedersehen werden! Doch nein, die Wachen in unserem Waggon lassen niemanden herein! In anderen Wagen dürfen die Männer zu ihren Familien, aber nicht in unserem. Meine Schwester Eva nimmt all ihren Mut zusammen und bittet den britischen Polizeiwachtmeister in ihrem besten Schul-Englisch, unseren Vater doch durchzulassen. Sie bekommt eine kurze Antwort: "Ich habe meine Mutter auch eine lange Zeit nicht gesehen." Ich habe einen großen Hass auf unsere Wachen! Eine Gruppe italienischer Internierter ist ebenfalls auf unserem Zug.

Während der Nacht durchqueren wir die Sinai-Wüste. Die harten Sitzbänke sind unbequem. Wir sind müde, es ist staubig und heiß. Die Luft ist stickig, wir müssen die Fenster schließen. Oft werden wir von den Wachthabenden gestört, die durchgehen, um uns zu zählen. Schließlich lässt sich einer erweichen und wir dürfen die Fenster ein wenig öffnen. Frische Luft kommt herein, aber auch Rauch und Ruß von der Lokomotive. Wir befinden uns im ersten Wagen, gleich hinter dem Tender.

Frühmorgens halten wir in Kantara am Ostufer des Suezkanals. Da ist Ägypten! Man gibt uns belegte Brote und Tee in einem großen Schuppen oder Zelt, dann überqueren wir den berühmten Kanal auf einer Fähre. Wir sind auf afrikanischem Boden, in einem anderen Konti­nent! Unser Handgepäck mussten wir zurücklassen, als wir den Zug verließen. Nun finden wir es, zusammen mit dem großen Gepäck, in mehreren großen Haufen an der Seite eines anderen Eisenbahnzuges. Das schlimmste Chaos bricht aus, als jeder seine Habseligkeiten zusammensuchen will, während die Männer das große Gepäck in die Gepäckwagen verladen und die Wachen uns zur Eile antreiben. Letztendlich packen die Leute gerade das ihnen am nächsten liegende Gepäckstück, in der Hoffnung, es im Zug wieder aussortieren zu können. Doch das bleiben Wunschträume! Unsere jüdischen Wachen verbieten den Verkehr von Wagen zu Wagen, sogar dann, als sich herausstellt, dass in der Hast des Einsteigens einige Waggons überfüllt sind, während es in anderen freie Plätze gibt. Reine Schikane und Belästigung? Oder haben sie Angst, dass wir fliehen könnten? Britische Wachleute kommen immer noch laufend durch, um uns zu zählen, während jüdische Polizisten an beiden Enden der Wagen mit Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten stehen. Während des Gepäckdurcheinanders haben wir die Tasche mit unseren Lebensmitteln verloren, so gibt es den ganzen Tag nichts zu essen. Irgendjemand wird die Tasche an sich genommen haben, kann sie uns aber nicht übergeben. Als wir sie am nächsten Tag in Empfang nehmen, ist das Essen durch die Hitze verdorben - wir haben etwa 35 Grad jeden Tag - und muss wegge­worfen werden.

Eine gute Seite hat dies alles: unser Vater ist wieder bei uns, Mutter und Kinder fühlen sich jetzt viel sicherer! Der Zug bringt uns am westlichen Kanalufer entlang nach Süden. Wir können die Aufbauten von Schiffen und Booten sehen, gelegentlich die markanten großen Lateinsegel einer Nil-Feluke.

Bei lsmailiya fragen sich die Älteren, ob der Zug wohl Richtung Kairo abbiegen werde, dorthin also, wo die Templer während des Ersten Weltkriegs interniert waren. Nein, der Zug bleibt auf Südkurs. Die Bitterseen tauchen auf. Hier müssen die Kanalschiffe warten, um den Gegenverkehr passieren zu lassen. Rechts erstreckt sich die Wüste, die in der Hitze flimmert.

Wir kommen an riesigen Lagern von Kriegsmaterial vorbei, Hunderten von Fahrzeugen und Flugzeugen. Dann begegnen wir nordwärts fahrenden Militärzügen. Die wegen der Hitze am Oberkörper völlig entblößten Soldaten rufen und winken: es sind Australier auf dem Weg zur Front (später erfahren wir, dass sie auf dem Schiff angekommen sind, das uns aufnehmen soll).

Dann taucht ein großes Lager auf, seine Zelte sind halb in den Sand eingegraben und von Stacheldraht umgeben, bewaffnete Posten halten auf Wachtürmen Ausschau: deutsche Kriegsgefangene. Unsere eigenen Wachen verbieten uns hinüberzurufen.

