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Vom Umgang mit Geld (Teil 1) - Felix Schreiber, Pedro Lourenzo, Inga Reck-Hurioglu
Von Reichtum und Nachfolge - Brigitte Hoffmann
Es fing alles mit Johannes an - Peter Lange
Eine Gesellschaft dreht durch - Jörg Klingbeil
Leserbrief zu »Die Grenzen des Wachstums sind erreicht« - Jan Sandel
Der Jugendsaal am 2. Dezember 2012 wurde von sieben jungen Erwachsenen gestaltet (siehe Rückblick aus der Januar-»Warte«) und befasste sich mit dem Thema »Geld«. In dieser und der nächsten Ausgabe werden alle Beiträge vorgestellt.
Als ich hörte, dass das Thema des heutigen Saals »Geld« sein sollte, war ich - zugegebenermaßen - zuerst ein bisschen enttäuscht. Das Thema Geld, so dachte ich, sei doch schon so dominant: Eigentlich geht es doch sowieso immer um Geld. Wieso dann heute nochmal dieses ständig thematisierte Geld auspacken und ihm einen ganzen Saal schenken?
Ich musste anfangen zu überlegen, wie es überhaupt sein kann, dass Geld ständig ein Thema ist. Wieso ist Geld so wichtig? Warum ist es ein so bestimmendes Thema und spielt bei nahezu jeder Entscheidung, die wir treffen, eine so große Rolle?
Im Zuge dieser Überlegungen ist mir ein Rahmen eingefallen, in den ich heute das Thema Geld stellen will: »Geld & Freiheit«. Dabei musste ich feststellen: Ich habe jedenfalls mehr Fragen als Antworten.
Geld spielt in unserem Alltag eine so große Rolle, weil es unsere Freiheit direkt und nachhaltig berührt. Es schränkt uns bei unseren Entscheidungen ein oder lässt uns Raum. Unsere Entscheidungsfreiheit ist also abhängig davon, wie viel Geld uns zur Verfügung steht. Man könnte sagen, es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Geld und Entscheidungsmöglichkeiten. Die Folge aus diesen Überlegungen wäre also, dass durch wenig Geld Entscheidungsfreiheit eingeschränkt wird - durch mehr Geld Spielräume wachsen. Es ist ein legitimes Ziel, das uns alle verbindet: Wir wollen allen Menschen möglichst viel Freiheit zugestehen, entwickeln, ermöglichen, erhalten. Muss es also ein Ziel sein, alle »so reich wie möglich« zu machen? Wollen wir das wirklich? Ist der Zusammenhang so einfach?
Unsere Bereitschaft, im Supermarkt mehr oder weniger Geld auszugeben, hat große Folgen. Bio-Produkte setzen zum Beispiel eine (teurere) artgerechtere Tier-Haltung voraus als billigere Produkte. Unser Geld entscheidet also auch darüber, ob Tiere artgerecht leben können oder nicht. Wäre Geld kein Thema, beziehungsweise wäre es immer völlig ausreichend vorhanden, würde es vielleicht gar nicht zur Massentierhaltung kommen? Hier stehen sich also Profitstreben und Zahlungsbereitschaft des Kunden gegenüber.
Vielleicht ist Geld aber auch für unser persönliches Leben gar nicht so wichtig? Auch mit wenig Geld kann man glücklich sein. Wir können uns gegenseitig eine Freude machen - kostenlos.
Und wie funktioniert Interaktion auf einer internationalen politischen Ebene? Welche Staaten sind »frei«, welche »abhängig«? Auch hier kann man Zusammenhänge zwischen Geld und Freiheit feststellen. Arme Staaten scheinen abhängig von reicheren zu sein. Aktuell geht es in den Nachrichten um Griechenland, Spanien, Portugal... Diese Länder sind abhängig von den Entscheidungen der reichen EU Länder bezüglich ihrer weiteren Teilhabe am Reichtum moderner Industriegesellschaften, wer wollte ihnen dieses Recht verwehren?
Auch bei Bürgerkriegen geht es fast immer um Freiheiten, Freiheit von einem repressiven Staat oder einem Diktator oder um Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung. Bürgerkriege entscheiden sich im 21. Jahrhundert nicht mehr durch Heeresgröße, sondern durch Ressourcen - also durch Geld. Geld entscheidet darüber, was richtig und was falsch ist. Wenn man es stärker zuspitzt, entscheidet Geld also über die »richtige« Religion, die Gleichberechtigung von Minderheiten oder sogar über die »Wahrheit« bzw. das, was für Wahrheit gehalten werden soll. Geld ist zu einem immens wichtigen Motor menschlichen Zusammenlebens geworden; es treibt uns an, macht uns frei, schränkt uns ein. Wir benutzen es (wie im Fall der Bio-Produkte), um unsere Ideologien zu leben, um Wahrheiten zu beeinflussen, um überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.
Vielleicht ist es an der Zeit, über Anhäufung von Geld hinaus zu denken und Geld (vielleicht auch nur ein bisschen) vom Thron zu stoßen. Geld könnte wieder werden, was es war: Mittel zum Zweck des Lebens: Wir sollten das Geld benutzen um zu leben, nicht leben, um Geld zu benutzen...
Niemand kann gleichzeitig zwei Herren unterworfen sein. Entweder wird er den einen bevorzugen und den anderen vernachlässigen, oder dem einen treu sein und den anderen hintergehen. Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon gleichzeitig dienen. (Matthäus 6, 24 Bergpredigt)
Eigentlich steht die Passage aus der Bergpredigt für sich selbst und bedarf keines Kommentars. Entweder folgt man dem Willen Gottes, oder man verschreibt sich dem Geld. Aber warum geht nicht beides gleichzeitig?
Um das zu verstehen, müssen wir genauer verstehen, was es heißt, Gott zu dienen, und was es heißt, dem Geld zu dienen.
