Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 180/9 - September 2024

 

 

Der Krug mit dem Sprung - Christine Ruff

Sehen, aber nicht erkennen - hören, doch nicht verstehen. - Jörg Klingbeil

Großer Gott wir loben dich - Dr. Konstanze Grutschnig

Die TikTok-Intifada - der 7. Oktober und die Folgen im Netz - Jörg Klingbeil

Zur »Globalgeschichte« der Schwaben gehören auch die Templer - Jörg Klingbeil

Der Krug mit dem Sprung

Der Text für unseren Jugendgottesdienst in diesem Monat stammt aus Psalm 36, 6-11 mit dem Titel »Die Güte Gottes«.

HERR, deine Güte reicht bis an den Himmel und deine Treue, so weit die Wolken ziehen! Deine Gerechtigkeit ragt hoch wie die ewigen Berge, deine Urteile gründen tief wie das Meer. Du, HERR, hilfst Menschen und Tieren. Deine Liebe ist unvergleichlich. Du bist unser Gott, du breitest deine Flügel über uns und gibst uns Schutz. Du sättigst uns aus dem Reichtum deines Hauses, deine Güte erquickt uns wie frisches Wasser. Du selbst bist die Quelle, die uns Leben schenkt. Deine Liebe ist die Sonne, von der wir leben. Bleib immer denen gut, die dich kennen; bleib allen in Treue zugewandt, die dir mit redlichem Herzen folgen! (Die Gute Nachricht 2018)

Kurz gesagt geht es in Psalm 36 um den Triumph der unerschütterlichen Liebe Gottes über die Mächte des Bösen und der Not. Er ermutigt uns, an das Licht Gottes zu glauben, das uns aus der Dunkelheit und von dem Bösen befreit. Er erinnert uns daran, nach dem Positiven zu suchen und unsere Segnungen zu zählen, anstatt uns auf das Negative zu konzentrieren. Wir werden daran erinnert, dankbar zu sein und weiterhin Inspiration aus dem »Brunnen des Lebens« zu schöpfen und aus der Treue, die uns die gütige Allgegenwart Gottes erweist. Die Verse 6-11 konzentrieren sich speziell auf dieses Wohlwollen, dieses bedingungslose Ge­schenk, das wir erhalten, wenn wir auf Gott vertrauen: Seine Liebe, Gerechtigkeit, Fülle, Nah­rung und Licht, alles verbunden mit den höchsten Bergen, dem Himmel, dem tiefen Ozean, Flüssen voller Freuden und »Quellen des Lebens«.

Dieser Text bietet eine positive Sicht auf das, was der Glaube an Gott uns schenken kann, aber für mich wirft er auch viele Fragen auf: Entscheide ich mich, das zu glauben: dass Gott uns vor dem Bösen bewahren kann und uns fortgesetzt Fülle zuteilwerden lässt?

Vertraue ich blind auf Gott und erwarte als Gegenleistung Gutes? Verlasse ich mich auf »Gottes unerschütterliche Liebe«, um mir die Zuversicht zu geben, dass sich die Dinge in mei­nem Leben gut entwickeln?

Oder setze ich meine Überzeugung (meinen Glauben) auf etwas anderes, eine andere güti­ge Kraft, eine alternative Macht? Woher bekomme ich meine Energie? Was erzeugt Hoffnung?

Ich frage mich, was Ihr denkt? Was ist Euer Glaubenssystem? Das, worauf Ihr vertraut, das Euch Optimismus gibt oder worauf Ihr Euch verlasst? Ist es tatsächlich eine äußere Kraft, oder glaubt Ihr vielleicht, dass wir nicht nur passive Glücksempfänger sind, sondern selbst für unser Glück sorgen? Was glaubt Ihr, wie viel Kontrolle haben wir über unsere eigene Lebensreise? Welche Maßnahmen könnt Ihr ergreifen, um den Verlauf Eures Lebens zu bestimmen?