Die Dunkelheit bricht herein, und mit ihr erreichen wir Suez. Unser Zug rangiert vor und zurück, fährt dann in die Richtung zurück, aus der wir gekommen sind, und hält an. Wieder eine Nacht auf der Eisenbahn! Ein australischer Offizier spricht mit unserem Vater, und dieser teilt ihm mit, dass wir den ganzen Tag noch nichts zu essen und zu trinken gehabt hätten. Der Offizier kehrt mit einer Feldküche und anderen Fahrzeugen zurück und spricht mit unserer Wachmannschaft. Wir dürfen heraus. Da wir keine Teller und Schüsseln bei der Hand haben, halten wir unsere Hände auf: Kartoffelbrei in die eine, ein Stück Fleisch in die andere. Es schmeckt herrlich!

Ich werde die Nacht nie vergessen: wir versuchen, auf dem harten, schmutzigen Fußboden zu schlafen; die Kleinkinder schreien, die Männer fluchen auf die Wachen, die Aufseher blinken uns mit ihren Taschenlampen ins Gesicht und wollen uns immer wieder und wieder zählen. Vater verlangt, dass man ihn zum verantwortlichen Polizeihauptmann bringe, damit er sich beschweren könne, der Wachmann droht ihm mit seinem Bajonett. Eine Frau ruft nach Hilfe, ihr Mann ist krank. Ein Wachtmeister kommt mit dem italienischen Arzt vorbei, der dem Mann eine Spritze gibt.

In Richtung Suez steigen die Strahlen der Suchscheinwerfer in den Himmel. Gelegentlich ist ein schwaches Rumpeln zu hören. Mag es ein Luftangriff sein?

Endlich geht die Nacht zu Ende. Unser Zug setzt sich wieder in Bewegung, erreicht Suez und hält im Hafengebiet. Wieder alles aussteigen!

Mit unserem Handgepäck kämpfen wir uns einer langen Hafenmole entgegen. Die Sonne steht hoch am Himmel und brennt unbarmherzig auf uns nieder. Ältere Leute und Frauen mit kleinen Kindern bleiben erschöpft am Straßenrand sitzen. Männer tragen zusätzliche Lasten. Die mit unserem schweren Gepäck und den Wachleuten beladenen Lastwagen fahren an uns vorbei, ohne anzuhalten. Endlich erreichen wir das Ende der Mole und werden in große Fährboote geschleust.

Ein arabischer Seemann erklärt Vater, dass wir zu einem Schiff gebracht würden, das wegen möglicher Luftangriffe auf Suez weit draußen im Golf ankere. Wir können das Ergebnis eines solchen Angriffs sehen: ein ausgebrannter Dampfer, das Heck tief im Wasser. Nach etwa einer halben Stunde erreichen wir ein riesiges graues Schiff. Es ist die "Queen Elizabeth", mit 85.000 BRT das größte Passagierschiff der Welt.

Ehe wir an Bord gehen, muss unser schweres Gepäck umgeladen werden. eine harte Arbeit unter heißer Sonne für unsere Männer, die den ganzen Tag nichts zu essen und zu trinken gehabt haben. Ich beobachte, wie einige der Haltetrossen für das Gepäck durch das Wasser schleifen, als sie von unserer Fähre hinüberschwingen. Versehentlich oder mit Absicht? Wird der Inhalt der Kisten und Koffer Schaden genommen haben?

Aus einer Reihe von Bullaugen schauen Männer zu uns herunter, rufen deutsche Worte: es sind Kriegsgefangene, die mit uns die Reise mitmachen sollen.

An Bord werden die Männer wieder getrennt von ihren Familien untergebracht. Wir vier bekommen eine Innenkabine, ohne Bullauge, das Licht oder Luft hereinlassen würde. Alle Glühbirnen sind entfernt worden, alles was wir haben ist ein düsterer Schein aus dem Gang. Aber es gibt vier bequeme Betten und - welch ein Luxus nach den vergangenen drei Tagen! - einen Waschraum. Es macht uns nichts aus, dass anscheinend nur Meerwasser aus den Leitungen kommt.

Spät am Nachmittag lichtet unser Schiff Anker und fährt nach Süden ins Rote Meer ein. Es ist Samstag, 2. August. Wir haben das erste Teilstück unserer Reise ins Unbekannte über­standen. Was wird die nächste Zeit für uns bereithalten?

Um die halbe Welt in einen Stacheldrahtverhau

Wir sind an Bord der "Queen Elizabeth", irgendwo im Indischen Ozean, auf südöstlichem Kurs. Ich bin in der Kabine des Onkels und stecke meinen Kopf durchs Bullauge, atme die frische Seeluft ein und beobachte die Wellen und die fliegenden Fische. Zwei Bullaugen weiter verbringt ein Junge meines Alters seine Zeit mit derselben Beschäftigung, und wir versuchen, uns bei höchster Lautstärke gegen die Geräusche von Wind und Wellen zu verständigen. Die Wasserfläche scheint weit unter uns zu liegen. Irgendwo nahe der Wasserlinie befinden sich die deutschen Kriegsgefangenen. Würden die Wellen bei Sturm ihre Bullaugen überspülen?