Sich Gott zu unterwerfen, seinen Willen befolgen, und ihm zu dienen, beinhaltet, nach seinen Gesetzen zu leben, also nach den 10 Geboten, ihn zu lieben und unseren Nächsten wie uns selbst, sich für Minderheiten und die Schwächeren einzusetzen - so wie Jesus es getan hat. Sich Gott zu unterwerfen bedeutet somit, am Reich Gottes mitzuarbeiten!
Sich dem Mammon zu unterwerfen heißt, sich der Anhäufung von Reichtümern zu verschreiben, das Geldverdienen in den Lebensmittelpunkt zu stellen. Es geht im besten Fall darum Karriere zu machen (worunter meistens die Familie zu leiden hat), schlimmstenfalls andere auszunutzen, auszubeuten, korrupt und/oder kriminell zu sein.
Und warum kann man nicht beides unter einen Hut bringen? Warum kann man diesen beiden »Herren« nicht gleichzeitig unterworfen sein?
Wenn man Gott und seinen Nächsten liebt, wenn man nach Gottes Gesetzen lebt, die 10 Gebote befolgt, kann man nicht Andere bestehlen, sie übervorteilen, sie ausnutzen, sie ausbeuten.
Wenn man nach dem Reich Gottes strebt, kann man nicht kriminell oder korrupt sein, denn das Reich Gottes ist eine gerechte Welt und wie soll man dafür arbeiten, wenn man kriminell und korrupt ist?
Tatsächlich arbeitet das Eine gegen das Andere, beide Positionen sind diametral entgegengesetzt, also absolut unvereinbar.
Aber in einer Welt, die nicht nur aus Schwarz und Weiß, »entweder - oder«, »Ja oder Nein« besteht, sondern aus verschiedenen Grautönen und Farben, aus »Vielleicht« und aus »ein bisschen«, scheint diese Botschaft paradox. Meiner Meinung nach ist das in diesem Fall aber tatsächlich so.
Wir alle müssen arbeiten gehen, um Essen zu kaufen, uns zu kleiden, Rechnungen zu bezahlen und andere Verbindlichkeiten abzugelten. Jedoch nimmt die Arbeit in den meisten Fällen so viel Zeit in Beschlag, dass man daneben kaum Zeit hat, um sich in ausreichender Art und Weise um seine Partnerschaft, Familie, Freunde, Haushalt und auch noch um sich selbst zu kümmern. Egal wie man es anstellt, es bleibt immer der Eindruck, dass irgendetwas oder -einer auf der Strecke geblieben ist. Und noch viel schwerwiegender: wo bleibt die Zeit für Gott?
Soll es etwa reichen, abends vor dem Einschlafen 5 Minuten für ein Gebet zu erübrigen? Kann man in diesen 5 Minuten etwa Gott dienen?
Ich glaube nicht! Denn auch wenn man Gott dienen kann, in dem man seine Gesetze einhält, wofür man eigentlich keine zusätzliche Zeit aufwenden sollte, wann soll man den Schwachen helfen? Wann soll man Ehrenämter in Hilfsvereinigungen ausüben? Wann soll man die Schöpfung erhalten? Wann soll man dadurch aktiv am Reich Gottes arbeiten?
Ich behaupte, dass wir nicht in angemessener Weise am Reich Gottes arbeiten können, solange wir »Sklaven der Arbeit« sind!
Betrachten wir die momentane Situation der Welt: »Geld regiert die Welt!«Das ist nicht nur ein geflügeltes Wort bzw. ein Satz, es ist meiner Meinung nach die absolute Realität.
Viele Menschen sind dem Glauben verfallen, dass Geld glücklich macht. Es ist ihnen wichtiger zu zeigen, was sie haben, anstatt zu zeigen, was sie sind und wofür sie stehen. Das Geld und der Konsum sind für sie zur Ersatzreligion geworden. Sie tanzen ums goldene Kalb. Und es sind diese Menschen, die in den allermeisten Fällen das »Sagen haben«, unsere Geschicke lenken und Entscheidungen für uns treffen.
Warum sind diese Menschen so? In ihnen befindet sich eine Leere! Es fühlt sich an wie ein Loch in ihren Herzen. Wie das edelste Essen, das wie Watte schmeckt. Diese Menschen fühlen sich unvollkommen und sie versuchen, diese Leere mit Geld zu füllen. Das Geld, die Reichtümer, mit denen sie sich bereichern, werden nur dadurch gewonnen, dass sie andere ausbeuten, unterdrücken, übervorteilen... gegen Gottes Willen handeln.
Was ist nun die Lösung? Soll man aufhören zu arbeiten?
Natürlich nicht, denn wir müssen schon für unseren Lebensunterhalt sorgen. Daher muss sich auch lohnen, weniger zu arbeiten bzw. es muss sich auszahlen, weniger zu arbeiten. Zusätzlich müssen wir lernen, unseren »Konsumwahn« zu mäßigen. So benötigen wir weniger Geld für unsere Ausgaben, haben mehr Zeit für unsere Lieben, uns selbst und vor Allem für Gott. Eine Utopie?!
Ein ehemaliger Nachbar und Freund von mir, der in Bremen Wirtschafts-wissenschaften studierte, hat mit seinen Kommilitonen als Dissertation ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Modell entworfen, das dadurch funktionierte, dass jeder Erwerbsfähige nur 6 Stunden täglich an vier Tagen pro Woche arbeiten müsste, und dieses Modell würde nach und nach zu einer realen Vollbeschäftigung (nicht wie die Fantasie-Vollbeschäftigung in der damaligen DDR) führen. Jeder von uns hätte genug Geld zum Leben, zum Ausgeben, zum Sparen und hätte dadurch mehr Zeit für die »wichtigeren« Dinge im Leben.