Meine persönliche Sichtweise ist eine Mischung. Ich stelle mir gerne vor, dass es eine himmlische, regierende Kraft gibt, einen »Anderen«, der die Dinge für mich im Auge behält, aber ich habe keine konkrete Vorstellung davon, was diese Kraft ist. Vielleicht ist es das Universum als Ganzes? Vielleicht verstorbene Familienangehörige und Freunde, die mich weiterhin von einem entfernten Ort aus führen? Es ist sicherlich eine freundliche und mitfüh­lende Präsenz. Es ist ganz bestimmt etwas, das Kräfte hat, die über das Irdische hinausgehen. Es ist etwas, das für mich den Überblick über das große Ganze behält, wenn ich es nicht kann.

Aber ich glaube auch fest daran, dass ich mein eigenes Schicksal mitgestalte. Ich habe die Kontrolle über viele Dinge: die Entscheidungen, die ich treffe und die sich weiter auf mein Leben auswirken, die Menschen, mit denen ich mich umgebe, die Version der Ereignisse, für die ich mich entscheide, die Freizeitbeschäftigungen, denen ich nachgehe, die Karriere, die ich mache, wofür ich mich begeistere, wie ich meine Zeit investiere, was ich meinem Körper (und Geist) einverleibe, was ich lese, was ich sage, was ich in meiner Freizeit mache ... - die Liste geht weiter. Genauso bedeutend ist allerdings die Tatsache, dass ich Kontrolle darüber habe, wie ich auf Dinge reagiere, die mir passieren. Und wenn ich nur teilweise Einfluss auf die Richtung habe, die mein Leben nimmt (Dinge, die mir passieren), dann habe ich aber die vollständige Kontrolle darüber, wie ich zulasse, dass diese Dinge mich beeinflussen.

Ich kann enorme Freude empfinden, wenn die Dinge nach meinen Wünschen laufen, wenn das Leben in Fülle ist, wenn die Welt ein gerechter, sicherer und erleuchteter Ort ist. In sol­chen Zeiten ist es leicht, Zufriedenheit und Ruhe zu finden, Glauben zu haben. Aber umge­kehrt kann ich enorme Trauer und Verzweiflung verspüren, wenn die Dinge schief laufen, angefangen bei kleinen Verärgerungen bis hin zu schlechter Gesundheit, Krankheit und Tod. Woran halte ich mich in Zeiten von Angst, Schmerz, Unglück, Niedergeschlagenheit, Trübsinn oder Melancholie? Wie halte ich den Glauben aufrecht, glaube, dass dies die Richtung ist, in die mein Leben gehen sollte, bleibe ruhig und freundlich und weiß, dass auf der Welt alles in Ordnung ist? Es ist ein Kampf mit mir selbst, mich an das große Ganze zu erinnern und nicht dem Klein-Klein zu verfallen.

Es ist eine Herausforderung, sich nicht unglücklich, verflucht oder glücklos zu fühlen. Hal­tung und Sichtweise sind alles. Ich mache mir selber immer wieder klar, dass ich kein Tonkrug mit einem Sprung bin, der keinen Inhalt halten kann (Wasser, Liebe, Hoffnung, Glaube) und bald leer ist. Ich versuche, Wege zu finden, die Risse zu reparieren, damit ich mich wieder gü­tig und dankbar fühlen und meinen Krug gefüllt halten kann. Nicht immer einfach! Die weitere Herausforderung besteht darin, sich daran zu erinnern, in guten Zeiten dankbar zu sein und Wertschätzung zu empfinden, wenn das alltägliche Leben voranschreitet.

In welch glücklicher Lage bin ich, dass ich in Freiheit und Sicherheit lebe, durch das Gesetz geschützt bin, als anerkannter Staatsbürger einem Land angehöre, Gedankenfreiheit habe und Zugang zu einem sicheren Zuhause und zu medizinischer Hilfe, die Freiheit habe, meine eigene Kultur zu praktizieren, zur Arbeit zu gehen und dafür bezahlt zu werden, Zugang zu Bil­dung, sauberem Trinkwasser und reichlich Nahrung zu haben, die Möglichkeit zu reisen und die Umgebung über meine Nachbarschaft hinaus zu erkunden, die Möglichkeit, eine Familie zu gründen, meinen Leidenschaften zu frönen, Eigentum zu besitzen, an Wahlen teilnehmen, Ur­laub machen und ausruhen kann?