Nachdem wir am 2. August aus Suez ausgelaufen waren, rätselte jeder, wohin wir wohl gebracht werden würden. Nach Kenia? Südafrika? Diese Möglichkeiten wurden verworfen, nachdem das Schiff beim Verlassen des Roten Meeres nach Osten abgedreht ist. Sollte es Indien sein? Dann verfolgte die "Queen" einen südlichen Kurs und erhöhte ihre Geschwin­digkeit. Nach einem Aufenthalt in Trincomalee im Norden Ceylons drehte unser Schiff erneut nach Südosten, und wir befanden uns noch immer an Bord. Es musste also Australien sein. Die australischen Soldaten, die die deutschen Kriegsgefangenen bewachen, bestätigen es. Unsere eigenen Wachen haben uns nie über unser Bestimmungsland aufgeklärt. Vielleicht wissen sie es selbst nicht?

Die "Q.E." war ganz neu, als der Krieg ausbrach. Sofort wurde sie zu einem Truppen­transporter umfunktioniert. Zusätzliche Etagenbetten wurden in die Kabinen eingebaut. In Kabinen mit ursprünglich 4-6 Schlafkojen leben jetzt 8 oder 10 Personen. In den meisten Fällen hat man das Mobiliar drin gelassen, doch ist es durch die eingebauten Zusatzkojen unzugänglich. Es gibt kaum Platz, um sich zu bewegen. In einigen Kabinen müssen die Leute über eine Koje klettern, um in den Waschraum zu gelangen.

Mutter und wir drei Kinder sind in dieser Hinsicht besser dran, indem wir nur die ursprüng­lich vorgesehenen vier Schlafkojen in unserer Innenkabine haben. Dafür besitzen wir aber kein Bullauge und kein Tageslicht und keine Frischluft.

Die Hitze und Schwüle sind wirklich schlimm. Im Roten Meer und in den tropischen Gewässern waren sie fürchterlich. Die "Q.E." wurde anscheinend nur für die kältere Nord­atlantikroute gebaut. Wir machen häufigen Gebrauch von unserem Bad. Auch wenn es nur lauwarmes Meerwasser ist, bringt es einem Erfrischung, solange man darin liegt. In dem dunklen Raum geben die mikroskopisch kleinen phosphoreszierenden Meeresorganismen im Badewasser ein faszinierendes Schauspiel ab, wie Glühwürmchen, die im Wasser schwim­men. Diese Erscheinung konnte vor allem im Roten Meer beobachtet werden, wurde dann aber allmählich immer schwächer, je mehr wir tiefere und kältere Zonen erreichten.

Bei Nacht werden alle Luken durch das Schiffspersonal geschlossen. Das soll verhindern, dass wir Leuchtzeichen geben! Wem wohl? Deutschen U-Booten oder Angreifern aus der Luft? Als weitere Vorsichtsmaßnahme sind alle Glühbirnen aus den Kabinen entfernt und alle Spiegel konfisziert worden. Einige Frauen besitzen noch die kleinen Spiegel, die sie aus ihren Handtaschen herausgeschnitten haben! Unsere Kabine wird nur durch das schwache Licht des Ganges beleuchtet. Wir lassen deshalb die Türe immer offen stehen. Wenn Mutter eine Haarnadel auf den Boden fällt, müssen wir auf allen Vieren auf dem Fußboden umher krie­chen, um sie zu ertasten.

Nach ein paar Tagen schafft es Vater, mit Hilfe von Tommy, einem deutschen Seemann, der gut "organisieren" kann, eine Glühbirne zu ergattern. Unglücklicherweise wird sie aber ent­deckt und beschlagnahmt, als unsere Kabine eines Morgens durchsucht wird, als wir uns gerade "an Deck" aufhalten. Tommy findet eine neue für uns. Diese nehmen wir nun jedes Mal in Mutters Handtasche mit uns, wenn wir die Kabine verlassen.

Die Wachen unserer jüdischen Palästina-Polizei sind mit aufgepflanzten Bajonetten an strategischen Punkten entlang der Korridore, an den Treppen zwischen den Decks und am einzigen Wasserhahn unseres Deckteils stationiert. Wir brauchen eine Erlaubnis, wenn wir unsere Behälter füllen wollen!

Jeden Morgen und jeden Nachmittag werden wir zur freien Bewegung auf das Promena­dendeck geschickt. Dieses Deck ist von Fenstern umgeben, die normalerweise geschlossen sind, weshalb es beinahe so heiß und schwül ist wie auf unserem Deck. Nirgends gibt es Sitzgelegenheiten. Man kann nur auf und ab gehen oder sich auf den schmutzigen Boden setzen. Während dieser Bewegungszeit werden unsere Kabinen regelmäßig durchsucht. Nach was suchen sie wohl?

