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Dankbarkeit - Harald Ruff
Dankfeste der Templer in Russland und Amerika - Teilnehmer von damals
Das Fest der Freude - Peter Lange
In Laubhütten - Peter Lange
Hegel und »Das Leben Jesu« - Jörg Klingbeil
Der Herbst ist traditionell die Zeit des Erntedanks, Erntezeit. Das bleibt auch so, trotz der Leistungen von Technik und Globalisierung, die uns Getreide, Früchte und Gemüse das ganze Jahr über verfügbar machen. Aber - sind wir dadurch vielleicht im Begriff, die Kunst des Danksagens zu verlieren? Wenn das so wäre, würden wir auch Gefahr laufen, nicht mehr drüber nachzudenken, wofür wir dankbar sein sollten.
Im letzten Oktober wohnte ich dem Dankfest in Deutschland bei. Dabei ging es um das Thema: "wer denkt, der dankt". In diesem Saal ging es um das Wiederentdecken und Wahrnehmen all jener Dinge, für die wir - wenn wir darüber nachdenken - dankbar sein können, und darum, dies dann aktiv zu realisieren. Es ist wichtig, unsere Dankbarkeit auszudrücken, unsere Stimme zu benutzen und unseren Dank zu formulieren, sowohl zu unserem eigenen Nutzen, als auch für andere. Wir können anderen ihre Hilfe vergelten oder auch ihnen helfen, sich auf Dankbarkeit auszurichten. Wir müssen Dankbarkeit nach außen zeigen - aber wir müssen uns ebenso nach innen zu unserem Herzen wenden, um sie zu finden. Auch wenn es schwierig ist, sollten wir ernsthaft in uns gehen.
Wenn wir uns nach innen wenden, nehmen wir uns die Zeit zum Nachdenken um herauszufinden, wofür wir dankbar sein können. Dann sehen wir das Gute in manchem. Wenn es auch Ungutes gibt, können wir beim Gegenüberstellen merken, dass, wenn es Schlechtes gibt, es bedeutet, dass auch Gutes da ist. Mit etwas Optimismus können wir auch Gutes im weniger Guten finden.
Einige Beispiele:
Beklage dich nicht, wenn jemand hinter dir falsch singt - sei lieber dankbar dafür, dass dein Gehör so gut ist!
Schimpfe nicht, wenn du deinen Zug verpasst hast - sei lieber dankbar dafür, dass ein nächster kommen wird!
Jammere nicht, dass du abspülen musst - das bedeutet doch, dass du Geschirr und Essen besitzt!
Beklage dich nicht über die Arbeit, die im Garten zu tun ist - sei dankbar dafür, dass du einen Garten hast!
Sieh es nicht als lästige Pflicht an, wenn du dir für das wöchentliche Menu etwas einfallen lassen musst - sei lieber dankbar, dass du so eine große Auswahl hast!
Sei nicht deprimiert und niedergeschlagen, wenn du nach dem Urlaub wieder zur Arbeit musst - sei froh, dass du Urlaub hast … und Arbeit!
Und beklage nicht die Eintönigkeit des Alltags - sei froh, dass er nur eintönig ist und nicht schlimmeres!
Es ist eine persönliche Herausforderung darüber nachzudenken, wofür wir dankbar sein können und das Gute im "Bösen" zu finden. Wenn wir uns damit auseinandersetzen, haben wir mit der schwierigen Aufgabe begonnen zu lernen, wie wir mit unserem Glauben leben können, diesem und uns selbst gegenüber aufrichtig zu sein und auf diesem Planeten als mitfühlendes, bescheidenes und respektvolles menschliches Wesen zu leben.
Bei uns Menschen scheint das Leben eine lange Suche nach Erfüllung zu sein: wir müssen uns entscheiden, ob unser Leben mit allem Möglichen vollgestopft sein soll oder ob Erfüllung mehr eine Geisteshaltung ist. Können wir Zufriedenheit eher durch inneren Frieden und Einbindung in unsere Gemeinde und geistige Ausgeglichenheit erreichen als durch Materielles? Von Kohärenz, Stimmigkeit hören wir immer mehr und es ist sinnvoll, dass wir innere und äußere Kohärenz erreichen; das heißt, dass wir unser Inneres in ein Gleichgewicht bringen mit unserem äußeren Selbst und mit anderen um uns herum.
Ein Weg, der uns gleichermaßen leitet und uns selbst bestimmt, uns also somit Erfüllung gibt, verläuft über unsere Leidenschaften. Wenn wir mit und für eine Leidenschaft für irgendetwas leben, versenken wir uns darin. So erfahren wir Erfüllung und erreichen den positiven Zustand, den wir suchen, und zwar auf eine Art und Weise, die anderen dient. Das bedeutet Einsatz, Bemühen und manchmal auch Mut; wir müssen offen für neue Ideen sein und unabhängig von sozialen Normen und der Meinung der anderen.
