Wie jedes Jahr trafen sich etwa 25 Mitglieder (von 18 bis 88) zum Wochenendseminar auf dem Schönblick in Schwäbisch Gmünd. Wunderbares Wetter, die schöne Unterbringung und frohe Geselligkeit machten das Seminar wieder weit über das Interesse am Thema hinaus zu einem reichen Erlebnis.
Das Gewissen erschien zunächst für die Meisten keine bedrückende Instanz. Einige verspüren allerdings bedrückende Gewissensbisse, niemals genug (für andere) getan zu haben, und kämpfen mit Blick auf die Ressourcen dieser Welt mit einem ständig quälenden Gewissen. Das »schlechte Gewissen« scheint für viele eher ein Erlebnis der Kindheit und Schulzeit.
Jörg Klingbeil gab Streiflichter des Verständnisses des Gewissens quer durch die Geschichte und musste feststellen, dass das Gewissen offensichtlich schon immer sehr unterschiedlich verstanden und beurteilt wurde: Von Ovid (»Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen«) bis Albert Schweitzer (»Das gute Gewissen ist eine Erfindung des Teufels«) und von Darwin (anthropologische Bedeutung im Leben der Gruppe) bis zum Erlebnis von Schande und Schuld bei religiös sanktionierten Verstößen. Dimensionen des Gewissens weisen auf Vergangenes und Künftiges, auf Gott und Familie, Partner und Gesellschaft.
Unsere Gesetze - bestätigt durch Gerichtsurteile - setzen das Gewissen voraus und anerkennen es als höchste Instanz: Die Freiheit des Gewissens ist unverletzlich (Art. 4 GG), und der Abgeordnete ist letztlich nur seinem Gewissen verantwortlich.
Mit der Erkenntnis von Gut und Böse ist dem Menschen das Gewissen in der Schöpfung mitgegeben. Im Alten Testament kommt es kaum ausdrücklich vor (z.B. bei Hiob), öfters ist die Rede vom Gewissen als an innere Organe gebunden, an »Herz und Nieren«. Im Neuen Testament verweist nur Paulus auf das Gewissen, das Heiden und Christen haben. Thomas von Aquin spricht vom Urgewissen, das sich nicht irren könne. Martin Luther beruft sich auf sein Gewissen als höchste Instanz - gebunden an die Heilige Schrift. Er unterscheidet drei »Tiefen« des Gewissens: Äußere Werke und Zeremonien, tiefer dann die moralischen Gebote wie Demut und Treue (aus Furcht vor Schande, Strafe und Hölle); und das »Allerheiligste«: Die freiwillige Erfüllung der Gebote »durch göttliche Gnade und Christus«. Eine entscheidende Abkehr von den »Gewitterpredigten«, der Androhung des Zornes Gottes, bildet die Aufklärung. Immanuel Kant versteht das Gewissen dann als »Gerichtshof, in dem der Verstand der Gesetzgeber, die Urteilskraft der Ankläger und Sachwalter, die Vernunft aber der Richter ist.« Während das Gewissen als Thema heute in den Hintergrund gerückt scheint, wird es in der Werbung inflationär als Mittel der Manipulation eingesetzt: Das gute Gewissen durch den Kauf des richtigen Waschmittels; oder die versprochene gute Tat des Herstellers verkauft mit dem Produkt ein gutes Werk (Spenden) und gutes Gewissen.
Ich selbst versuchte mit drei Modellen und unterstreichenden Beispielen, die Entstehung des Gewissens zu erklären, und war mir dabei der Begrenztheit meines Versuchs bewusst. Mit Hilfe der Gestaltpsychologie wurde das Gefühl des »Schlechten Gewissens« dargestellt als Störung jeweils sozial vermittelter »guter Gestalt«. Wenn unsere sozial vermittelte »Sinnwelt« gestört wird, haben wir ein schlechtes Gewissen.
