Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 178/10 - Oktober 2022

 

 

Herbst - Nikolaus Lenau

Rede von Jakob Prinz zum Dankfest am 15.10.1911 - Jakob Prinz

Die Gemeinde als Leib Christi - Jörg Klingbeil

Mein persönliches Bekenntnis zum Tempel - Peter Lange

Peter Lange wird 90 - Mark Herrmann/Jörg Klingbeil

»Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen« - Karin Klingbeil

Herbst

Rings ein Verstummen, ein Entfärben:

Wie sanft den Wald die Lüfte streicheln,

Sein welkes Laub ihm abzuschmeicheln;

Ich liebe dieses milde Sterben.

Von hinnen geht die stille Reise,

Die Zeit der Liebe ist verklungen,

Die Vögel haben ausgesungen,

Und dürre Blätter sinken leise.

Die Vögel zogen nach dem Süden,

Aus dem Verfall des Laubes tauchen

Die Nester, die nicht Schutz mehr brauchen,

Die Blätter fallen stets, die müden.

In dieses Waldes leisem Rauschen

Ist mir als hör’ ich Kunde wehen,

dass alles Sterben und Vergehen

Nur heimlich still vergnügtes Tauschen.

Nikolaus Lenau

Rede von Jakob Prinz zum Dankfest am 15.10.1911

Im Jahre 1911 stand das Dankfest in Sarona ganz im Zeichen der Einweihung des neuen Ge­meindehauses. Es war extra um eine Woche verschoben worden, damit auch die Bewohner der anderen Kolonien Gelegenheit bekamen, nach Sarona zu kommen. Die Nachmittagsver­anstaltung, ein fröhlich-dankbares Beisammensein, wurde durch eine Ansprache von Jakob Prinz eingeleitet:

... Anschließend trug der Bläserchor ein Stück vor, nach welchem Herr Prof. Prinz zur Redner­bühne trat und zur Versammlung redete:

Einweihung des Neuen Gemeindehauses Sarona 1911 (Quelle: Archiv der TG)
Quelle: Archiv der TG

»In dem Losungstext für das heutige Dankfest heißt es: Und du sollst fröhlich sein auf deinem Fest, du und dein Sohn und deine Tochter, dein Knecht und deine Magd, der Levite und der Fremd­ling, die Waise und die Witwe, die in deinen Toren sind.

Diese Worte eignen sich auch als Weihespruch für die Einweihung des neuen Hauses, die wir heute feiern; denn sie geben die Stimmung an, aus der der Bau hervorgegangen ist, sie bezeichnen die Hoffnungen und Wünsche, die an den Bau geknüpft werden. Fröhlich soll man in diesem Hause sein; des Lebens soll man froh werden darin; der Freude soll es geweiht sein, diesem schönen Götterfunken, von dem es heißt:

Deine Zauber binden wieder,

Was des Lebens Kampf geteilt,

Alle Menschen werden Brüder,

Wo dein sanfter Flügel weilt.

Und was ist dieser Götterfunke der Freude, der die Menschen zu Brüdern vereint und sie aus dem Staub des Alltagslebens, aus dem Kampf ums Dasein in eine reinere, heitere Luft emporhebt? - Die Freude ist der Widerhall des Glücks in unseren Seelen. Das höchste Glück aber, die schönste Freude durchklingt die Menschenbrust, wenn im lebendigen Seelenverein die Funken des geistigen Lebens sich entzünden und zu erglühen beginnen. Die echte Freude ist also eine Blüte des geistigen Lebens. Und der Pflege dieser schönsten Blume im Menschenleben, der Pflege des geistigen Lebens soll auch dieses Haus gewidmet sein. In den Nebenräumen, die zur Schule bestimmt sind, soll die Geistesblüte der Jugend entfaltet wer­den. Im Mittelraum, der als Vereinslokal gedacht ist, wollen sich die Erwachsenen und Alten zusammenfinden, um nach des Tages Müh und Lasten geistige Anregung zu suchen und Mut des reinen Lebens zu trinken. Und wenn die beweglichen Mittelwände weggenommen werden, und der Raum sich erweitert, um die ganze Gemeinde mitsamt ihren Gästen zu fassen, dann sollen auf frohen Festen heitere Reden und Gesänge emporklingen zum Spender aller Freu­den. So will also das Haus ein Tempel heiterer Eintracht und Geselligkeit werden, ein Sam­melplatz, wo der Mensch den Menschen findet und ein Band sie all‘ umwindet.

Es ist ein tröstliches Zeugnis für den Geist, der in der Gemeinde lebt, dass sie über die Ma­genfragen hinaus auch noch Sinn hat für Geistes- und Seelenfragen, dass sie sich ent­schließen konnte, neben die wirtschaftlichen Gebäude auch noch ein Gebäude für so schöne ideale Zwecke zu stellen.