Muss ich nicht einer der gesegnetsten Menschen auf diesem Planeten sein? Sicherlich sollte ich an jedem einzelnen Tag meine Glückssterne zählen? Wie kommt es, dass Du Dich glücklich fühlst? Wie übst Du Dankbarkeit? Wofür kannst Du Deine Glückssterne zählen?

Christine Ruff in: Templer Talk Juli 2024, Übersetzung Karin Klingbeil

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Sehen, aber nicht erkennen - hören, doch nicht verstehen.

(Markus 4,10-12)

Jesus redet zu seinen Zuhörern oft in der Form von Gleichnissen. In der Regel wählt er dabei Beispiele aus ihrem eigenen - überwiegend ländlichen - Erfahrungshorizont, damit sie das Ge­hörte besser auf das selbst Erlebte übertragen und daraus Schlüsse ziehen können. Manch­mal sind aber selbst seine Jünger überfordert und verstehen ihn nicht. So beim Gleichnis vom Sämann, denn kaum haben die Jünger es gehört (Verse 3-9), fragen sie ihn nach dem Sinn von Gleichnissen. Daraufhin erwidert Jesus:

»Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben; denen draußen aber widerfährt es alles in Gleichnissen, auf dass sie mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde.« Erst danach legt er ihnen das Gleichnis in allen Einzelheiten aus.

Jesu Erklärung reizt zum Widerspruch. Was soll die Unterscheidung zwischen »denen drau­ßen« und dem engeren Freundeskreis? War Jesu Botschaft vom Reich Gottes nicht an alle Menschen gerichtet, ohne Ausgrenzung nach sozialer oder religiöser Herkunft? Und wieso sollte Jesus mit seinem Gleichnis die Absicht verfolgen, dass Menschen nicht erkennen, nicht verstehen und sich nicht bekehren? Das widerspricht doch allem, was Jesus von der verge­benden und liebenden Zuwendung Gottes verkündet hat, die allen Menschen zuteilwerden kann.

Wenn Jesus sagt, dass »denen draußen« alles in Gleichnissen widerfährt, dann kann man das auch übersetzen mit »ihnen wird alles rätselhaft«. Das soll wohl heißen: Die Jünger ver­stehen die Gleichnisse in der Regel. Es gibt aber auch Menschen, die sich von ihnen nicht innerlich berühren lassen. Jesus geht es offenkundig um mehr als um eine bloße optische oder akustische Wahrnehmung, sondern um die Erschließung des Gesagten durch ein inneres Verständnis. Die Zuhörer sollen seine Worte gewissermaßen mit dem Herzen hören und in sich wirken lassen. So kann die Form des Gleichnisses eine Brücke für eigene Erfahrungen und Hoffnungen bilden, die bislang verschüttet waren. Insofern ist das Wort Jesu auch eine Mahnung an uns zur Umkehr. Gerade das Gleichnis vom Sämann lädt dazu ein, sich ehrlich zu fragen, warum die eigenen Bemühungen im Leben vielfach nichts gefruchtet haben. Vielleicht kann dieses Nachdenken dazu führen, dass wir in Anbetracht des in uns angelegten Saatguts Gottes wieder Mut fassen. Dann hätte das Gleichnis in uns gewirkt und die Chance eröffnet, dem Geheimnis des Reiches Gottes näher kommen zu können und Vergebung an uns selbst zu erfahren.

Jörg Klingbeil

 

Vorbemerkung: Die Tempelgesellschaft hat das Lied ebenfalls in ihrem Gesangbuch abge­druckt (Nr. 27), allerdings nur mit den Strophen 1-3 und 11.

Großer Gott wir loben dich - ein Lied aus dem ökumenischen Lieder­schatz

Wer in einem katholischen Umfeld aufgewachsen ist, kennt es aus den Gottesdiensten gut, das allgegenwärtige Lied »Großer Gott wir loben dich«. Vor allem die Melodie machte es ein­fach einzustimmen und die Wirkung einer kräftig singenden Gemeinde war (und ist) be­ein­druckend. Der Germanist Herrmann Kurzke beschreibt es so: »Man muss es erlebt haben, mit welcher Urgewalt das «Großer Gott wir loben dich» erdröhnen kann, zum Beispiel im katholi­schen Gottesdienst nach der Fronleichnamsprozession, beim Wiedereinzug in die Kirche, wenn alle Glocken läuten, die Orgel ihr äußerstes gibt und auch die, die sonst nur lustlos vor sich hin brummeln, aus voller Brust schmettern.« (aus: Hymnen und Lieder der Deutschen, 1990, S. 163)