Eines Tages fühle ich mich unwohl - ist es die Seekrankheit? - und bleibe im Bett, als der Ruf "Alle an Deck!" durch die Gänge schallt. Plötzlich kommt einer unserer Wachen mit einer Krankenschwester in die Kabine, sie leuchten mir mit ihren Taschenlampen ins Gesicht und weisen mich an, auf das Promenadendeck zu gehen. Meine schwächlichen Proteste nützen nichts. Ich fühle mich sehr wackelig und verbringe die Zeit damit, in einer Ecke zu sitzen.

Der Speisesaal, in dem wir unser Essen einnehmen, befindet sich auf einem tieferen Deck. Es ist der einzige Ort, der klimatisiert wird. Wenn wir aus unseren feuchtwarmen Kabinen kommen, friert es uns dort immer zuerst. Die Verpflegung ist eintönig und nicht das, was wir gewohnt sind, z.B. Nieren zum Frühstück und beinahe jeden Tag altes gefrorenes Kanin­chenfleisch mit Kartoffeln zum Mittag- und Abendessen. Ich bevorzuge das Corned Beef. Kein frisches Gemüse oder Obst für uns! (Viele Jahre lang hat die Erwähnung des Wortes "Kanin­chen" in mir unangenehme Erinnerungen an den eigenartigen Geschmack des aufgetauten Kaninchenfleisches hervorgerufen, das uns serviert wurde!)

Die erste Mahlzeit endet in einem Durcheinander, nachdem man uns klargemacht hatte, dass wir Schüsseln, Teller, Bestecks und Essensreste in die Küche zurückzubringen und abzuwaschen hätten. Es wurde deshalb vorgeschlagen, die deutschen Kriegsgefangenen den Dienst im Speisesaal übernehmen zu lassen. Diese taten das auch mit großer Tüchtigkeit, und alles funktioniert jetzt reibungslos zur Essenszeit. Unsere P.O.W.s unterhalten uns überdies während des Essens mit Musik und Liedern, die auf Gitarre oder Violine begleitet werden. Wir hören viele der alten wohlbekannten Volksweisen und lernen neue dazu. Das "Edelweißlied" und seine Version des Afrika-Korps sowie "Jung an Jahren" mit dem eingänglich-nostalgischen Refrain "Grüß mir die Mutter" werden mich immer an unsere P.O.W.-Freunde erinnern. Die australischen Wachen unserer P.O.W.s stehen diesem allem sehr locker und freundlich gegenüber. Zwischen der Musik und den Liedern wandert ein ältlicher kleiner Aussie-Ober­gefreiter mit einem Gewehr, dessen Bajonett ihn weit überragt, zwischen unseren Tischen umher und ahmt pfeifenderweise australische Vogelrufe nach. Evas Laute kommt endlich auch zu ihrem Recht. Sie hat das kostbare Instrument in seinem großen beschwerlichen Kasten mit sich herumgeschleppt, seit wir von zuhause weg sind. Auf dem langen Marsch in sengender Sonne über die Hafenmole von Suez drohte Vater mehrmals, das verdammte Ding ins Wasser zu werfen, weil es so unhandlich war und Eva deshalb keine anderen Gepäckstücke mehr übernehmen konnte. Jetzt leiht sie das Instrument an einen der P.O.W.s aus, der wunderschön spielen kann.

Musik und Gesang ist so etwa die einzige Unterhaltung, die wir auf der "Q.E." haben. Jeden Abend kommen die jungen Leute in einem der Verbindungsgänge zusammen und singen. Die meisten von uns sitzen auf dem Boden. Einige der älteren Mädchen spielen abwechselnd Akkordeon. Wir singen alle Arten von Liedern und ich lerne viele, die mir unbekannt sind. Unsere jüdischen Polizeiwachen sind nicht erfreut von diesem Singen, doch die australischen Soldaten bleiben oft stehen, um uns zuzuhören. Die Australier sind insgesamt sehr freundlich. Oft verschenken sie die ihnen zugeteilten Äpfel an die Kinder. Zum ersten Mal erfahren wir, wie die tasmanischen "Johnnies" schmecken!

Nach einem Zwischenstopp in Fremantle scheinen die jüdischen Wachen das Kommando an die Australier abzugeben. Es wird darüber spekuliert, wo wir wohl an Land gehen werden. Das Wetter wird kalt und stürmisch. Jetzt schätzen wir unsere warme Kabine. Viele Leute kommen mit Erkältungen nach unten. Wir erfahren, dass es Winter ist in Australien. Wale werden gesichtet. Ich ärgere mich, dass ich dieses Schauspiel verpasst habe.