Das Problem: Es würde auf Kosten der Reichtümer der Monopolisten, Oligarchen und Großindustriellen gehen, die diese Reichtümer benötigen, um die immer größer werdenden Löcher in ihren Herzen mit immer mehr Geld zu stopfen... Die Abschlussarbeit meines Freundes ist zwar bewertet worden und er hat das Studium abgeschlossen, nur die höheren Ziele, die er damit verfolgte, wurden von allen offiziellen Stellen und der Presse, mit denen er deswegen in Kontakt trat, angegriffen, zerredet, schlecht gemacht und wurden letzten Endes »in die Schublade« gepackt und nie wieder rausgeholt.
Ein Utopia, eine Welt, in der wir mehr Zeit für Gott hätten und uns seinem Willen viel mehr unterwerfen könnten als wir es jetzt tun können, wäre also möglich! Wir müssen uns nur genug Wissen darüber aneignen und bedingungslos dafür eintreten. Wir müssen weiterhin so gut es geht nach dem Willen Gottes leben, nach dem Reich Gottes streben wie bisher und noch viel mehr. Vielleicht müssen wir auch neue Wege suchen, um zum Reich Gottes zu gelangen!
Denn in einer Welt, wie sie jetzt existiert, von Kriegen gebeutelt, Aufständen, Hungersnöten, Umweltzerstörung, Naturkatastrophen, menschenfeindlichem Kapitalismus, Gier nach Macht und Egoismus, ist mein Ruf und mein Verlangen nach dem Reich Gottes, einer Utopia auf Erden, lauter und dringlicher denn je.
Wer kennt nicht den Saturn-Werbespruch »Geiz ist geil!«? Wer kennt nicht den Sparfuchs von Schwäbisch Hall Bausparen? Oder vielleicht den Slogan »Unterm Strich zähl ich«, mit welchem die Postbank um einen Privatkredit wirbt?
Nun, wie gehen wir selbst mit Geld um, das wir haben - oder nicht haben?
Im Umgang mit Geld gibt es allgemein bekannte Typen, z.B. den Sparer, den Geizigen, den Verschwender oder den Großzügigen. Zu welchem Typ würde sich jeder einzelne von uns rechnen?
Ich denke, dass wir uns je nach Situation mal eher geizig, großzügig oder sparsam verhalten. Meiner Meinung nach ist jedoch das Wichtigste bei allen Arten des Umgangs mit Geld, dass man sich und seiner Umwelt nicht schadet.
Beispielsweise schadet sich selbst jemand, der nur noch Tag und Nacht ans Geld denkt, weil er Probleme hat. Kann man das Grübeln bzw. das »sich Sorgen Machen« bei gewaltigen finanziellen Problemen, die das Leben beeinträchtigen, jedoch einfach abstellen, da vom Geld doch so viel abhängt?
In der Bibel heißt es bei Matthäus 6, Vers 25 zum Thema Sorgen: »Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?«
Nichts ist so wichtig wie Leib und Leben an sich - kann hier der Stelle entnommen werden. Dies sehe ich als Aufforderung, gelassen bzw. gelassener durchs Leben zu gehen. Es ist unerheblich, was ich oder andere Menschen essen, trinken, wie sie finanziell gestellt sind; man braucht sich somit auch nichts auf seinen finanziellen Reichtum einzubilden.
Die Argumentation in der Bibel geht weiter: »Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie?«
Hier kann die Argumentation so gelesen werden, dass sie sich gegen das Sparen richtet. Allerdings muss die Bibelstelle meiner Meinung nach wieder im Kontext ihrer Zeit gesehen werden. Gehen wir davon aus, dass der Angesprochene in einer Gegend mit mildem Klima lebt, wo genügend vor dem Haus wächst, um sich leicht mit Nahrungsmitteln versorgen zu können, so könnte das Leben in der Art eines Selbstversorgers gut funktionieren. Wie sieht es nun aber mit jemandem aus, der in einem städtischen Hochhaus lebt, wo Beton vorherrschend und es die meiste Zeit des Jahres kalt ist? Wie soll er sich versorgen? Müssen nicht Vorräte angelegt werden? Wie sieht es aus, mit dem Nicht-Sparen? Sind wir nicht mittlerweile alle ans Sparen gebunden? Von den eingezahlten Rentenbeiträgen bleibt in der Regel und vor allem auch in Zukunft nicht viel für uns übrig. Wir sind gezwungen, an die Zukunft zu denken, und müssen somit auf die eine oder andere Weise sparen, indem wir beispielsweise Rentenzusatzversicherungen abschließen. Eins zu eins kann die Bibelstelle sicher nicht auf unser Leben in unseren Breitengraden in unserer heutigen Zeit angewandt werden.