Wenn wir das auf unseren Glauben als Christen anwenden, erkennen wir, dass wir "glaubhafter" uns und anderen gegenüber werden können, wenn wir über unseren Glauben nachdenken und darüber reden. Außerdem sollten wir uns darauf besinnen, nicht mit anderen mithalten zu wollen oder zu versuchen, so wie andere zu sein. Nur, weil wir nichts Negatives sehen oder weil sie uns das nicht zeigen, bedeutet das nicht, dass es dort nicht auch Negatives gibt! Allzu oft nehmen wir nicht wahr, dass viele Menschen ein falsches Leben hinter einer Fassade von Fröhlichkeit leben. Wir nehmen sie als Maßstab, obwohl dieses Maß falsch und nur eine oberflächliche Schicht ist - und wir erkennen nicht, dass sie Hilfe benötigen und wir ihnen helfen könnten. Wenn wir dankbar sind und nachdenken, ist das ein guter Weg, um uns die gewünschte positive Geisteshaltung zu erhalten!
Früher wurden wir automatisch dazu angehalten, zu danken und Gott sowohl im Gottesdienst als auch im täglichen Leben zu loben. Es war eine tief verwurzelte Art und Weise, ein programmiertes Ritual, um das Nachdenken und die Dankbarkeit anzuregen; manche würden sagen, ein wohl hohler oder gar falscher Prozess. Aber vielleicht haben wir diese Haltung dadurch verloren, dass wir immer seltener im Gottesdienst sind und uns weniger mit unserem Glauben befassen? Ist die geistige Erfüllung, die uns früher im Gottesdienst zuteilwurde, indem wir uns gemeinsam in die Schrift versenkten, oder auch durch das Arbeiten auf dem Feld in die Natur und damit in den jahreszeitlichen Kampf ums Überleben eintauchten, die eine Sache, die so viele nun auf andere Art und Weise suchen … durch Bücher, Programme, Rückzug, oder "apps" zum Beispiel?
Ein bekannter Sinnspruch zur Dankbarkeit ist: "Dankbare Menschen sind wie fruchtbare Felder; sie geben das, was sie erhalten haben, zehnfach zurück." Wenn wir unserer Selbst bewusst und achtsam sind, werden wir Erfüllung und Dankbarkeit finden.
Manche glauben fest daran, dass "Gutes nicht zufällig geschieht" und dass wir "unseres eigenen Glückes Schmied" sind - vielleicht vereinfacht in der buddhistischen Vorstellung des "Karma". Eines ist sicher: es liegt in unseren Händen, wie wir mit dem Guten und dem Schlechten in unserem Leben umgehen. Manchmal müssen wir, selbst wenn es wirklich schwer für uns (und ein Schlag für unser Ego) ist, das weniger Gute schlicht akzeptieren - sei es ein unfreundlicher Kommentar, jemand, der sich im Supermarkt vordrängelt, jemand, der uns im Straßenverkehr schneidet -, darüber lachen und es abtun. Wir sollten dankbar sein, nicht nachtragend; Vergeltung bringt allen Beteiligten nur noch mehr Schmerz - also sollten wir nicht aufrechnen, weil daraus nichts Gutes entsteht. Negativität und Rachsucht sind wie Gift. Aber allzuoft stellen sie den einfachen Weg dar - zunächst!
Wir sind gesegnet, aber nicht immer in der Weise, wie wir es erwarten oder gern hätten - oder akzeptieren können. Und wenn Geschehnisse negativ sind, können wir sie in Gutes umkehren, wir können das Negative nutzen. Immerhin brauchen wir das Negative, damit es den Kontrast zum Positiven sichtbar macht und wir so das Gute genießen können! Auch wenn es manchmal schwer zu akzeptieren ist, wissen wir, dass es schlicht unrealistisch ist, ein Leben ohne Probleme zu erwarten. Wir müssen mit dem zufrieden sein, was wir haben. Das erfordert einen neuen Zugang, ein Nachdenken über das, was wir haben, dankbar dafür zu sein, und nicht nach dem zu verlangen, was wir nicht haben - ein grundlegendes Prinzip, das direkt auf die Zehn Gebote zurückgeht. Oft kann es schon helfen, darüber nachzudenken, ob ich etwas haben will, damit es ein anderer nicht besitzt, oder sich die Frage zu stellen: warum sollte ich etwas mehr verdienen als andere?!
Ich fand ein altes arabisches Sprichwort, das da heißt: "Dankbarkeit gehört zu der Schuld, die wir alle tragen, aber nur sehr wenige von uns tilgen diese Schuld." Wir wollen uns selbst das Ziel setzen, das zu erreichen … jeden Tag.
Normalerweise wird uns rasch klar, dass wir viel Gutes in unserem Leben haben, dass wir viel bekommen und so auch für vieles dankbar sein können. Oft genug übersehen wir völlig die kleinen, fast unmerklichen positiven Dinge in unserem Leben oder wir nehmen sie als selbstverständlich. Stell dir ein Leben vor ohne ein Lächeln, ein freundliches Wort …
Wir können nicht zufrieden sein ohne Dankbarkeit, ohne Denken und ohne Dankbarkeit zu zeigen! Danke oft, denn das führt zu häufigem Nachdenken - und alle, du und alle um dich herum, werden dabei glücklicher sein!
Herr,
wir haben für so Vieles im Leben dankbar zu sein.
