Unser jährliches Seminar fand - wie seit vielen Jahren - wieder im wunderschön gelegenen Gäste- und Tagungszentrum Schönblick bei Schwäbisch Gmünd statt.
Im Laufe des Freitagnachmittags sind die einzelnen Teilnehmergruppen im Quartier eingetroffen. Die meisten der 19 Teilnehmer kamen aus dem Raum Stuttgart, andere hatten bis zu 300 km Autofahrt hinter sich. Die Begrüßung war herzlich, man kannte sich ja vom Vorjahr. Herzlich begrüßt wurden auch Christa und Rod Lingham aus Melbourne, die ihren Deutschlandbesuch nutzten, um am Seminar teilzunehmen. Das Wetter war etwas kühl, aber es hat während der gesamten Zeit unseres Aufenthaltes nicht geregnet. So konnte jeder, der wollte, die freie Zeit zwischen Vorträgen und Diskussionsrunden nützen, um kleinere Spaziergänge in die idyllische Umgebung zu unternehmen. Weil im vergangenen Jahr die Landesgartenschau hier abgehalten wurde, waren nun überall in der Umgebung neue Anlagen zu besichtigen mit wunderschönen Blumenrabatten, Wasserspielen, Waldlehrpfaden und vielen anderen interessanten Neuerungen. Ein Zugewinn für die ohnehin schöne Naturlandschaft. Gerne hätte man hier mehr Zeit verbringen mögen.
Die Zeit nach dem Abendessen konnte jeder nach eigenen Wünschen nutzen. Die meisten von uns wählten den Aufenthalt im Seminarraum, der unserer Templergruppe fürs Wochenende zur Verfügung gestellt worden war. Man war neugierig, die Meinung des Nachbarn zu dem vorgegebenen Thema »Fortschritt«« zu hören. Im Folgenden möchte ich etwas über die geführten Gespräche zu diesem Thema und die dabei entstandenen Gedanken berichten.
Schon früh zeigte sich, wie unterschiedlich der Begriff »Fortschritt« verstanden oder interpretiert werden konnte. Die einen meinten Begriffe wie: größer (Schiff), schneller (Auto), höher (Wolkenkratzer), weiter (Rakete) usw. seien typische Beispiele für den Fortschritt. Andere hielten Fortschritte in der Medizin und in der Bekämpfung von Krankheiten für bedeutsamer. Manche verwiesen auf unseren Losungstext und das »Streben nach dem Reich Gottes auf Erden«, mit dem Fortschritte im Zusammenleben der Menschen untereinander erzielt werden sollten, was ja in unseren Gemeinden auch erfolgreich praktiziert worden ist. Nicht nur über die Definition des Begriffes Fortschritt wurde diskutiert, auch darüber, welche Antriebskraft oder Eigenschaft zum Streben nach Veränderung im Menschen steckt. Ist es Neugier, ist es Langeweile, sind es Schmerzen oder andere Missstände, die Menschen nach Linderung der Schmerzen oder nach Verbesserung der Situation suchen lassen? Oder ist es eher ein faustisches Drängen zu neuen Erkenntnissen, das - wie Goethe es so treffend beschrieben hat - in vielen Menschen steckt und sie kreativ werden lässt? - Es wurde spät, bevor sich die letzten zur Nachtruhe zurückzogen.