Am Morgen des 23. August, drei Wochen nachdem sie Suez verlassen hat, läuft die "Q.E." in den Hafen von Sydney ein. Wir bewundern die schöne Szenerie, die üppige Vegetation, die bis ans Wasser reicht, die vielen Buchten und - vor allem - die mächtige Hafenbrücke. Am gleichen Tag verlassen unsere P.O.W.-Freunde das Schiff. Wir schauen zu und winken von unseren Bullaugen aus, während sie nacheinander über den Landungssteg in die wartenden Fährboote einsteigen. Jahre später erneuern wir die Freundschaft, die wir im Speisesaal der "Q.E." geschlossen haben.

Wir sollen am nächsten Tag ausgeschifft werden. Unser Anteil von etwa 665 deutschen und etwa 170 italienischen Internierten wird für die nächste Strecke unserer Reise in zwei Gruppen aufgeteilt. Unsere Familie ist in der zweiten Gruppe. Vater teilt uns mit, dass drei Internierte so krank seien, dass sie nicht mit uns fahren könnten. Sie müssen in ein Krankenhaus gebracht werden. Ich fühle Mitleid mit ihnen! Es ist spät am Morgen, als wir von Bord gehen. Ein Fährboot bringt uns unter der berühmten Brücke hindurch zu einer Bahnstation. Wir haben wieder eine Eisenbahnfahrt vor uns, aber was für ein Unterschied zu dem schmutzigen, unbequemen ägyptischen Zug! Alle bekommen einen bequemen Sitzplatz in einem sauberen Waggon, und unsere Wachen sind freundlich und hilfreich.

Wir fahren durch Sydney, sehen viele kleine einstöckige Häuser mit eigenem Garten. Dann sind wir auf dem Land. Alles ist so anders als wir es gewohnt sind. Alles ist grün, aber anders grün. Die Landschaft wechselt ab. Wir kommen durch kleine Städte, sehen Farmhäuser und einheimisches Buschland. Unsere Reise geht weiter und weiter. Die Nacht bricht herein und wir werden müde. Ernst und ich klettern in die Gepäckablage über uns, um uns auszustrecken und den anderen mehr Platz zu lassen.

Ein australischer Feldwebel geht durch den Waggon und ruft einen "Mr. Rough" (Aussprache: mister raff) aus. Als er wiederkommt - offensichtlich immer noch auf der Suche - und jetzt ruft: "Mr. Are-You-Double-Eff", richtet sich Eva plötzlich auf: "Das muss unser Name sein!" Zum ersten Mal hören wir ihn auf Englisch! Der Feldwebel sitzt fast die ganze Nacht bei Vater und redet pausenlos über Australien, über den Krieg, das Lager, in das wir gebracht werden, seine Familie usw. Vater nickt einfach und sagt dann und wann "yes". Unser freundlicher Feldwebel ist sich nicht bewusst, dass wir das meiste, was er uns erzählt, nicht verstehen. Ich habe den Eindruck, dass Eva mehr als die anderen aufnimmt. Beim Zuhören schau ich ihm gespannt zu, wie er sein Gebiss beim Sprechen mit der Zunge hin und her bewegt.

Am nächsten Morgen befinden wir uns in flacher, offener Landschaft mit Feldern, die sich bis zum Horizont erstrecken. Viele der großen Eukalyptus-Bäume, die wir sehen, sind abgestorben. Die Männer diskutieren über die mögliche Ursache dafür. Ist es eine schreckliche Krankheit, die diese Bäume heimgesucht hat? Unser freundlicher Feldwebel vom vorigen Abend klärt uns darüber auf, dass die Bäume von den Farmern selbst zum Absterben gebracht werden, damit sie so mehr Weideland für ihre Schafe gewinnen. Unsere Männer schütteln ungläubig den Kopf.

In Tocumwal müssen wir umsteigen, um über den Murray-Fluss nach Victoria weiterfahren zu können. Warum umsteigen? Befinden wir uns nicht immer noch im selben Land? Wir wissen so wenig über Australien! Unser Zug hält in Shepparton. Wir dürfen zum Essen aussteigen. Soldaten bewachen den Bahnhof. Die Reise geht weiter bis Rushworth, wo wir aussteigen und in Busse eingewiesen werden. Überall stehen schwerbewaffnete Soldaten. Sie müssen uns wirklich für gefährlich und verzweifelt halten! Es ist spät am Nachmittag des 25. August, als die Busse durch einen großen Drahtverhau in das Lager fahren, das für die nächsten Jahre unser Zuhause werden soll. Stacheldraht, Wachtürme und Suchscheinwerfer umgeben uns. Wir sehen Zelte und Wellblechbaracken. Freunde aus der ersten Gruppe, die ein paar Stunden früher eingetroffen sind, begleiten uns zu einer Baracke mit Tischen und Bänken, in der wir eine heiße Suppe und Tee bekommen. Dann sitzen wir draußen auf unserem Gepäck oder auf Holzblöcken und warten. Wir sind müde und wir frieren.