Hilf uns darüber nachzudenken, damit wir das erkennen,
und hilf uns zu danken und unsere Dankbarkeit zu zeigen,
sowohl dir als auch unseren Mitmenschen gegenüber.
Hilf uns das Große, aber besonders auch das Kleine zu erkennen.
Wir bitten um Mut und Geistesgegenwart, um anderen Gutes zu tun,
selbst wenn es schwierig ist und uns herausfordert, weil es das ist, wonach wir streben wollen.
Und wir bitten um die Führung unserer inneren Stimme, dass wir uns immer wieder die Zeit dazu nehmen, über alles, was uns umgibt, nachzudenken - sowohl über das Gute als auch über das Schlimme.
Danke für deine Führung durch unseren Alltag.
Amen.
Harald Ruff, TSA-Gemeinde-Ältester, in Templer Reflections, Juni 2016, Übersetzung Karin Klingbeil
Wir hatten für dieses Mal einen besonderen Grund für unser Fest. Gott hat unsere Kolonien am Kaukasus vor fast allen umliegenden Orten mit einer Ernte gesegnet, während die Letzteren fast durchschnittlich von einer allgemeinen Missernte zu leiden hatten. Die Brotpreise haben in Folge dessen eine seit Menschengedenken nie dagewesene Höhe erreicht, und in manchen Gegenden meldet sich schon jetzt eine Art Hungersnot an. Viele Einwohner verlassen mit Weib und Kind ihre Wohnorte und suchen andere Gegenden auf, wo sie sich durchzuschlagen hoffen.
Uns hat der Erntesegen über diese Schwierigkeiten hinweggeholfen und Gott hat uns gegeben, was wir brauchen, ja ein mancher hat noch etwas zum Verkauf übrig. Dies veranlasst uns zu einem Dankfest, zu welchem wir auch unsere Gesinnungsgenossen aus der Nähe und Ferne einluden. Zugleich sollte dieses Fest auch die geistige Annäherung und engere Verbindung unter uns fördern.
Das Fest wurde auf Sonntag, den 12. Oktober 1879 festgesetzt. Die Brüder aus der Krim hatten, wie es sich später herausstellte, die Einladung durch missliche Postverhältnisse zu spät erhalten und hatten somit nicht erscheinen können, dagegen fanden sich aus der Nähe, von Saiba, aus Pjatigorsk usw. die Festgäste in ziemlicher Anzahl ein. Sogar aus Tiflis war ein Besucher gekommen, der den weiten Weg über das Gebirge und seine schon mit Schnee bedeckten Abhänge nicht gescheut hatte. Am Tag vor dem Fest regnete es in Strömen, so dass das Reisen keine Lust war, aber am Festtage selbst hatte der Himmel ein ganz freundliches Aussehen.
Um beiden nahe beieinander liegenden Kolonien ihren Anteil am Fest zu geben, wurden die Festlichkeiten verteilt, und die Vormittagsversammlung fand in Orbelianowka statt, während wir uns nachmittags in Tempelhof zusammenfanden.
Die Feierlichkeit am Vormittag wurde eröffnet durch den Vortrag des Chors »Das ist ein köstlich Ding, wir danken dem Herrn«, vom Tempelhofer Gesangverein vierstimmig gesungen. Herr Johannes Lange hielt hierauf eine Ansprache an die Versammlung, worin er die Bedeutung des Festes auseinandersetzte und besonders hervorhob, dass bei den Festen des Volkes Israels niemand leer vor dem Herrn erscheinen durfte und dass auch wir Grund hätten, eine Gabe auf den Altar des Herrn niederzulegen, indem wir des Werkes in Palästina gedenken und, so viel in unseren Kräften ist, zur Förderung desselben beitragen. Einige andere Brüder sprachen sich in gleichem Sinne aus. Dankgebet, Gemeindegesang und Vortrag eines Psalms in vierstimmigem Chor beschlossen die Versammlung. Die Gäste aus der Ferne waren von der Gemeinde Orbelianowka zum Mittagstisch eingeladen.
Die Nachmittags-Versammlung, welche um 1 Uhr begann und um 8 Uhr endigte, war ausgefüllt mit gutgelungenen Vorträgen von vierstimmigen Psalmen und lieblichen Liedern, mit Vorträgen von selbstverfassten oder sonstwoher entnommenen erhebenden und belehrenden Gedichten. In den Zwischenpausen war Raum gegeben für gesellige Unterhaltung und für einen Imbiss. Die Hausmütter brachten da ihre Koch- und Back-Erzeugnisse zusammen und legten sie auf den Tisch der Gemeinde nieder; Wein wurde zusammengetragen, Teller, Gabeln, Löffel, Tassen, Gläser usw. zusammengestellt für den Gast, und der Gast war die Gemeinde, klein und groß, jung und alt. Jünglinge und Jungfrauen wetteiferten miteinander, um die Weihe des Festes durch schönen Gesang zu erhöhen, und bis auf die kleinsten fünf- bis sechsjährigen Knaben wollte ein jedes etwas leisten, wenigstens ein Lied deklamieren. Da die Gedichte und Lieder, die von den jüngeren Festgästen vorgetragen wurden, ihrem Verständnis und ihrem frohen Kinder- und Jugendmut angemessen waren, so gab es neben manchem Ernsten und Weihevollen auch manches Drollige und Spaßhafte, ohne der Bedeutung und dem Zweck eines frohen Dankfestes zu widersprechen.