Im Hier und Jetzt ist es wichtig, auch ans Geld zu denken. Aber der Umgang mit Geld will gelernt sein. Entgegen der Aufforderung, sich keine Sorgen zu machen, was man als Kleidung trägt oder zu essen hat, wird gerade in den Medien das Sich-Gedanken-Machen gefördert. Und die eingangs erwähnte Werbung, hinter der Banken und Unternehmen stehen, verfolgt nur ein Ziel: Noch mehr Geld erwirtschaften! Angeboten kann man sich natürlich entziehen - sie müssen nicht angenommen werden. Es gibt aber auch Menschen, die es scheinbar nicht gelernt haben, finanziellen Angeboten zu widerstehen. Wer hatte nicht schon Werbung von Banken im Briefkasten, die einem erklären, dass man sofort 10.000 Euro Kredit bekommen kann? Wer das annimmt, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was es heißt, den Kredit wieder mit Zinsen abzahlen zu müssen, kann schnell Probleme bekommen. War es früher normal, auf etwas zu sparen, um sich dann etwas leisten zu können, so scheint es heute normal, einen Kredit aufzunehmen, um sich einen erträumten Lebensstandard zu erfüllen, der anschließend erst abgezahlt wird. Eine Werbung einer Bank habe ich dabei im Kopf, welche eine Privatkreditaufnahme als das natürlichste der Welt darstellt. Drei gut aussehende, gut gelaunte und allem Anschein nach gebildete Freundinnen sitzen an einem Tisch in einem Cafe und erzählen sich dabei freudestrahlend, was sie sich alles geleistet haben, eine neue Küche, ein neues Auto, ein neues Bett. Alle haben bei der gleichen Bank einen Privatkredit abgeschlossen, als wäre es das normalste der Welt. Fatal wird es, wenn der Kredit nicht abgezahlt werden kann und dann ein neuer Kredit aufgenommen werden muss, um anfallende Kosten überhaupt noch zahlen zu können. Womöglich kommen dann noch Spielschulden hinzu, weil versucht wird, ganz schnell ans große Geld zu kommen? Schon in der Bibel wird bei Timotheus 6, Vers 9 und 10 ganz direkt vor zu viel Gier gewarnt: »Denn die reich werden wollen, die fallen in Versuchung und Verstrickung und in viele törichte und schädliche Begierden, welche die Menschen versinken lassen in Verderben und Verdammnis. Denn Geldgier ist eine Wurzel allen Übels; danach hat einige gelüstet, und sie sind vom Glauben abgeirrt und machen sich selbst viele Schmerzen.«
Beispiele von privaten finanziell desaströsen Lagen begegnen wir beim Durchschalten im Fernsehen immer Mittwochabends - »Raus aus den Schulden« mit Peter Zwegat. Was dabei auffällt: die Menschen sind vor allem dankbar für jemanden, der sich ihrer Lage annimmt, ihnen hilft, den richtigen Weg aufzuzeigen, der ihnen zuhört, der bewirkt, dass sich Banken, dass sich vielleicht auch die Familienmitglieder großzügig zeigen, um der Lage entkommen zu können. Hier funktioniert es sicherlich auch mit Peter Zwegats Namen und dem Medium Fernsehen, dass großzügige Taten bewirkt und Menschen wieder glücklicher werden. Können nicht auch wir ohne medialen Bekanntheitsgrad Gutes tun?
Um wieder an Jesu Bibelstelle anzuknüpfen - etwas später heißt es als Aufforderung, dass man sich nicht sorgen und sagen soll: »Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach all dem trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen«.
Den Spruch, den wir Templer als Leitspruch angenommen haben, ruft uns zur Mitwirkung auf. Nur wenn wir nach dem Reich Gottes trachten, dann kann uns auch zufallen, was wir benötigen.
Das kann auf der einen Seite auch so verstanden werden: zeige dich kooperativ, damit die Menschen dir auch helfen wollen und dir auch helfen können. Verliere nicht den Zugang zu deinen Mitmenschen. Und auf der anderen Seite: Schau nach deinen Mitmenschen, was sie brauchen, wie du Nächstenliebe ausüben, ihnen helfen kannst.
Wer ans Geld denkt und dabei anderen schadet - um jeden Preis an Geld kommen will, als Privatmensch oder als Unternehmer jedes Register zieht, um an noch mehr Geld zu kommen... Mitarbeiter sozusagen verheizt, die billigsten Arbeitskräfte nimmt - der kann sich einbilden, dass er dadurch glücklich wird. Aber wo kommen wir da hin? Mit Nächstenliebe hat das tatsächlich nichts mehr zu tun.
Wir sind alle Menschen, wir sind alle gleich viel wert, unser höchstes Gut ist unser Leben. Gut leben können wir am Ende aber nur, wenn wir uns um uns selbst kümmern, indem wir uns auch um unsere Mitmenschen kümmern. In einer Zeit, die von Konsum und Geld geprägt ist, kann aber auch mit Geld Gutes getan werden. Gerade in der Zeit vor und um Weihnachten, in der Hoch-Zeit des Konsums, sollten wir innehalten und überlegen, wem wir nicht auch mit unserem Geld oder eben auch ohne Geld, sondern mit unserer Nächstenliebe helfen können.
Die bekannte Geschichte vom reichen Jüngling steht fast wortgleich bei allen drei Synoptikern. Wir kennen auch die ostentative Schlussfolgerung von der Verderblichkeit des Reichtums: »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt«. Der letzte Jugendsaal war diesem Thema gewidmet und unser Text scheint sich dem nahtlos anzuschließen. Aber er ist vielschichtig und hat noch andere Aspekte. Das fängt schon mit der Frage des Jünglings an: »Guter Meister, was soll ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?« Jesus weist die Anrede zurück: »Was nennst du mich gut? Gut ist allein Gott.« Das ist eine direkte Absage an die Lehre vom sündlosen Gottessohn, die sich schon in den ca. 50 Jahren seit Jesu Tod herausgebildet hatte. Und genau deshalb halte ich diese Aussage für authentisch. Neu eingefügt hätte sie um diese Zeit niemand. Spürbar wird dieser Widerspruch bei Matthäus, der die Frage abändert: »Was fragst du mich nach dem Guten?« Das hatte der Jüngling gar nicht gefragt. Jesus zählt fünf der zehn Gebote auf: Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht falsch aussagen, Vater und Mutter ehren. Nur Matthäus fügt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst - das ist ganz gewiss im Sinne Jesu, auch wenn er es an dieser Stelle nicht gesagt haben sollte. Das sind sozialethische Gebote, nicht rein religiöse; nicht einmal die Sabbatruhe ist dabei. Auch das ist eine Aussage. Und damit hätte das Gespräch zu Ende sein können. Dann würde die Antwort an den Jüngling - und an uns - heißen: Tue keinem Unrecht und übe - wenn wir den Matthäus-Zusatz dazunehmen - Rücksicht und Barmherzigkeit gegenüber allen. Auch das ist ein Weg zum »ewigen Leben«, zur Teilhabe am Reich Gottes.