Endlich - es ist schon dunkel - kommt Vater und bringt uns in unsere Unterkunft. Wir schleppen unser Gepäck an mehreren Baracken vorbei, bis wir bei der letzten anlangen. Hier sind uns zwei kleine Räume zugeteilt worden. Ihre einzige Einrichtung besteht aus Betten mit einem Holzrahmen, auf den Maschendraht aufgenagelt ist. Darauf liegen Strohsäcke und verschiedene graue Armeedecken. In den unisolierten Räumen ist es frostig kalt. Die Außen­wände bestehen aus Wellblech, die Innenwände aus dünnen Masonite-Platten, Camp 3 Baracken Tatura 1941als Decke dient das Well-Asbestzement-Dach. Unter der über­stehenden Dachkante verläuft entlang der Außen­wand eine etwa 30 cm breite Öffnung, die nur mit Drahtgitter versehen ist!

Wir kriechen in der wärmsten Kleidung in unsere Betten, mit zusätzlichen Socken an den Füßen, und versuchen, warm zu werden, als in allen Baracken die Lichter ausgehen. Nur die starken Lampen ent­lang des Lagerzauns und die Suchscheinwerfer in den Wachtürmen erhellen die Nacht. Was machen die bloß mit uns? Haben wir das alles verdient? Haben sie uns über fast ein Drittel des Erdballs befördert, nur damit wir an einem solchen Ort landen? Wir fühlen uns wie Sträflinge, die "nach des Königs Belieben ans Ende der Welt zu befördern sind"! Ob wir wohl die letzten Sträflinge sind, die nach Australien gebracht werden?

Jeden Morgen zum Appell

Langsam gewöhnen wir uns an das Lagerleben. Natürlich ist uns alles fremd hier. Die einzigen Bäume, die wir sehen, sind Eukalyptusbäume; das Gras scheint ein anderes Grün zu sein; einige der Vögel scheinen uns auszulachen; die Schafe, die wir manchmal sehen, tragen keinen Schwanz; und die Pferde, die vor die Militärwagen gespannt sind, wirken größer und kräftiger als diejenigen, die wir in Palästina hatten. Der Mond scheint verkehrtherum am Nachthimmel zu hängen und die Sonne steht um die Mittagszeit im Norden. Es wird sicher eine Weile dauern, bis wir uns an all das gewöhnt haben!

Der plötzliche Wechsel in der Jahreszeit macht das Lagerleben in keiner Weise attraktiver. Wir sind aus dem warmen nahöstlichen Sommer in einen kalten und nassen Winter verpflanzt worden, die meisten von uns leiden an Husten und Schnupfen. Unsere primitiven Zimmer, die Toiletten-Blocks und die Wasch-Baracken der Männer (nur mit kalten Duschen!) sind kalt und zugig. Die einzige Wärme, die man finden kann, ist in der Küche, in den großen Essräumen (die holzbeheizte Öfen besitzen) und in den Wasch-Baracken der Frauen (wo es Heißwasser zum Duschen und Wäschewaschen gibt). Die Bedingungen verbesserten sich ein wenig, als unser großes Gepäck zehn Tage nach uns eintraf und die Leute ihre wärmere Kleidung und das Bettzeug hatten. Das Gepäck wurde von Zoll- und Geheimdienst-Beauftragten inspiziert und Gegenstände wie Werkzeuge, große Scheren und Messer, Rasiergeräte und elektrische Taschenlampen sofort beschlagnahmt.

Unser Lager scheint völlig abseits vom Rest der Welt zu liegen. Es befindet sich auf einem nordwärts abfallenden Hang, umgeben von Anhöhen im Osten, Süden und Westen, sodass unser Blick nicht sehr weit reicht. Camp 3 Compound A-D Tatura 1941Den offenen Norden bildet Weideland, das mit vereinzelten Baumgruppen durchsetzt ist. Wir erfahren, dass wir uns etwa 12 km nördlich der kleinen Stadt Rushworth befinden, die ihren Namen aus der Goldsu­cherzeit herleitet. Im Südosten liegt das weite Waranga-Becken, in dem Wasser für Bewässerungszwecke gestaut wird. Im Osten dieses großen Sees befinden sich zwei wei­tere Interniertenlager sowie ein riesiges Kriegsgefangenen­lager, in dem sich unsere Freunde von der "Queen Elizabeth" befinden. Ein viertes Camp liegt nur etwa 2 km südlich von uns.