Um auch Gelegenheit zu einem Dankopfer zu bieten, wurde eine Liste aufgelegt, welche etwas über 400 Rubel als Beitrag für die Mission und für arme notleidende Brüder eintrug. Montagvormittags und des Abends waren wir dann noch versammelt, wo teils Besprechungen über die Sendschreiben gepflogen wurden, teils Vorschläge und Beratungen über unsere Gemeinden und ihre Leitung vorgenommen wurden. Das Leben selbst muss nun den Beweis liefern, ob das Fest und die Beratungen für uns einen Segen gebracht haben oder nicht.
Ein Besucher des Festes
Wie üblich in der Tempelgesellschaft, wurde das Dankfest in hiesiger Gemeinde am 22. September 1907 gefeiert. Tags zuvor machten sich fleißige Hände an die Arbeit, den Gemeindesaal zu dekorieren, was auch geschmackvoll ausgeführt wurde. Eine Fruchtsäule wurde errichtet aus einer Weizengarbe und verschiedenen Früchten des Feldes, mit denen uns der liebende Vater im Himmel auch dieses Jahr wieder reichlich gesegnet hatte. Zwar mussten wir diesmal verzichten auf die herrlichen Baum- und Beerenfrüchte, wie Äpfel, Birnen, Pfirsiche, Trauben, da im Frühjahr einige späte Fröste die ganze Ernte vernichteten, als die Bäume gerade in der herrlichsten Blüte standen und eine reiche Ernte versprachen, was ein ziemlicher Ausfall und Verlust ist. Aber im Übrigen ist die Ernte, was Weizen und Welschkorn betrifft - die Hauptprodukte, die hier gepflanzt werden -, ziemlich gut ausgefallen, besser als man erwartet hatte.
Der Sonntag war ein prachtvoller Tag und brachte uns eine ziemliche Anzahl Gäste, so dass der Gemeindesaal voll besetzt war. Auch vier Freunde, die 50 Meilen südlich von hier wohnen, hatten sich auf unsere Einladung hin eingestellt, es waren dies die Brüder Balzer, Penner, Lohrentz und Dück von der dortigen Mennonitengemeinde. Das Fest wurde eröffnet durch den gemischten Chor mit dem Choral »Großer Gott, wir loben dich«. Nach Verlesung des auf diesen Tag fallenden Losungstextes 3. Mose 23,33-44 und Gebet wurde vom Vorsteher der Gemeinde die Festansprache gehalten, in der vor allem der bisherige Weg der Tempelgesellschaft, die »Sammlung des Volkes Gottes« nachgezeichnet wurde und es zum Schluss wie folgt hieß:
Wir feiern das heutige Fest nicht allein, sondern mit uns alle unsere Geschwister auf dem ganzen Erdenrund, was schon ein erhebender Gedanke ist und uns zum Lob und Dank Gottes stimmt. Insbesondere hat unsere Gemeinde alle Ursache zum Danken für die erwiesenen Wohltaten und Segnungen, mit denen uns der himmlische Vater seit dem letzten Dankfest beschenkt hat. Er hat uns mit allem reichlich versehen, was zu unseres Leibes Nahrung und Notdurft gehört und mehr noch dazu, er hat Gefahren und Krankheit von uns abgewendet, dass sie uns keinen Schaden und Verluste an Leben und Eigentum verursachen konnten, dass wir bei unseren Zusammenkünften und privat uns gegenseitig aufmuntern konnten, um an seinem Werk weiter zu arbeiten und unser Leben und alles, was Gott uns geschenkt hat, immer mehr in seinen Dienst zu stellen zum Aufbau seines so herrlichen Reiches.
Noch einer weiteren Gabe dürfen wir nicht vergessen, die zwar in unserer Zeit sehr vernachlässigt, ja zum großen Teil nicht mehr als eine Gabe Gottes angesehen wird. Das sind unsere Kinder. Es sind fünf Familienväter und -mütter hier, die ihre Kinder Gott vor der Gemeinde darstellen und über die die Gemeinde den Segen aussprechen soll. Sie bringen dadurch zum Ausdruck, dass es ihr Wille ist, dass ihre Kinder als Glieder der Gemeinde aufgenommen und erzogen werden in der Furcht und Ermahnung zum Herrn, dass sie aufwachsen als Pflanzen der Gerechtigkeit zum Preise Gottes. Die Gemeinde hat also hier eine wichtige Aufgabe, erstens, dass sie eine Gemeinde nach dem Willen Gottes werden soll und muss, und dass ihr höchstes Trachten auf die Ausführung des Willens Gottes gerichtet sein muss, den er hauptsächlich kund getan hat durch unseren Heiland Jesus Christus, denn durch die Ausführung seiner Lehre und Gebote wird sein Königreich unter den Menschen hergestellt.