Aber der Jüngling gibt sich damit nicht zufrieden. »Das alles habe ich gehalten von Jugend an. Was fehlt mir jetzt noch?« Bei Markus folgt ein kleiner Satz, der mir wichtig ist: »Da sah Jesus ihn an und gewann ihn lieb.« Jesus erkennt, dass es dem Jüngling ernst ist, dass er bereit ist zu mehr Einsatz, größeren Verzicht. Erst daraufhin folgt die ultimative Herausforderung: »Verkaufe alles, was du hast, und gib"s den Armen... Dann komm und folge mir nach.«
Das sind zwei ganz verschiedene Antworten auf ein und dieselbe Frage. Wie passten sie zusammen? Interessant ist die Reaktion der Jünger. Sie hätten sich eigentlich über die zweite Antwort Jesu freuen können: Was er von dem Jüngling forderte, war genau das, was sie selbst praktizierten, statt dessen heißt es: »sie entsetzten sich«, und als Jesus seine Aussage mit dem Bild vom Kamel und dem Nadelöhr noch steigerte, entsetzten sie sich noch mehr und fragten: »Wer kann dann noch selig werden?« Warum eigentlich? Sie selbst und die meisten Menschen, mit denen sie umgingen, waren nicht reich. Jesu Antwort auf ihre Frage - »bei Gott ist kein Ding unmöglich« - dürfte sie wohl kaum befriedigt haben und mich auch nicht. Ich frage mich, ob sie authentisch ist.
So oder so, ich denke, die Jünger fühlten, genau wie wir, dass die Maximalforderung sich nicht verallgemeinern lässt. Denn alles, was die Menschheit in Zehntausenden von Jahren an Kultur aufgebaut hat, beruht auf Wohlstand, der bewahrt und weitergegeben wird: Darauf, dass eine Gesellschaft mehr produziert, als sie zum Überleben braucht, und dieses »Mehr« nicht ziellos verschenkt, sondern einsetzt, z. B. für Schulen oder Tempel, Forschung oder Wasserleitungen usw. Das alles - vielleicht mit Ausnahme der Hilfe für Bedürftige - war für Jesus nicht wichtig. Seine Maximalforderung gilt den wenigen, die sich berufen fühlen oder berufen werden, direkt und ausschließlich der Ausbreitung des Gottesreichs zu dienen, unter Verzicht auf alles Weltliche. Oder sie gilt für eine Endzeit, in der all dieses Weltliche keine Rolle mehr spielt - Jesus lebte in der Naherwartung des Gottesreichs. Beides betrifft uns nicht oder nur sehr bedingt. Wir glauben nicht, dass wir in einer Endzeit leben, und wir sind in der Regel auch nicht zum Totalverzicht bereit. Wir sehen uns eher in der Rolle des reichen Jünglings. Wenn wir mehr Geld haben als andere, schämen wir uns manchmal, dass wir zu einem umfassenden Verzicht nicht bereit sind. Aber vielleicht ist dieser Jüngling nicht nur ein Negativbeispiel. Es heißt von ihm: Er ging traurig hinweg. Vielleicht war diese Traurigkeit ein Anlass für ihn, anders mit dem Besitz umzugehen, den er nicht weg geben wollte: Seine Arbeiter besser zu bezahlen oder zu versorgen, seinen Bauern beim Anlegen eines Brunnens zu helfen usw..
Jesus sagt: »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon«. Das leuchtet uns ein. Aber wir beziehen es nicht auf uns selbst; meistens wohl zu recht. »Dem Mammon dienen« heißt, das Streben nach Besitz zum höchsten oder gar einzigen Ziel zu machen, und das tun nur die wenigsten. Aber oft denken wir überwiegend in den Kategorien des Mammon. Wenn ich sehe, dass ein hübsches T-Shirt nur 5 Euro kostet, könnte ich mir eigentlich ausrechnen, dass ein T-Shirt zu diesem Preis nur in einem Entwicklungsland unter Arbeitsbedingungen gefertigt sein kann, die die Menschen zugrunde richten. Immerhin könnten wir - wenn wir nur wollen - uns nach den Produktionsbedingungen erkundigen und Waren aus fairem Handel kaufen. Je öfter wir das tun, desto mehr steigt der Druck auf Händler und Hersteller. Mein Beispiel ist banal; und wenn es um höhere Beträge geht, spielen noch viele andere Gesichtspunkte eine Rolle. Ich wollte nur auf eines hinweisen: Besitz ist nicht an sich schlecht, auch das Streben nach Besitz nicht. Aber Besitz bedeutet immer auch Verantwortung dafür, wie wir damit umgehen, und dieser Verantwortung sollten wir uns bewusst sein.
Brigitte Hoffmann hat in ihrem hochinteressanten Aufsatz über das Verhältnis von Religion und Geschichte (in »Warte« Jan. 2013) auf die neue Sichtweise hingewiesen, die Jesus von Nazareth zum »Gottesreich auf Erden« zum Ausdruck brachte. Für ihn habe die Gottesherrschaft nichts mehr mit historischen Ereignissen zu tun, nichts mehr mit einer Herrschaftsmacht Israels, nichts mehr mit weltlicher Herrschaft überhaupt.
Für viele Bibel-Exegeten bedeutet diese veränderte Sichtweise eine von zahlreichen Entwicklungsstufen in der Religionsgeschichte. Der evangelische Theologe Gerd Theißen hat in einem seiner Bücher (»Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht«, München 1984) schon vor Jahren auf die Stufen hingewiesen, die in Abständen in der Religionsgeschichte vorkommen.