Auch wenn das Lied ursprünglich katholisch ist und lange Zeit als katholisches Bekenntnis gegolten hat, ist es im 19. Jahrhundert zuerst als geistliches Volkslied und nach 1950 als Kir­chenlied in den evangelischen Liederkanon gewandert. Im »Evangelischen Gesangbuch« (EG) findet man es unter der Nr. 331, als »ö«-Lied (mit 11 Strophen in der ökumenischen Textfassung der Arbeitsgemeinschaft Ökumenisches Liedgut). Zu seiner Beliebtheit hat insbe­sondere die Melodie beigetragen, die zuerst 1852 im Melodienbuch »Cantate« von Heinrich Bone abgedruckt wurde. Mit einer melodischen Bewegung in Sekunden und zahlreichen Tonwiederholungen sowie der Reduzierung auf vier Notenmotive ist die Melodie schnell und leicht lernbar. Außerdem führt die »bequeme Mittellage« dazu, dass auch ungeübte Sänger das Lied kräftig mitsingen können.

Der Verfasser des Liedes ist Ignaz Franz (1719-1790), der als katholischer Theologe zu den wichtigsten Kirchenlieddichtern der Aufklärung zählt. Grundlage der ursprünglich 12 Strophen ist die Übersetzung des lateinischen »Te Deum«. Auf die Anrede Gottes in der ersten Strophe folgen drei Teile: der erste versetzt den Singenden in den Chor der himmlischen Heerscharen und lässt ihn in das ewige Lob Gottes einstimmen. Mit der fünften Strophe, in der die Trinität Gottes entfaltet wird, endet dieser Teil. In den folgenden drei Strophen ändert sich das Setting, nun singen erlösungsbedürftige Menschen und wenden sich an Christus. Sie preisen seine Menschwerdung, seine Taten und seinen Opfertod. Dieser Teil mündet in der achten Strophe in die Bitte um Erlösung. Daran schließen sich in den weiteren Strophen verschiedene Bitten um das Wohlergehen des Volkes Gottes an. Franz gelingt es, mit den letzten Strophen wieder an den ersten Teil anzuknüpfen: die Singenden versprechen, Gott zu loben und ihm zu ver­trauen und bitten um Hilfe, Erbarmen und seinen Segen.

Im späten 19. Jahrhundert wurde das Lied häufig gekürzt, so druckte man im »Evangeli­schen Gesangbuch für die Provinz Brandenburg« (1886), im Anhang der geistlichen Volkslie­der, nur sechs Strophen (1-3 und 10-12) ab. Herausgenommen wurde der christologische Mit­telteil. Nach Hermann Kurzke führte diese Kürzung dazu, »dass gleich nach dem Gotteslob vom Volk die Rede ist. Die ,Volk‘-Strophe wurde so zur Zielstrophe des Textes. Damit war dem nationalistischen Verständnis Tor und Tür geöffnet. Der Wegfall der theologischen Miss­brauchssicherung in den mittleren Strophen erlaube es allzu leicht, unter ,Volk‘ nicht das (über­nationale) Volk Gottes, sondern das deutsche Volk zu verstehen, unter dem «Feind» in der­selben Strophe nicht den Satan, sondern zum Beispiel die Franzosen«.(S. 173). In dieser Tradition standen auch die »Deutschen Christen«, die das Lied (mit vier Strophen) in ihr »Ge­sangbuch der kommenden Kirche« (1939) übernommen und 1941 auch als Titel für das Nachfolgegesangbuch verwendet haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Lied mit unterschiedlicher Strophenanzahl in die Regionalteile des Evangelischen Kirchengesangbuchs (ab 1950) aufgenommen: die Spannbreite reicht von drei Strophen in Bremen bis zur vollstän­digen Übernahme der zwölf Strophen in Berlin-Brandenburg und Mecklenburg.

Die Aufnahme der »ö«-Fassung mit 11 Strophen im EG ist nicht nur eine bewusste Abkehr von der nationalen Kontextualisierung und eine Bestätigung des theologischen Bezugs auf das übernationale, christliche Gottesvolk, sondern auch ein Bekenntnis zur Ökumene.