Der offizielle Teil am Samstagmorgen begann mit zwei Einführungsvorträgen. Der erste hatte den Titel »Fortschritt - wohin und wozu?« (von Jörg Klingbeil). Mit einer großartig aufbereiteten Powerpoint Präsentation erfuhren wir vielerlei, unter anderem auch, wie durch gezielte Forschung und Entwicklung in praktisch allen naturwissenschaftlichen, technischen, philosophischen und religiösen Bereichen Fortschritte bewirkt werden, wie eine neue Medienwelt unser Denken beeinflusst, und wie vor allem auch die Jugend davon betroffen ist. Danach folgte ein umfassender und tiefgründiger Vortrag »Kein Fortschritt ohne Schmerzen - eine sprachliche und entwicklungspsychologische Betrachtung« (von Martin Schreiber), in dem unter anderem aufgezeigt wird, dass das, was der eine Fortschritt nennt, beim andern auch Rückschritt bedeuten kann. Als Beispiel wurde der Aufsatz angeführt »Der vermessene Mensch« (Jörg Klingbeil, in der»Warte«Februar 2015), nach der eine automatische digitale Überwachung des Gesundheitszustandes des Menschen - auf den ersten Blick ein Fortschritt - auch Nachteile mit sich bringen kann. Beispiel: Wenn eine Versicherungsgesellschaft gesundheitliche Stärken oder Schwächen einer Person kennt (»gläserner Mensch«), könnte sie zur Gewinnmaximierung die Versicherungsbeiträge von dem Gesundheitszustand der Person abhängig machen: Eine schwache Person müsste dann für dieselben Leistungen höhere Beiträge bezahlen als der Stärkere, sowohl bei Krankenversicherung als auch bei Lebensversicherung. Dies wäre in höchstem Grad unsozial.
Es folgten weitere kurze Vorträge von Jörg Klingbeil »Medien«, von Brigitte Hoffmann »Mobilität, Globalisierung«, von Karin Klingbeil »Medizin«, die alle in direkter Verbindung zum Hauptthema standen. Ein Film »Das Kreative Universum« zeigte anschaulich, wie unsere Umwelt auf Entwicklungen reagiert. Am Sonntagmorgen hielt Peter Lange eine besinnliche Andacht, umrahmt mit gemeindlichem Gesang, den Rumi Hornung auf dem Klavier begleitete. Passend zu der vorpfingstlichen Zeit hat Peter auf das Wunder des Geistes hingewiesen, der nicht nur uns Menschen zu außergewöhnlichen Fähigkeiten verhilft, dessen Wirken auch überall in der Natur um uns herum zu beobachten ist.
Zwischen und nach den Vorträgen am ersten Tag und am zweiten Tag wurde lebhaft diskutiert. Daraus möchte ich Ausgewähltes berichten und auch Gedanken erwähnen, die dadurch angestoßen wurden. Wir haben unter anderem darüber gesprochen, wie die weitgehend christlich geprägte abendländische Kultur die ersten eineinhalb Jahrtausende hinsichtlich technischer Fortschritte im Dämmerschlaf verbrachte und wie dann, zunächst langsam, dann immer schneller Ereignisse stattfanden, die einschneidende Veränderungen für die Gesellschaft mit sich brachten. So zum Beispiel hatte die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg im 15. Jahrhundert einen ersten tiefgreifenden Umbruch ausgelöst. Ein weiterer Umbruch war die Erfindung der Dampfmaschine und ihr industrieller Einsatz seit 1770. Es war die Zeit des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Weil die Industrie riesige Mengen an Energie benötigte, hatte man zunächst Holz aus der Umgebung geschlagen und Bodenschätze wie Kohle, Gas und Erdöl ausgebeutet. Dieser Energiebedarf stieg sprunghaft weiter an, als Anfang 1900 Fließband und industrielle Massenfertigung eingeführt wurden. Er hat inzwischen ein gefährliches Ausmaß erreicht, das - wie wir heute wissen - die Umwelt global bedroht. An diesem Beispiel wurde deutlich, wie positiv zu bewertende »Fort«-schritte (=positiv) durchaus auch »Rück«-schritte (=negativ) sein können, wenn man sie aus Sicht der Umweltbelastung betrachtet.
»Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wer hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind?« Auch das Thema Evolution kam in unseren Diskussionen zur Sprache. Menschliche Forschung hat festgestellt, dass es seit etwa 1 Milliarde Jahren Blaualgen auf der Erde gibt, von denen alle heutigen Lebewesen abstammen. Dazu gehören die inzwischen unzählig vielen Gattungen in der Pflanzen- und Tierwelt, an derem oberen Ende ja auch der hoch entwickelte Mensch mit seinem Verstand und Geist angesiedelt ist. In der Runde haben wir erörtert: Könnte eine Entwicklung dieser Vielfalt allein durch ein Prinzip entstanden sein, bei dem nach Darwin’scher Erkenntnis ausschließlich der Fitteste überlebt, und derjenige, der sich am besten an die Umwelt angepasst hat? Alle haben es bezweifelt. Wie erklären wir dann die Entstehung unserer Gattung, wenn wir nicht an direkten göttlichen Eingriff glauben wollen? Bei nüchterner Betrachtung scheint es manchmal fast so, als ob der Evolution, und vielleicht unserem ganzen Weltall, ein gewisser Bauplan zugrunde liegen könnte, der sich nach und nach abgewickelt hat. Und wenn es so einen Plan gegeben haben sollte und es ihn weiterhin gibt, fragte man, steht in diesem Plan auch etwas über die weitere Zukunft drin? Und wenn schon heute ein Plan für die Zukunft existieren sollte, wie könnte ein solcher aussehen? Könnte es eine uns unbekannte Kraft im Weltall geben, die mit fortschreitender Zeit »Plan« zur »Wirklichkeit« verwandelt? Oder könnte es das Wesen der Zeit selbst sein, imaginäre Zukunft zu reell existierender Gegenwart werden zu lassen? Fragen über Fragen, die keiner beantworten konnte. In allen unseren Gesprächen war uns aber deutlich geworden, wie sehr der in der Umgangssprache recht »harmlos« klingende Begriff »Fortschritt« doch tiefgreifenden Wandel schafft und unser Leben, unsere Gedankenwelt und vor allem auch unsere Verhaltensweise in Umweltfragen beeinflusst hat und weiter beeinflusst.
Zum Abschluss der Tagung verteilte Erika Krügler ein Notenblatt mit dem Titel »Irische Segenwünsche« Möge die Straße uns zusammenführen, das vielen von uns schon bekannt war. Gerne sangen wir aus voller Brust alle vier Strophen, mit Erika Krügler am Klavier. Ein schöner Ausklang. Mit dem die Tagung abschließenden Mittagessen im großen Saal war unser Aufenthalt auf Schönblick dann beendet. Bei der anschließenden Verabschiedung in der großen Halle ging es nochmals lebhaft zu, mit vielen gegenseitigen Umarmungen. Und nach einem gemeinsamen Gruppenfoto konnte jeder seine Heimreise antreten.
Zum Schluss möchte ich, passend zum Thema Fortschritt, noch ein Gedicht von Eugen Roth zitieren, das mir gut gefällt und mit dem wir - nach einem gedanklichen Ausflug in einen etwas virtuellen Bereich - wieder in die real existierende Welt zurückgeführt werden. In diesem kurzen und bodenständigen Gedicht gelingt es Eugen Roth mit wenigen Zeilen, viele wesentliche Entwicklungsstufen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens durchläuft, einzufangen: Streben, Abrackern, Erfolg, Reichtum, Genuss und schließlich die nostalgische Klage über die Flüchtigkeit des Glücks.
Ein Mensch gelangt, mit Müh und Not,
vom Nichts zum ersten Stückchen Brot.
Vom Brot zur Wurst geht’s dann schon besser;
der Mensch entwickelt sich zum Fresser.
Und sitzt nun scheinbar ohne Kummer,
als reicher Mann bei Sekt und Hummer.
Doch sieh, zu Ende ist die Leiter!
Vom Hummer aus geht’s nicht mehr weiter.
Beim Brot, so meint er, war das Glück.
Doch findet er nicht mehr zurück.
Eugen Roth hat hier ein Einzelschicksal beschrieben. Wer will, mag gewisse Parallelen auch in der Entwicklung hin zu unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft erkennen.
Geblieben von der Tagung ist meiner Frau und mir eine schöne Erinnerung an ein sehr interessantes Wochenende. Ich glaube im Namen aller Teilnehmer zu sprechen, wenn ich den Organisatoren dieser Veranstaltung ein ganz herzliches Dankeschön sage.