Was war es wohl, was bei Jesus diese neue Sichtweise bewirkt hat? Auch wenn wir keine Möglichkeit haben, dies historisch genau zu erfahren, ist es doch eine Frage, die uns immer wieder durch den Kopf geht. Vielleicht lässt eine kritische Analyse der biblischen Schriften doch Motive und Anstöße dazu erkennen oder zumindest erahnen. Das hat in besonderer Weise den irisch-amerikanischen Jesus-Forscher John Dominic Crossan (er gründete zusammen mit Robert Funk 1985 das »Jesus-Seminar«) dazu getrieben, in seinem neuesten Buch »The Power of Parable«, London 2012) Gedanken darüber zu entwickeln.
Wenn wir die Schlussfolgerungen aus seiner Textanalyse verstehen wollen, müssen wir vor allem die Berichte über den Beginn des öffentlichen Auftretens von Jesus unter die Lupe nehmen. Dieser Beginn wird in knappen Worten in den ersten Versen des Markus-Evangelium (1,9-13) berichtet. Unser Ältestensprecher Jörg Klingbeil hat diese Verse beim ersten Saal-Gottesdienst im Januar in den Mittelpunkt seiner Predigt gestellt.
In den vorausgehenden Versen 1,1-8 erfahren wir Näheres über das Auftreten des Johannes, der in seiner Predigt die Mitmenschen vor dem Gericht der bald anbrechenden Gottesherrschaft warnte, in dem jede Untat und Sünde gebüßt werden müsse. Er drohte damit, dass schon »die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt« sei und »jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, abgehauen und ins Feuer geworfen« werde (siehe Matthäus 3,10). Solches hatten schon die altisraelitischen Propheten geweissagt. Johannes hat diese Unheilsverkündigung noch verstärkt und mit seinen Drohungen im Land viel Aufsehen erregt.
Seine Predigt muss auch die Neugier und das Interesse des jungen Jesus erregt haben, der sich dann vermutlich längere Zeit im Kreis der Johannes-Jünger aufhielt. Er muss den Aufruf des Täufers miterlebt haben, sich zum Abwaschen aller Sündhaftigkeit im Jordan untertauchen zu lassen und ein »neuer Mensch« zu werden. Nur durch diesen Reinigungsprozess könnten die Menschen dem bevorstehenden Zorn Gottes entgehen. Seine Worte waren: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!« (Matthäus 3,2).
Fast denselben Wortlaut hören wir nun kurze Zeit später auch von Jesus: »Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!« (Markus 1,15). Das lässt uns annehmen, dass Jesus die Verkündigung des Täufers übernommen und weitergetragen hat, allerdings dann in einer wesentlich anderen Bedeutung. Diese andere Bedeutung kann ihren Anstoß und ihre Triebkraft von einem inneren Erleben bei seiner Taufe durch Johannes erhalten haben, das in den Evangelien mit der »Taube vom Himmel« und der »Stimme aus den Wolken« beschrieben wird.
Diese Motivation mag Jesus zu einer inneren Besinnung auf seine Lebensaufgabe in dem Wüstenaufenthalt veranlasst haben, der seiner Taufe gefolgt war, zu der Vorbereitung auf eine eigene Wirksamkeit unter den Menschen. Und diese öffentliche Wirksamkeit sollte so ganz anders ausfallen als die des Täufers.
Hinter den Drohungen des Täufers war das Bild eines Rachegottes gestanden, dessen Eingreifen in der Menschheit kurz bevor stand. Crossan beschreibt Johannes als einen »apokalyptischen Eschatologen«, den Verkünder einer unheilvollen Endzeit. Diese Endzeit war durch die Gewalt Gottes gekennzeichnet. Er schreibt in seinem Buch wörtlich: »Diese prophetische Zukunftsvision war weder richtig noch überzeugend. Was nach dieser Prophezeiung kam, war nicht ein strafender Gott, sondern ein rächender Tetrarch; was kam, war nicht die Herrschaft Gottes, sondern die der Kavallerie von Antipas. Johannes starb in abgeschiedener Isolation in Machaerus, der südlichsten Festung von Antipas‘ Territorien. Und Gott ließ alles geschehen. Dies muss Jesus zum Nachdenken veranlasst haben.«
Wenn Jesus sich von Johannes hat taufen lassen, müssen wir davon ausgehen, dass ihm dessen Ankündigung des Unheils geläufig war und er sie akzeptierte. Dass er sich taufen ließ, dürfte gesicherte historische Erkenntnis sein, denn alle Evangelisten berichten darüber, allerdings in ganz unterschiedlicher Form (die zunehmende Verherrlichung Jesu in der frühen Christenheit führte dazu, dass die Evangelisten in der Zeit nach Markus die Taufe immer weiter von der Bedeutung einer Sündenreinwaschung entfernt haben).
Crossans Interpretation der entsprechenden Evangelientexte über die Täufergruppe lautete: Jesus hörte zu, Jesus lernte, und Jesus wandelte sich, weil er erlebte, was Johannes zustieß: Der Täufer hatte das bevorstehende Kommen Gottes angekündigt, aber Gott kam nicht. Dann wurde Johannes hingerichtet, und Gott verhinderte sein Martyrium nicht. Das alles verlangte bei Jesus nach einer Erklärung und vor allem nach einer veränderten Sicht auf das von Johannes angekündigte Gottesreich. Es verlangte nach einem Paradigmenwechsel, nach einer Änderung der religiösen Grundanschauungen. Johannes hatte Gottes »Großreinemachen der Welt« als unmittelbar bevorstehend angekündigt, als täglich zu erwartendes Ereignis, als ein Eingreifen Gottes in weltliche Vorgänge und Strukturen. Im Gegensatz dazu verkündigte Jesus Gottes Kommen als schon erfolgt. Für Johannes stand Gottes Herrschaft in der Zukunft noch bevor; für Jesus war sie schon da (»Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.« (Lukas 17,20-21). Die Betonung aller Ankündigungen des Täufers deuten auf eine Zukunft hin. Bei Jesus und seiner Lehre geht es dagegen um die Gegenwart des Gottesreiches.