Unser Lager ist in Form eines Karos angelegt, beinahe quadratisch. Zwei innere Straßen, etwa 10 Meter breit und im rechten Winkel zueinander, verbinden jeweils zwei gegen­überliegende Ecken und teilen das Lager so in vier "Com­pounds" mit einer Fläche von jeweils etwa 16.600 qm. Die nördliche und südliche Ecke des riesigen Karos ist jeweils abgeschnitten oder abgeschrägt, sonst würden alle Compounds die Form eines rechtwinkligen Dreiecks besitzen.

Die Zufahrt zum Lager erfolgt durch einen großen "Torverhau" am nördlichen Ende. Die nord-südlich verlaufende Straße ist der Hauptdurchgangsweg. Von ihr aus öffnen sich Tore zu den vier Compounds A, B, C und D.

Jedes Compound ist von einem etwa 3 Meter hohen Stacheldrahtzaun umgeben. Außerdem ist um das ganze Lager herum ein breiter Drahtverhau gelegt. Zwischen diesem und dem hohen Zaun der Compounds liegt ein breiter Streifen Land, von dem aller Bewuchs weggeräumt wurde. Wachtürme, die mit Suchscheinwerfern und Maschinengewehren ausge­rüstet sind, stehen an der östlichen, südlichen und westlichen Ecke und verfügen über ein Gesichtsfeld, das das ganze Niemandsland und die inneren Straßen umfasst. Bei Nacht wird die gesamte Lagerumgebung von starken Lampen auf hohen Masten beleuchtet. Wachhäuser auf der Hauptstraße kontrollieren die Tore zu den einzelnen Compounds. Sie sind durch Telefonleitung mit den Wachtürmen und der Wache am Haupttor verbunden. (Nach einigen Monaten, als unsere Bewacher merkten, dass sie es mit normalen, friedlichen Leuten zu tun hatten, wurden diese Wachen abgezogen, sodass ein Verkehr zwischen den Compounds unbehindert erfolgen konnte.) Camp 3 Baracken Tatura 1941Außerhalb des Lagers nördlich des Haupttors befinden sich die Büro- und Diensträume der Wach­mannschaften, ferner einige Werkstätten sowie die Unterkünfte der Wärterinnen, die für das Wohlergehen der internierten Frauen und Kinder verantwortlich sind. Am Abhang im Nordwesten liegen die Truppenquartiere, Vorratslager und Stallungen.

Jedes Compound stellt eine selbständige Einheit dar mit einer großen Küche (einschließlich Vorrats- und Arbeitsräumen), zwei großen Speisesälen, einer kleinen Krankenstation, einer Baracke mit Amtsstube, Einkaufsladen und Kantine, Wasch- und Toiletten-Blocks für Männer und Frauen, 10 Wohnbaracken - mit jeweils 12 kleinen Zimmern - und 10 Zelten. Als wir am 25. August ankamen, waren Compound A, B und C unbelegt. In D befanden sich deut­sche, jüdische und italienische Familien aus Australien, Singapur und Malaya. Uns wurden Quartiere in alphabetischer Reihenfolge zugewiesen, indem mit Compound B begonnen wurde. Da sie gegen das Ende des Alphabets vorkam, wurde unsere Familie in die letzte Baracke von C einquartiert. (Hier sind wir mehr als 100 Meter von Küche, Speisesaal, Waschräumen und Toiletten entfernt, ein langer Weg, wenn es regnet oder wenn man in Eile ist!) Die Familien am Ende des Alphabets landeten in Compound A, zusammen mit den italienischen Familien, die mit uns gereist waren. Eine Anzahl jüngerer lediger Männer mussten in den Zelten hausen.

Jedes Compound ist für eine Unterbringung von 260 Personen ausgelegt, jedoch müssen jetzt 280 Menschen hineinpassen. Diese Zahl ändert sich nun, denn es werden nach einer Unruhe in Compound D, bei der zwei Deutsche verprügelt worden sind, mehrere Familien von dort in unseren Compound verlegt. Außerdem werden neue Interniertentransporte ange­kündigt. In unseren drei Compounds wird deshalb mit der Errichtung zusätzlicher Baracken begonnen. Ferner hat der Kommandant angekündigt, dass ledige Männer über 18 Jahren in ein Männerlager in Südaustralien verlegt werden. Unsere Lagerleiter protestieren dagegen, da dies den Verlust einer Reihe kräftiger Männer bedeuten würde, die in der Küche, als Lehrer oder in anderen Positionen beschäftigt sind. Nun scheint es, als ob nur solche verlegt werden, die keine nahen Verwandten hier haben und nicht mit Aufgaben in der internen Lagerorgani­sation oder als Lehrer betraut sind.