Sodann wurde über jedes der fünf Kinder einzeln durch Handauflegung der Segen des Herrn ausgesprochen. Zum Schluss sang der gemischte Chor das Lied »Wasserströme will ich gießen«.
Abends versammelten sich noch einige der Freunde, worunter auch unsere vier mennonitischen Gäste, und wir hatten noch eine schöne und ermunternde Unterhaltung. Den nächsten Morgen verabschiedeten wir uns, indem sie ihre Befriedigung über das Gesehene und Gehörte aussprachen und wir ebenfalls unsere Freude und unseren Dank für ihren Besuch ausdrückten. Möge die Liebe und Freundschaft eine immer herzlichere und ausgedehntere werden und das Band ein festeres.
Johann Georg Schanz
Beide Berichte sind alten Heften der »Warte des Tempels«, leicht gekürzt, entnommen.
»Wenn nicht nur die Getreide-, sondern auch die Weinernte eingebracht ist, sollt ihr das Laubhüttenfest feiern. Begeht es als Freudenfest.«
So beginnt im 16. Kapitel des Deuteronomiums (5. Buch Mose) der Abschnitt über eines der drei Hauptfeste des alten Israel. Mehr als 2500 Jahre sind seither in der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte vergangen und immer noch wird zum Abschluss der Erntezeit in vielen Ländern ein solches Fest gefeiert. Die Templer haben dafür den umfassenderen Ausdruck Dankfest gewählt.
Es soll dies ein Fest der Freude sein. Es gibt so viele Zusammenfügungen in unserer Sprache, aus denen der hochgestimmte Gemütszustand zum Ausdruck kommt: Freudensprung, Freudentanz, freudevoll, freudestrahlend, freudige Begrüßung, freudiges Ereignis. In so vielen Schattierungen wird ein Froh- und Beglücktsein beschrieben. Verstärkend sprechen wir von einer tiefen Freude. Wir freuen uns über ein Geschenk, über einen Telefonanruf, über einen Freundesdienst. Und wir erfreuen uns an einem Blumenstrauß oder an der Natur.
Doch das Wort Freude scheint mir heutzutage in unserem täglichen Leben ein wenig aus der Mode gekommen zu sein. Besonders junge Leute bezeichnen es meist mit anderen Worten, wenn sie von einem freudvollen Erleben sprechen. Dann sagen sie eher, sie hätten Spaß gehabt. Man wünscht sich ja gegenseitig auch meist: Viel Spaß! und nicht: Viel Freude! Mag sein, dass hier der Einfluss des englischen fun einwirkt, das im Amerikanischen für jede Art von Zeitvertreib, Kurzweil und Vergnügen benützt wird. Das ist aber nicht dasselbe wie Freude.
Ist es nicht ein großer Unterschied, ob man von Spaß oder von Freude spricht? Der Spaß und das Vergnügen zielen eher auf Heiterkeit und Unterhaltung hin und sind schnell wieder verrauscht. Die Freude ist ein tieferer Vorgang, bei dem unser gesamtes persönliches Bewusstsein angesprochen wird. Sie wirkt nach, manchmal ein ganzes Menschenleben lang.
Unser Dichterfürst Schiller hat in seinem Gedicht »Freude, schöner Götterfunken« beschrieben, wie die Freude auch menschenverbindend wirken kann. Wir haben sie als ganz besondere Gabe.
Wenn der Deuteronomist zum Freudenfest aufruft - das bei ihm sieben Tage dauern soll - geht es um die große Freude, die der Mensch durch Gottes Schöpfung erfährt, die sein Leben ermöglicht und für die er tiefe Dankbarkeit empfindet. Die Dankbarkeit entzündet sich zwar an dem Erntesegen, umfasst aber im Grunde alles, was wir nicht selbst schaffen und bewirken können. Deshalb ist die Bezeichnung Dankfest noch viel umfassender als Laubhüttenfest.
Auf einem Sonntagmorgen-Spaziergang durch den Sillenbucher »Silberwald« bemerkte ich an einer Stelle ein wohl von Kindern errichtetes Waldzelt. Kunstvoll waren längere Äste gegeneinander gestellt und mit belaubten Zweigen verflochten worden. Der Boden war weich ausgekleidet, sodass es für müde Wanderer eine willkommene schattige Erholungspause bot. Die Kinder hatten das Zelt aus Naturmaterial sicherlich zum Versteckspielen benutzt gehabt.
Mir ging durch den Kopf, wie in grauer Vorzeit des Menschen die durch die Wälder streifenden Sammler und Jäger wohl solche Laubhütten errichtet haben mögen, sei es, um vom Wild nicht gesehen zu werden oder um Schutz vor Witterungsunbill zu finden oder einfach um zu rasten.