Es gibt noch einen weiteren Unterschied zwischen der Auffassung von Johannes und der von Jesus. Jesus wird seinen Zuhörern später zugerufen haben: Ihr wartet immer auf Gottes Eingreifen in den Lauf der Welt, während Gott eure Mitarbeit braucht. Gottes Reich ist da, aber nur insoweit, als ihr es annehmt, darin eintretet, es lebt und es damit schafft. Crossan bezeichnet dies als die einzig mögliche Interpretation von Jesu Verkündigung, wenn man die Gegenwart des Gottesreiches nicht als einen üblen Scherz auffassen will. Klar ausgedrückt: Das Großreinemachen wird nicht ohne Gott geschehen, aber auch nicht ohne uns. Es handelt sich um ein göttlich-menschliches Zusammenwirken und nicht um eine ausschließlich göttliche Intervention.
Bliebe zum Schluss noch eine weitere wesentliche Unterscheidung zwischen den Sichtweisen von Jesus und Johannes. Für Jesus ist das Kommen des Gottesreiches mit Gewaltlosigkeit verbunden, im Gegensatz zu den göttlichen Gewaltszenarien des Täufers. Die Forderung von Jesus nach Gewaltlosigkeit hat seine Begründung in der Gewaltausübung der römischen Besatzung in der damaligen Zeit. Wobei er sicher nicht der Erste war, der die Gewaltlosigkeit ausrief. Im alten Israel hat es sowohl Perioden des gewaltsamen wie auch des gewaltlosen Widerstandes gegen fremde Eroberer gegeben. In kaum zu überbietender Form aber hat Jesus seine Landsleute zur Gewaltlosigkeit angehalten: »Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.« (Matthäus 5,44-45).
Jesus hat seine Sicht des Gottesreichs in Gleichnissen beschrieben. Für den Jesus-Forscher Crossan ist Jesu Gottesreich-Verständnis in sich schon ein Gleichnis. Auf Crossans Analyse der Jesus-Gleichnisse will ich in einem späteren Beitrag eingehen.
Kaum ein Tag verging in den letzten Monaten, an dem wir nicht neue Schreckensmeldungen über die finanzielle Situation in Griechenland und verzweifelte Rettungsaktionen gehört haben. Da wurden immer neue Milliardenlöcher entdeckt, Rettungsschirme aufgespannt, Hilfspakete geschnürt und Schuldenschnitte vollzogen. Nebenbei feuerten populistische Äußerungen über ein »Spardiktat Merkels« die negative Stimmung in Griechenland ebenso an, wie das umgekehrt die Meldungen in Deutschland über faule Beamte, reiche Steuersünder und Misswirtschaft in Griechenland taten. Dabei scheint die Krise doch ziemlich weit weg zu sein, wie Umfragen in Deutschland zu den persönlichen Zukunftserwartungen zeigen, denn diese werden überwiegend positiv eingeschätzt. Der Durchschnittsbürger hört zwar von notwendigen Reformen und Anpassungsprozessen, aber er vermag nicht die globalen, ja nicht einmal die europäischen Zusammenhänge der Euro- und Finanzkrise zu durchschauen. Und wir erfahren auch nicht die Wahrheit, nicht über Griechenland und nicht über Europa. Offenbar wagt niemand sie uns zu sagen.
Der renommierte Traumatherapeut Georg Pieper nennt dies eine »gigantische Verdrängungsleistung«, vor allem von den Politikern. Pieper gilt international als einer der erfahrensten Traumatologen. Er kennt Katastrophen aus nächster Nähe. Umso erschreckender, welche Eindrücke er im letzten Oktober aus Athen mitbrachte, wo er griechische Psychologen, Psychiater und Ärzte in Sachen Traumatherapie fortbildete. Was er dort erfuhr, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen: Hochschwangere Frauen eilen bettelnd von Krankenhaus zu Krankenhaus, doch weil sie weder eine Krankenversicherung noch genügend Geld haben, werden sie wieder weggeschickt. Menschen, die noch vor kurzem zur Mittelschicht gehörten, Junge, Alte, Kinder, sammeln in einem Athener Vorort Obst- und Gemüsereste von der Straße, während neben ihnen die Marktstände abgebaut werden. Alte Menschen berichten weinend im Fernsehen, dass sie sich trotz vierzigjähriger Berufstätigkeit keine Medikamente mehr leisten können, weil ihre Renten um die Hälfte gekürzt wurden. Wer in ein Krankenhaus geht, muss seine eigene Bettwäsche und sogar das Essen mitbringen. Seit das Putzpersonal entlassen wurde, putzen Ärzte, Schwestern und Pfleger, die seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen haben, die Toiletten. Es fehlt an Einweghandschuhen und Kathetern. Angesichts der teilweise verheerenden hygienischen Bedingungen warnt die Europäische Union schon vor der Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Ganze Wohnblocks sind mittlerweile aus finanziellen Gründen von der Öllieferung abgeschnitten. Die Menschen behelfen sich in den Wohnungen mit kleinen Öfen, für die sie das Holz illegal schlagen. Im Frühjahr 2012 erschoss sich ein 77-jähriger Grieche vor dem Parlament; kurz zuvor soll er ausgerufen haben. »So hinterlasse ich meinen Kindern keine Schulden!« Die Selbstmordrate hat sich in den letzten drei Jahren verdoppelt.