Dr. Konstanze Grutschnig (Evangelische Hochschul- und Zentralbibliothek Stuttgart; Artikel aus dem Newsletter der Einrichtung Juli 2024)

Die TikTok-Intifada - der 7. Oktober und die Folgen im Netz

Unter dieser Überschrift hat die Bildungsstätte Anne Frank (Frankfurt am Main) im Januar 2024 in einer Studie aufgezeigt, wie antisemitische Inhalte seit dem 7. Oktober 2023 eine zu­nehmende Verbreitung im Internet gefunden haben. Seither würden insbesondere soziale Netz­werke eine bedeutende und vielfach unterschätzte Rolle bei der Verbreitung von Terrorpropaganda, Falschinformationen und Verschwörungserzählungen spielen. Die beiden Autorinnen, Eva Berendsen und Dr. Deborah Schnabel, haben den Schwerpunkt der Analyse auf die Online-Plattform TikTok gelegt, das unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen beliebteste und reichweitenstärkste Netzwerk, das Ende 2023 bereits 1,7 Mrd. Nutzer weltweit verzeichnete, davon 1,1 Mrd. regelmäßig aktive. In Deutschland waren es knapp 21 Mio., also fast jede vierte Person. Das junge, erst 2016 gegründete Medium hat auch ein besonders junges Publikum: Knapp 70 % gehören der Altersgruppe 16-24 Jahre an; 60 % der Nutzer sind weiblich.

TikTok bezeichnet sich selbst als Kurz-Video-Content-Plattform und nicht als soziales Netz­werk im »klassischen« Sinne. Wenn man TikTok öffnet, erscheint zunächst die Seite »For You« mit Videos, die vom Algorithmus als sehenswert ausgewählt worden sind. Die Auswahl basiert auf aktuellen Trends (Tänze, Sounds usw.), aber auch auf vom Nutzer früher selbst ausgewählten Seiten und Suchbegriffen. Durch Interaktion mit diesen Videos und Seiten lernt der Algorithmus ständig dazu und passt sein Angebot immer gezielter an. Am Ende steht ein genaues, quasi individuelles Informationsangebot. Das kann hilfreich sein, aber auch in eine negative Abwärtsspirale führen, wenn Nutzer/-innen sich in einer toxischen TikTok-Welt mit Sogwirkung wiederfinden, in der Hass, Gewalt und Verschwörungstheorien dominieren. Das hat nachweislich auch Auswirkungen darauf, wie bedrohlich Nutzer die reale Welt einschätzen.

Die Autorinnen schildern in ihrem Report, welche drastischen Auswirkungen der TikTok-Konsum auf die politische Meinungsbildung der jungen Zielgruppe hat. Sie konstatieren, dass es im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt zwar schon vorher Desinformationskampagnen und eine politische Radikalisierung gegeben habe. Der 7. Oktober hätte hier jedoch wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Sorge bereite vor allem, dass zunehmend junge Menschen in den Sog dieser Verschwörungserzählungen geraten. Die Kurzvideo-Plattform TikTok sei mitt­lerweile zum zentralen Massenmedium einer ganzen Generation geworden, das als Suchma­schine, Nachrichtenquelle, Kontaktplattform, Messenger-Dienst und Unterhaltungsmedium zu­gleich fungiere. Hauptinformationsquelle für die zumeist jugendlichen Nutzer sind dabei Influ­encer/-innen (bei TikTok Creator/-innen genannt), die für die Jugendlichen die Funktion von Journalisten, Entertainern und »Welterklärern« einnehmen - und dies nicht selten in Personal­union. Auf diese Weise sei TikTok ein Eldorado des Microlearnings geworden - im Guten wie im Schlechten: In kurzen und prägnanten Videos vermitteln immer mehr Creator/-innen Wissen und animieren die Nutzer dazu, den eigenen Lernhorizont zu erweitern. Allerdings haben die Autorinnen der Studie festgestellt, dass in Bezug auf den 7. Oktober eine Flut fragwürdiger und offen demagogischer Inhalte entstanden sei, die die schon bisher problematischen Ten­denzen sozialer Netzwerke erheblich verstärkt habe. Verhängnisvoll wirke sich insbesondere aus, dass soziale Medien heutzutage globale Konflikte blitzschnell, ungefiltert und unkommen­tiert (bzw. falsch kommentiert) ins Haus transportierten, einschließlich Gewaltszenen und Lü­genpropaganda, ohne jegliche journalistische Qualitätskontrolle. Die fragwürdigen Inhalte ver­breiteten sich im Netz rasant und würden dort quasi in Echtzeit zum Gesprächsthema. Richtig­stellungen und Korrekturen seien kaum noch möglich, zumal das Netz bekanntlich nichts ver­gisst. Weit verbreitet ist nach der Studie auf TikTok auch die Verbreitung von Hassreden (»Hate-speech«), obwohl die Plattform sich dem EU-Kodex dagegen angeschlossen und ent­sprechende Selbstverpflichtungen abgegeben habe. Laut eigenen Angaben hat das Netzwerk in einem Jahr rund 100 Mio. Videos von der Plattform entfernt, die nicht den Richtlinien entsprochen hätten. Dennoch sei der Nachschub an Hassreden und politischer Indoktrination nach Einschätzung der Autorinnen ungebrochen. Nur am Rande sei bemerkt, dass von den im Bundestag vertretenen Parteien nach Berichten der »Tagesschau« keine die Plattform TikTok intensiver nutzt als Vertreter der AfD.