In der langen kulturellen Entwicklungsgeschichte der Menschen erhielt die Laubhütte eine mit dem Feld- und Ackerbau zusammenhängende Bedeutung. Im Judentum entstand aus den Erlebnissen der Wüstenwanderung heraus der Kult der Errichtung von Laubhütten (»Die Israeliten wohnten während ihres Auszugs aus dem Lande Ägypten in Laubhütten«, 3. Mose 23,43). In der Erinnerung an diese Wanderung entwickelte sich bei den Juden die Feier des Laubhüttenfestes als ein Zeichen der Freude am Leben und des Dankes für die Erntegaben. Das zentrale Gebot dieses Festes fordert im Judentum, dass man während der Festwoche in provisorischen Hütten wohnt. Das Fest wird Sukkot genannt, die Hütte wird unter freiem Himmel aufgebaut und ihr Dach besteht aus Ästen, Zweigen und Laub.
Nicht jeder von uns weiß, dass auch die Templer in ihrer Geschichte einmal ein Laubhüttenfest gefeiert haben. In unserem Templer-Erzählbuch »Damals in Palästina« wird die Errichtung einer Laubhütte zur Feier des Erntedankfestes von Anna Bulach wie folgt beschrieben:
»Unser Versammlungsraum im Erdgeschoss des Gemeindehauses [in Haifa] war für Festlichkeiten der Gemeinde zu klein. So wurde mehrere Jahre im Garten eine große Laubhütte aufgerichtet. Junge und auch alte Männer errichteten ein großes Holzgestell, dessen Dach und Wände mit Laub und Zeltwänden verkleidet wurden. Bänke, Stühle und Tafeln wurden hineingeschafft und der Raum von innen schön geschmückt mit Palmzweigen, Kränzen und Girlanden aus Lorbeerlaub. Lorbeer wuchs wild auf dem Karmel, und man ließ durch einen Araber einige Eselsladungen herbringen. Die Jungfrauen und Schülerinnen kamen am Samstag dazu und flochten die Kränze und Girlanden.«
Vermutlich hat bei diesem Brauch nicht nur die Notwendigkeit des Platzbedarfs der Gemeinde, sondern auch das Wissen um die biblische Geschichte vom Auszug aus Ägypten eine Rolle gespielt. Im Vordergrund stand natürlich die starke Verbundenheit und Abhängigkeit der Siedler in Palästina mit Wachstum und Ernte in der Natur. Auch heute noch versuchen wir, bei unseren Dankfesten der Tempelgemeinde durch das Präsentieren der vielgestaltigen Erntefrüchte auf der Saalbühne diese Verbundenheit in unsere festgefügten Räume hereinzuholen. In Gedanken feiern wir also auch in der Gegenwart noch ein Laubhüttenfest.
Manchmal schließen sich Bildungslücken per Zufall. Bisher hatte ich das Hegelhaus, also das Geburtshaus des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) in der Stuttgarter Eberhardstraße, nicht weiter beachtet. Nun waren Studienfreunde aus Berlin gekommen, denen ich Stuttgart zeigen sollte und die das - übrigens sehr sehenswerte - kleine Museum im Hegelhaus besuchen wollten. Schon im Eingangsbereich fiel mein Blick auf ein schmales Buch mit dem Titel »Das Leben Jesu«, ein - wie ich bei der Lektüre erfuhr - weithin unbekanntes Jugendwerk Hegels, das er 1795 schrieb und das erst lange nach seinem Tod - zusammen mit anderen »theologischen Jugendschriften« - herausgegeben wurde. Hiermit mag auch zusammenhängen, dass es in dem einschlägigen Standardwerk »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« von Albert Schweitzer (1. Auflage unter anderem Titel 1906) keine Erwähnung fand. Streng genommen ist die Abhandlung Hegels auch keine Forschungsarbeit, sondern eine erzählerische Zusammenfassung der vier Evangelien in einer eigenen Übersetzung des verfassers, aus der dieser aber alles »Wunderbare« und »Übernatürliche« radikal getilgt hat. Jesus kommt daher nicht im Wege der »unbefleckten Empfängnis« vom Himmel, sondern er wird geboren wie irgend ein anderer Mensch, nicht in eine »heilige Familie«, sondern als Kind »normaler« Leute. Jesus vollbringt in der Darstellung Hegels auch keine Wunder und prophezeit auch kein nahes Weltende oder gar ein Jüngstes Gericht, sondern äußert sich über Wundertaten eher beiläufig bis abfällig. So unspektakulär, wie es begann, endet bei Hegel auch das Leben Jesu, nämlich nicht in einer gloriosen Himmelfahrt, sondern mit dem Tod am Kreuz am Karfreitag. Im Anschluss wird nur noch nüchtern über die Bestattung des Leichnams berichtet.