Nach Ansicht von Georg Pieper macht Griechenland gerade eine kollektive Traumatisierung durch: »Ein Trauma ist ein Ereignis, das die Erfahrungswelt des Einzelnen bis in seine Grundfesten erschüttert. Das Erlebte ist derart übermächtig, dass es den Betroffenen in einen Strudel absoluter Hilflosigkeit zieht. Nichts ist mehr, wie es einmal war, und nichts wird jemals wieder so sein. Nur ein Zyniker spricht im Hinblick auf Griechenland noch von sozialem Abstieg. Es ist viel mehr als das: Eine Gesellschaft fällt ins Bodenlose.« Besonders hart treffe die Krise die Männer, die ihre Identität wesentlich stärker aus ihrer Arbeit, also ihrem Marktwert zögen, der aber kontinuierlich sinke, sagt Pieper. Psychische Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen breiteten sich in Griechenland inzwischen epidemisch aus. Da sich nur noch die wenigsten therapeutische Hilfe leisten könnten, blieben die Kranken in der Regel unbehandelt. So sei es kein Wunder, dass drei Viertel aller Selbstmorde von Männern verübt würden. Das starke Geschlecht seien derzeit die Frauen, aber deren flexibles Rollenverständnis werde nicht ausreichen, um die Krise zu besiegen. Nach Ansicht von Pieper sind die Auswirkungen der Krise auf die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander und auf den Zusammenhalt der Gesellschaft verheerend. Die Wut auf ein korruptes, unfähiges System sowie auf die internationale Politik, die mit Milliarden die Banken, aber nicht die Menschen rette, wachse unaufhaltsam. Die Männer würden sich in der Familie abreagieren und die Söhne auf der Straße an noch Schwächeren. Die Zahl der gewalttätigen Banden, die Minderheiten attackieren, steigt. Im November sprach die amerikanische Regierung schon eine Reisewarnung, insbesondere für ihre Staatsbürger mit dunkler Hautfarbe, aus. Für ein Land, zu dessen Selbstverständnis traditionell die Gastfreundschaft zählte, eine schockierende Entwicklung. Eine Rechtsradikalenpartei ist nach Umfragen bereits drittstärkste Kraft.
Vor kurzem ist ein neues Buch von Georg Pieper erschienen (»Überleben oder Scheitern. Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen«, Knaus-Verlag). Darin beschreibt er eindrucksvoll die erstaunlichen positiven Überlebenskräfte des Einzelnen, der selbst verheerenden Schicksalsschlägen trotzen könne. Allerdings sei dafür eine funktionierende Gesellschaft und ein Netz erforderlich, das einen auffängt. Die Reaktion der norwegischen Gesellschaft nach dem Massaker von Utøya, als alle den Betroffenen beistanden, sei ein Musterbeispiel für gelebte Solidarität gewesen. Eine gegenteilige Entwicklung mache derzeit Griechenland durch, wo die Menschen nur noch auf sich schauen und ums Überleben kämpfen würden. Die blanke Not treibe sie in die Unvernunft, was im schlimmsten Fall Kriminalität bedeute. Egoismus sei an die Stelle der Solidarität getreten.
Pieper sieht Griechenland kurz vor einem Bürgerkrieg. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die kollektive Verzweiflung der Menschen in Gewalt entlade. Und davon seien letztlich wir alle betroffen.
Mich haben die Eindrücke von Georg Pieper nachdenklich gemacht. Ich denke, wir laufen Gefahr, die Menschen in Griechenland, die der Krise hilflos ausgeliefert sind, für das Versagen der Verantwortlichen automatisch mit haftbar zu machen. Wir drohen unser Gespür für Mitleid und Solidarität zu verlieren. Der Bericht von Georg Pieper sollte Anlass sein, die Meldungen aus Hellas künftig differenzierter wahrzunehmen.
Jörg Klingbeil (nach einem Beitrag von Melanie Mühl in der F.A.Z. vom 14.12.2012)
Peter Lange gebührt zunächst Dank für die Kurzdarstellung und Kommentierung des Artikels von Wolfgang Kessler und Teresa Schneider in »Publik-Forum« (Ausgabe 10/2012, Seite 26) zu den Grenzen des Wachstums, die ihrerseits die »Denkfabrik« des Club of Rome festzustellen nicht müde wird, wie aus den Ausführungen des norwegischen »Zukunftsforschers« Jorgen Randers hervorgeht. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass die Erkenntnis endlicher Ressourcen für irgendjemanden im Jahr 2013 noch Neuigkeitswert genießt. Dagegen fehlt in derartigen Mahnungen fast immer der wichtige, weil erkenntniserweiternde Hinweis, dass der Zwang zum ressourcenfressenden Wirtschaftswachstum kausal aus unserem zinsbasierten Finanzsystem resultiert: Das Bruttosozialprodukt muss immer mindestens genauso stark anwachsen, wie im selben Zeitintervall die Zinsschuld anwächst, um das erreichte Wohlstandsniveau halten zu können! Ich persönlich sehe daher Aufforderungen wie die »dass wir mit einem solchen Umdenken bei uns selbst beginnen müssen« mit gemischten Gefühlen. Denn zum einen ist innerhalb des Systems eine neue Bescheidenheit des einzelnen Konsumenten sicherlich löblich (und täte den meisten von uns in vielerlei Hinsichten sehr gut), kann aber entweder kaum positive Effekte auf das Ganze zeitigen, weil sich zu wenige gleichgerichtet verhalten, oder provoziert tatsächlich eine neue »Krise« wie die von Deutschland verschärfte Situation in Griechenland durch fatales, weil systemwidriges Sparen! Und zum anderen gibt es noch das Problem der »postkolonialen« Perspektive: Ein Ausbremsen des Wirtschaftswachstums - selbst wenn es in unserem Finanzsystem möglich wäre - ist von unserer (südwestdeutschen) Position der technologisch-industriellen Hochentwicklung aus doch recht leicht gefordert, wohingegen sogenannte Entwicklungsländer erst einmal ein auch nur annähernd gleichgroßes Kuchenstück wollen, bevor sie übers Abspecken reden möchten … oder sind die Grenzen des Wachstums für verschiedene Länder verschieden?