Die Autorinnen sehen die Gefahr, dass den Worten im Netz Taten auf der Straße, in der Schule und anderswo folgen; dies zeige auch der Anstieg antisemitischer Delikte und Gewalt­taten ebenso wie das schwindende Sicherheitsgefühl jüdischer Menschen in Deutschland. Die politische Bildung habe dem bislang kaum etwas entgegenzusetzen. Der Flut radikalisierender Inhalte begegneten die traditionellen Bildungsträger wie Schulen, Kirchen, Parteien und Ge­werkschaften nach wie vor eher zaghaft. Dabei biete gerade die digitale Bildungsarbeit enorme Chancen, um junge Menschen über ihr Lieblingsmedium zu erreichen. Es liege letztlich an uns allen, TikTok und andere Social Media Plattformen nicht allein den »Hasspredigern« und »Brandstiftern« zu überlassen. Erschreckend sei dabei, dass die Plattform TikTok im offiziellen politischen Diskurs praktisch nicht vorkomme bzw. von den Entscheidungsträgern nicht proble­matisiert werde. Entweder würden relevante politische Akteure auf einen eigenen Account verzichten oder es werde eine im Vergleich zu etablierten Creator/-innen nur verschwindend geringe Reichweite erzielt. Die Verfasserinnen des Reports kommen zu einem ernüchternden Ergebnis: »Während Rechtsradikale das Medium souverän, entschlossen und mit hegemon[a­lem Anspruch bespielen, führen die Verteidiger/-innen der Demokratie nicht einmal ein solides Rückzugsgefecht.« (S. 16)

Die Studie enthält zahlreiche Beispiele in Wort und Bild, wie seit dem 7. Oktober 2023 ge­waltverherrlichende, antisemitische und israelfeindliche Inhalte auf TikTok verbreitet worden sind. Erschreckend sind auch die wiedergegebenen Reaktionen aus dem Schulbereich: So wird eine 16-jährige Schülerin mit der Aussage zitiert, dass Israel den Terrorangriff selbst geplant oder zumindest zugelassen habe. Ein 14-jähriger Schüler griff eine Lehrkraft verbal an: »Wenn Sie Jüdin wären, würde ich Sie sofort an Ort und Stelle abstechen, denn das verdienen Juden«. Viele Schüler wollten sich überdies nicht mehr in den deutschen Medien informieren, weil diese zu einseitig berichten würden.

Die Studie kann von der Seite der Bildungsstätte Anne Frank kostenfrei heruntergeladen werden.