Wenn man bedenkt, welchen ungeheuren Aufruhr noch 40 Jahre später, also 1835, das Buch »Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet« von David Friedrich Strauß hervorrief, dann wird verständlich, warum Hegel seine Abhandlung zeitlebens unter Verschluss hielt. Sie hätte sicher nicht nur in Theologenkreisen, sondern in der breiten Öffentlichkeit heftige Reaktionen ausgelöst. Hegel reduzierte die Evangelien unter Rückgriff auf die religionsphilosophischen Positionen Kants auf einen sittlich-ethischen Kern, der sich nicht mehr im Gegensatz zu dem befinden sollte, was dem Menschen aus Vernunftgründen einsichtig ist. Er hat das in seinen späteren Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie auf die prägnante Formel gebracht: »Die Vernunft will, wie Gott, keine fremden Götter neben sich haben, noch viel weniger über sich.« Indem Hegel nun alles Übernatürliche und Mysteriöse aus den Evangelien herausstrich, so konnte das Wirken Jesu für die menschliche Vernunft nun nichts Anstößiges mehr bedeuten. Wie sehr das Gedankengut Kants in Hegels »Leben Jesu« seinen Niederschlag fand, wird zum Beispiel in der Bergpredigt deutlich, in der Jesus statt der »goldenen Regel« Kants kategorischen Imperativ fast wortwörtlich zitiert. Da in Hegels Version der Evangelien mit dem Übernatürlichen aber nun auch das Göttliche zu verschwinden drohte, wäre der Konflikt mit der orthodoxen Theologie, aber auch mit dem Glaubensverständnis der meisten Laien unvermeidlich gewesen. Dies muss Hegel sehr bewusst gewesen sein. Vielleicht mag auch seine unsichere berufliche Lage eine Rolle gespielt haben: Als Hegel sein »Leben Jesu« schrieb (1795), war er als Hauslehrer in der Schweiz angestellt. Aufgrund seines in Tübingen zwei Jahre zuvor abgeschlossenen Theologiestudiums stand er aber offiziell noch im Dienst der württembergischen Landeskirche; als »Kandidat der Theologie« und Aspirant auf ein Kirchenamt hatte er bis zur endgültigen Anstellung sogar Anspruch auf ein bescheidenes Gehalt. Die angehenden »Gottesgelehrten«, wie sie damals genannt wurden, konnten sich jedenfalls zur ruhmreichen Elite des Herzogtums zählen. Auch Hegel gehörte dazu, und unter seinen Vorfahren, die sich väterlicher- und mütterlicherseits bis in die Zeit der Reformation zurückverfolgen lassen, gab es fast in jeder Generation einen, der diesen geistlichen Weg beschritten hatte. Der berühmteste unter diesen Vorfahren war übrigens Johannes Brenz, der Reformator Württembergs. Welches geistige Klima im Herzogtum Württemberg ausgangs des 18. Jahrhunderts herrschte, wird in der Einleitung des erwähnten Bändchens (Frank Ackermann [Hrsg.]: Das Leben Jesu, Verlag Peter Grohmann, 2. Auflage 2011) drastisch geschildert, denn das Land wurde nicht von ungefähr als »protestantisches Spanien« bezeichnet. Die Staatsverfassung verbot den katholischen Gottesdienst; Katholiken durften auch keine öffentlichen Ämter bekleiden. Selbst im damaligen Kirchengesangbuch fanden sich Belege für die konfrontative Haltung gegenüber Rom: So gab es in dem Lied »Erhalt uns, Herr, bei Deinem Wort« etwa folgenden Vers: »Und steur’ des Papstes und der Türken Mord«. Kaum zu glauben, dass man in den Kirchen Württembergs im Zeitalter der Aufklärung Gott aufforderte, er möge den Papst und die Türken ermorden. Auch Hegel dürfte sich von der orthodoxen Haltung seiner Landeskirche schon damals entfremdet haben, sonst hätte er sich nicht von der scheinbar vorgezeichneten Kirchenkarriere abgewendet.
Es lohnt sich auch für die Templer, einen Blick auf das einzigartige, seit der Reformation weitgehend unveränderte Ausbildungssystem der Theologen im Herzogtum zu werfen. Schließlich absolvierte Christoph Hoffmann einige Jahrzehnte später ebenfalls das Theologiestudium und fungierte 1840 sogar als Repetent am Tübinger Stift. Das Schulwesen lag damals nicht in den Händen des Staates, sondern in denen der Landeskirche, deren Oberhaupt der Landesherr war. Zunächst wurden in einem strengen und mehrjährigen Prüfungsverfahren aus jedem Jahrgang die etwa 25 begabtesten Knaben für die neunjährige kostenlose Ausbildung ausgewählt; sie mussten sich im Gegenzug verpflichten, nach Abschluss ihrer Ausbildung lebenslänglich der Landeskirche zu dienen. Die Novizen begannen ihren Kurs im Alter von ca. 14 Jahren, wobei sie zuerst vier Vorbereitungsjahre in den vier Klosterschulen Maulbronn, Blaubeuren, Bebenhausen und Denkendorf verbrachten, um dann zum eigentlichen Universitätsstudium an das Tübinger Stift zu wechseln. Die 25 Stipendiaten bildeten einen engen Verbund, der gemeinsam jedes Jahr vorrückte (daher »Promotion« genannt), wobei regelmäßige Prüfungen für eine stets aktuelle Rangordnung sorgten, die zudem noch veröffentlicht wurde und den Maßstab