Die Tiefenpsychologie sieht im Gewissen die verinnerlichte Autorität, das »Über-Ich«. Die Entwicklung des Gewissens erfolgt psycho-ökonomisch: Zunächst ist die Mutter da; das Kind entwickelt Vertrauen. Das Kind will ihr, der Mächtigen (oder ihrem Ersatz) gefallen - aus Angst vor Liebesentzug, der physischen Lebensgrundlage, Angst vor dem Tod - der Ur-Strafe. Mit zunehmendem Alter nimmt Autorität einen immer wichtigeren Platz ein: Wir wollen dazugehören, der Ur-Strafe entgehen. Wir tun fast alles, der Autorität zu folgen, ihr zu gefallen, aus (Todes-)Angst, wir würden sonst ausgestoßen, allein sein. Die zunächst äußere Autorität ist für uns so überwältigend, dass sie zum Maßstab allen Denkens wird. Sie braucht uns bald nicht mehr zu strafen oder Strafe anzudrohen:
Es ist viel einfacher für uns (und für die Autorität!), wenn wir sie »verinnerlichen«. Dann ist sie immer da. Wir verankern die Autorität in uns selbst, dann nicht mehr als »Stimme« des Vaters, der Mutter, Gottes oder der Autorität, sondern wir nennen sie »eigenes Gewissen«. Und so ist das Gewissen weit mächtiger als alle äußere Autorität: Der ursprünglich gefürchtete Liebesentzug wird zum gefürchteten Selbstachtungsverlust.
In einem dritten Modell versuchte ich die ersten beiden zu integrieren in ein Entwicklungsmodell der Ich-Identität (Erikson). Unsere Identität entwickelt sich über tiefgreifende Krisen (grundgelegt von Urvertrauen gegen Urmisstrauen), balancierend zwischen Über-Anpassung und uns ausschließendem Widerstand, zu einem reifen Ich, das das Gewissen immer einschließt. Wer die Entwicklung des Gewissens erklären will, muss die Entwicklung des Selbst-Bewusstseins, der Ich-Identität beschreiben. Das Gewissen ist nicht eine besondere Instanz, sondern eingebettet in unsere sozial vermittelte Identität.
Die Teilnehmer schienen sich einig, dass der Inhalt des Gewissens sozial vermittelt wird und nicht die »Stimme Gottes« sei; die Suche nach dem »objektiv immer Guten« muss ohne Erfolg bleiben. Auf Gott verweise allerdings die Schöpfungstatsache, dass wir ein Gewissen haben.
Peter Lange forschte im Archiv nach Templer-Aussagen zum Gewissen und fand (»nur«) in Rohrers »Ist die Bibel die Quelle der Gotteserkenntnis?«, das Gewissen sei der Maßstab für die ewige Wahrheit, die er der Bibel entnehme, allerdings nicht der Autorität von Verfassern oder historischen Wahrheiten, sondern im Erkennen ihres tiefen Sinnes: Wahr sei, was den Menschen seiner Bestimmung näherbringe, der Mensch sei berufen zur Gottähnlichkeit. Diese Rückbindung des Gewissens an die Bibel, wie wir es schon bei Luther gehört hatten, erscheint uns heute nicht mehr eindeutig genug.
Während das Kind die Rückbindung des Gewissens an die Erwartungen seiner relevanten Anderen erlebt, wollen wir Erwachsene unser Gewissen rückgebunden sehen an die Vernunft und an ein mit anderen gemeinsames Wertkonzept (wie z.B. niedergelegt in der Charta der Menschenrechte).
Am Sonntagmorgen hielt Karin Klingbeil die Andacht (Jesus und die Ehebrecherin, Johannes 8, 1-11, s.o.). Das »...der werfe den ersten Stein« wurde zum geflügelten Wort und mahnt auch uns.
Brigitte Hoffmann versuchte anhand eines Beispiels aus der ZEIT die Gewissensfrage zu aktualisieren, was aber aufgrund des Umfangs des beschrieben »Falles« nur stückweise gelang. Die individuelle Rückbindung eigener Gewissens-Erfahrungen an die vorgestellten Modelle hätte sich ein Teilnehmer noch mehr gewünscht und war damit sicher nicht allein. Diese wohlverstandene und gut gemeinte Kritik verstärkte das Gefühl eines offenen und lebendigen Austauschs ohne Beschränkungen. Dies Gefühl ist eine wichtige und unverwechselbare Basis aller erlebten TGD-Gemeindeseminare - so auch dieses Mal wieder! Dank allen Teilnehmern! Bis zum nächsten Jahr!