Die innere Lagerverwaltung ist ziemlich komplex. Schon am ersten Morgen hier hatte uns der Lagerkommandant, Major Sproat, nach dem Frühstück zusammen mit Offizieren seines Stabs besucht und folgende Anordnungen erteilt: Jedes Compound sollte einen Leiter und einen Stellvertreter, einen Quartiermeister, einen Küchenaufseher, einen Arbeitsaufseher und einen Aufseher für jede Wohnbaracke aus seinen Reihen bestimmen. Diese Männer sollten für die innere Verwaltung und die Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung bei den Internierten verantwortlich sein. Küche, Krankenstation, Speisesaal, Toiletten und Waschräume sollten jeden Morgen zur Inspektion um 9.30 Uhr sauber gescheuert sein. Ein namentliches Aufrufen aller Männer über 16 Jahren würde am Morgen und am Abend auf dem offenen Gelände - dem "Exerzierplatz" - in der Nähe des jeweiligen Tors zur Hauptdurchgangsstraße erfolgen. Frauen und Kinder würden außerhalb ihrer Zimmer während der Lagerinspektion aufgerufen. Küchenhelfer und Mitglieder von Arbeitsgruppen, die vom entsprechenden Offizier für Arbeiten außerhalb des Lagers angefordert würden, sollten einen Lohn von 1 Shilling am Tag erhalten.

Die an diesem Tag gewählten Lagerleiter waren Hermann Tietz in "A", Albrecht Aberle in "B" und Gottlieb Ruff in "C". In den folgenden Wochen sahen wir wenig von unserem Vater. Er war dauernd bei Zusammenkünften mit den anderen Lagerleitern oder mit dem Kommandanten und seinen Mitarbeitern. Es erfolgten häufige Besuche von hochrangigen Offizieren, ein­schließlich Generälen und eines Mitglieds des Bundesparlaments. Es kam der Schweizer Konsul, Herr Pietzcker, der im Namen der deutschen Reichsregierung nach uns schaute, sowie Dr. Morel, der Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes in Genf und Richter Sir Gavan Duffy, der "Offizielle Visitator", der von der australischen Regierung dazu ernannt war, sich um unser Wohlergehen zu kümmern und Streitigkeiten zu schlichten, die zwischen Internierten und den Camp-Autoritäten entstehen könnten. Alle diese Besucher mussten informiert werden, brauchten Aufstellungen über die Lagerinsassen, ihre Angehörige in Übersee, Listen von benötigtem Material usw. usw.

In Zusammenarbeit mit der Lagerbehörde wurde in diesen ersten Wochen allerhand zustande gebracht: die angelieferten Rationen werden abwechslungsreicher, um auch den Bedürfnissen der Kinder zu entsprechen; ein großer Gemüsegarten wird angelegt; ein Laden wird eröffnet, in dem die Internierten solche Bedarfsartikel kaufen oder bestellen können, Camp 3 Schulklasse Tatura 1941die nicht von der Armee zur Verfügung gestellt werden; eine Schule wird organisiert; die Errichtung einer Schulbaracke außerhalb des Lagergeländes ist zu­gesagt, ebenso die Bereitstellung von Sportplätzen; Bretter und Sperrholzplatten zur Isolierung unserer Zimmer sind bestellt worden; eine zahnärztliche Kli­nik soll eröffnet werden.

Unser Lager wies bei unserem Einzug nur die notwendigste Grundausstattung auf. Alles, was wir brauchten, musste aufgelistet, beantragt und häufig ausgehandelt werden, angefangen bei der Kleidung und dem Bettzeug bis hin zum Küchenzu­behör, von den Reinigungsutensilien bis zum Nachttopf für die Krankenstation, vom Kleinkin­derbedarf bis zum Schreibmaterial für die Schule usw. usw.

Jetzt ist es großartig, mit anzusehen, wie die Mitglieder unserer großen Lagergemeinschaft in Harmonie zusammenarbeiten und einander beistehen, wo es nottut. Hoffentlich bleibt es so!

 

Aus: "Templer Record", Heft Nr. 523, Oktober 1991; erstmalig in Deutsch veröffentlicht in der "Warte des Tempels" in den Ausgaben September, November und Dezember 1991, übersetzt aus dem Englischen von Peter Lange

 

Die Angaben von Helmut Ruff sind vielfach unter Zuhilfenahme der Einträge seines Vaters in dessen Tagebuch erfolgt. Von der etwa 6 Jahre währenden Lagerzeit in Tatura ist hier nur der Anfang erzählt. Über das Gesamtthema "Internierung in Tatura" wird erschöpfend wohl erst in einer zukünftig erscheinenden Chronik Ausführliches zu lesen sein. Nach 75 Jahren sollte eine solche hoffentlich bald zu lesen sein. Erfreulich ist, dass ein Museum in der Ortschaft Tatura seit etlichen Jahren Erinnerungsstücke der Lagerzeit der Deutschen sammelt und ausstellt.

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