für die spätere Anstellung bildete. Die Absolventen hatten sich insbesondere im Tübinger Stift, einem ehemaligen Augustinerkloster, einer strengen Kirchenzucht zu unterwerfen und wohnten unter einem Dach mit den Dozenten, Aufsehern und sonstigem Personal. Das Stift dominierte die Universität: 1791, als Hegel, Hölderlin und Schelling dort studierten, hatte die Universität insgesamt 188 Studenten, davon entfielen allein 148 auf das Stift. Die knapp 150 Stiftler wohnten in dreizehn großen Stuben, die erhebliche bauliche und hygienische Mängel aufwiesen. Die Stube, die Hegel eine Zeit lang mit Hölderlin und Schelling bewohnte, trug beispielsweise den zweifelhaften Spitznamen »Rattensphäre«. Geweckt wurde im Sommer um 5 Uhr, im Winter um 6.30 Uhr. Der Tag begann und endete mit Beten, die gemeinsamen Mahlzeiten wurden umrahmt vom Absingen geistlicher Lieder und während des Essens wurde gepredigt oder aus der Bibel vorgelesen. Die Vor- und Nachmittage waren dem streng kontrollierten Besuch der Vorlesungen oder dem Selbststudium zu widmen. Nach dem Abendessen um 18 Uhr gab es Ausgang bis zum Läuten der Stiftsglocke um 21 Uhr. In der freien Zeit drohten allerdings drakonische Strafen für ungebührliches Verhalten. »Schwere Verfehlungen« waren etwa ein Wirtshausbesuch (ohne Erlaubnis), Kartenspielen oder Rauchen. Sogar das Abendessen außerhalb des Stifts, etwa bei Professoren oder Honoratioren, war verboten. Die Stiftler mussten wie »protestantische Mönche« schwarze Kutten tragen, was ihnen in der Stadt den Spitznamen »die Schwarzen« eintrug. Harmlose Gedichte führten zu Karzerhaft, wenn die Theologen darin eine Sünde wider den Heiligen Geist zu erkennen meinten.
In diese dumpfe Atmosphäre schlugen zu jener Zeit zwei epochale Ereignisse wie Blitze ein, die das Denken der jungen Gelehrten geradezu umpolten und alles Bestehende, alles Altgewohnte in Frage stellten: Die kritische Philosophie Immanuel Kants (1724-1804) und die Französische Revolution von 1789. Noch im reifen Alter schwärmte Hegel in seinen Berliner Vorlesungen von der Französischen Revolution als einem »herrlichen Sonnenaufgang«, alle »denkenden Wesen« hätten diese Epoche mitgefeiert, eine »erhabene Rührung« habe in jener Zeit geherrscht, ein »Enthusiasmus des Geistes« die Welt durchschauert, als sei es »zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen«. Der sonst so reflektierte Hegel wertete den politischen Umsturz in Frankreich offenbar als religiöses Ereignis und verlieh wohl so dem damaligen Empfinden der Stiftler Ausdruck. Diese feierten in der Tat die Revolution, von der sie durch in das Stift eingeschmuggelte französische Zeitungen erfuhren, als erneuertes Evangelium und begrüßten in ihr die Botschaft und das Nahen des »Reiches Gottes«. Noch gefährlicher als die Französische Revolution erwies sich aber für die Tübinger Theologie die kritische Philosophie Kants, die Schelling in einem Brief an Hegel ebenfalls als »Morgenröte« bezeichnete. Kant hatte gezeigt, dass Gott und Unsterblichkeit keine erkennbaren Gegenstände der theoretischen Vernunft sind, sondern vielmehr Forderungen, die sich aus der Freiheit des menschlichen Willens und des damit verbundenen Sittengesetzes ergeben. Die Freiheit wird von Kant damit zum Schlüssel für das Übersinnliche. Dass dadurch die Theologie, die damals noch den ersten Platz unter allen Wissenschaften beanspruchte, entthront wurde, dass es sich bei seinen kritischen Schriften um den - wie Hegel sich in einem Brief an Schelling ausdrückte - »Kantischen Scheiterhaufen« handelte, welcher dem »gotischen Tempel der Dogmatik« errichtet war, bemerkten die Tübinger Theologen erst später. Hegel erwartete ebenso wie Hölderlin und Schelling eine geistige Revolution in Deutschland, auch in Bezug auf Religion und Kirche. Ihm ging es darum, die christliche Religion im Sinne der Aufklärung in eine Freiheitslehre umzuwandeln und das starre Zwangssystem der Amtskirche zu überwinden. In diesem Sinne formulierte er eine gemeinsame Vision der drei Freunde:
»Das Reich Gottes komme und unsere Hände seien nicht müßig im Schoße. Vernunft und Freiheit bleiben unsere Losung und unser Vereinigungspunkt die unsichtbare Kirche.«
Ob Hegel sein »Leben Jesu« jemandem zu lesen gab, ist unklar. Es ist weder eine schriftliche noch mündliche Erwähnung seiner Schrift überliefert, die sich sorgfältig verwahrt in seinem Nachlass fand und erst 1907 (in Tübingen!) veröffentlicht wurde. Möglicherweise erinnerte sich Hegel, wie es Schiller ergangen war, der bis zu seiner Flucht aus Stuttgart im Jahre 1782 gegenüber von Hegels Geburtshaus gewohnt hatte. »Die Räuber«, schrieb Schiller, »kosteten mir Familie und Vaterland«. Über sein »Leben Jesu« hätte Hegel wohl dasselbe sagen müssen.