Jörg Klingbeil

AUS DEM ARCHIV

Zur »Globalgeschichte« der Schwaben gehören auch die Templer

Das Institut für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften an der Uni­versität Tübingen veranstaltet seit einigen Jahren ein Studium Generale und veröffentlicht die Vorträge anschließend in der Reihe »landeskundig - Tübinger Vorträge zur Landesgeschich­te«. Inzwischen wurde die Reihe zeitlich und thematisch ausgeweitet, um ein Panorama der vielfältigen Verbindungen Schwabens in die Welt von der Antike bis ins 21. Jahrhundert bieten zu können. »Schwaben und die Welt - Globalgeschichte(n) einer Region« heißt das Werk, das 12 Beiträge aus dem Wintersemester 2022/23 beinhaltet, darunter (S. 203 - 220) auch einen Aufsatz von Prof. Dr. Sabine Holtz (Universität Stuttgart), der sich mit der Templergeschichte befasst. Unter der Überschrift »Württemberg in Palästina - technologische und kulturelle Ver­flechtungen (1850 - 1920)« werden im wesentlchen Forschungsergebnisse aus der von Holtz betreuten Dissertation von Michèle Wrobel präsentiert; über dieses Promotionsvorhaben hat­ten wir schon in der »Warte« vom April 2018, S. 62, kurz berichtet. Da unser Archiv Bildmate­rial beigesteuert hatte, wurde uns das Buch mit dem originellen Titelbild freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Schwaben und die Welt (Quelle: Verlagsgruppe Patmos)
Quelle: Verlagsgruppe Patmos

Der Aufsatz widmet sich (wie bereits die Dissertation) vor al­lem dem Wissenstransfer von Württemberg nach Palästina auf­grund der im Heimatland genossenen Ausbildung am Beispiel von Theodor Sandel (1845 - 1902), Gottlieb Schumacher (1857 - 1925) und Gustav Bauernfeind (1848 - 1904). Der Aufsatz be­schreibt nicht nur die Studieninhalte, sondern auch die wichtig­sten Projekte der Protagonisten, die als Beispiele für eine tech­nologische (Sandel, Schumacher) bzw. kulturelle (Bauernfeind) Verflechtung aufgeführt werden. Dass der Wissenstransfer auch in der nächsten Generation weiterging, wird anhand der Kinder belegt, die ebenfalls zum Studium nach Württemberg gingen. Ein ähnliches Muster hinsichtlich Ausbildung und Heirat stellt die Au­torin auch bei der Familie des Gründers des Syrischen Waisen­hauses, Johann Ludwig Schneller, fest, dessen Söhne und Enkel Brückenbauer zwischen dem Heiligen Land und ihrer deutschen Heimat blieben.

Auch wenn unser Fokus naturgemäß auf der in dem Buch ge­schilderten Templergeschichte liegt, soll das breite Themenspektrum des Gesamtwerks nicht unerwähnt bleiben. So kann man zum Beispiel in dem chronologisch gegliederten Buch etwas über die religiöse und kulturelle Vielfalt in Südwestdeutschland zur Römerzeit oder über die Darstellung dunkelhäutiger Herrschergestalten in mittelalterlichen Kirchen erfahren. Lesens­wert sind auch die Berichte über die Reise des Ulmer Predigers Felix Fabri im 15. Jahrhundert ins Heilige Land und zum Sinaiberg, über Taufen von Kriegsgefangenen und Sklaven im 17. und 18. Jahrhundert, über pietistische Missionsnetzwerke in Südindien ab dem 18. Jahrhun­dert sowie über die koloniale Forschung und Lehre an der Universität Tübingen, die die deut­sche Kolonialpolitik am Ende des 19. Jahrhunderts zu legitimieren suchte. Ein bedrückendes Kapitel ist auch der Organisation der NS-Zwangsarbeit und den Schwierigkeiten gewidmet, denen sich heute die historische Archäologie bei der Erforschung der wenigen verbliebenen Spuren gegenübersieht. Das Schlusskapitel schließlich behandelt die Arbeitsmigration nach Stuttgart und Rekrutierungsmethoden der einheimischen Arbeitgeber.

Alles in allem ein interessantes Buch, das - ebenso wie die Dissertation von Michèle Wrobel - gerne im Archiv ausgeliehen werden kann.

Jörg Klingbeil

Aktuell
Dankfest mit Mitglieder­versammlung
Regionaltreffen des Bundes für Freies Christentum
Gemeindefreizeit in der Jugendherberge Sigmaringen
Interessante Veranstaltungen im Hospitalhof
»Advent am Rathaus«