Was ist das eigentümlich Imponierende am Haus? - Die Dauer. Diese Dauer steht uns auch bei dieser Einweihung vor Augen und regt Ewigkeitsgedanken an. Auch dieses Haus wird menschlicher Berechnung nach nicht bloß uns, sondern Generationen überdauern. Und da drängt sich uns zunächst der Gedanke auf, wie lange werden wir, die wir heute so fröhlich hier beisammen sitzen, uns noch freuen in diesem Haus bei heiteren und ernsten Reden, wie lange werden wir noch singen und musizieren, bis wir verstummen, das Instrument hinwegle­gen und hinausziehen, jeder ins eigenste, dunkle, stille Haus? Und wenn wir uns hineindenken in die Zukunft, welche Gesichter werden hier in Festesfreude erglänzen, um dann auch wieder hinauszuziehen und andern Platz zu machen? Welche Reden, welche Lieder, welche Melo­dien werden hier erklingen? Wir können’s nicht wissen und nicht bestimmen. Wir können nur wünschen und hoffen. Und da sind wir in Wunsch und Bitte wohl alle einig, dass der gute Geist als Hausgeist in diesen Räumen bleibe, der uns überhaupt auf diesen Hügel geführt und auch dieses Haus hat erbauen lassen. Dann wird uns dieser gute Hausgeist auch mit den alten Vätern, Brüdern und Schwestern, die uns diesen Geist übermittelt haben, und auch mit den künftigen Geschlechtern, denen wir den Geist übermitteln möchten, in Verbindung erhalten und unserer kurzen Freude eine dauernde Wirkung ermöglichen.«

Jakob Prinz, »Warte des Tempels« Nr. 48, 30.11.1911

 

An dieser Stelle schließen wir den Nachruf auf Jakob Prinz aus der »Warte des Tempels« Nr. 9, 15.05.1926 an. Er war Gemeindeleiter und Lehrer in Sarona. Einen ausführlicheren Lebens­lauf dieser interessanten Persönlichkeit wird Birgit Arnold, die seine Familiengeschichte er­forscht und uns auf beide Beiträge hingewiesen hat, zu einem späteren Zeitpunkt veröffentli­chen. Sie sucht noch nach Informationen über die beiden Kinder Röschen (Rosine), geboren 11.03.1890 in Tempelhof, und Viktor (26.04.1899 in Pjatigorsk - 13.04.1987 in Schwäbisch Hall).

Jakob Prinz †

Grabstein Jakob Prinz (Foto: Birgit Arnold)
Foto: Birgit Arnold

Am 24. März ist im Bürgerheim in Tübingen Jakob Prinz, ein Freund der Tempelgesellschaft und Mitar­beiter der »Warte des Tempels«, von seinem lang­jährigen Leiden erlöst worden. Die Vorfahren von J. Prinz sind vor etwa 100 Jahren von Württemberg (OA Backnang) nach Südrussland ausgewandert. In Neuhoffnung am Asowschen Meer wurde J. Prinz 1851 geboren. Seine Eltern gehörten den von Pfar­rer Wüst geleiteten Separatistengemeinden an, die, als die »Süddeutsche Warte« Kunde von der sich bildenden Tempelgesellschaft brachte, in freund­schaftliche Fühlung mit dieser traten. Das hatte zur Folge, dass J. Prinz mit einigen anderen jungen Leuten aus den schwäbischen Kolonien Südrusslands zur weiteren Ausbildung nach Jaffa ge­schickt wurde, wo Christoph Hoffmann soeben seine höhere Lehranstalt gegründet hatte. Nachdem Prinz dieses »Institut« durchlaufen hatte, kehrte er nach Russland zurück und be­suchte dort die Universität in Petersburg. 1883 wurde er dann, zusammen mit einigen Schul­kameraden aus dem Institut in Jaffa, von der Tempelgemeinde »Tempelhof« am Kaukasus an die dortige neugegründete Schule berufen, die durch die vereinigten Anstrengungen der von ihrer Aufgabe begeisterten Lehrer zu einer höheren Schule (Progymnasium) umgebildet wur­de. Ums Jahr 1890 trat Prinz vom Dienst an dieser Schule zurück und trat in den russischen Staatsschuldienst ein. Er wirkte 15 Jahre lang am Progymnasium in Pjatigorsk und ließ sich dann pensionieren. 1909 siedelte Prinz mit seiner Familie nach Palästina über und wirkte hier als Gemeindeleiter und Lehrer in der Tempelkolonie Sarona bei Jaffa. Kurz vor dem Krieg nahm er seinen Wohnsitz in der Schweiz, wo ihn auch der Weltkrieg überraschte und mehrere Jahre in größte finanzielle Schwierigkeiten brachte. Als Prinz nach dem Krieg nach Württem­berg kam, entriss ihm der Tod seine treue Lebensgefährtin, und ein Schlaganfall warf ihn selbst aufs Krankenlager und hielt ihn jahrelang daran gefesselt. Im neugegründeten »Bürger­heim« fand Prinz liebenswürdige Aufnahme und jahrelange treue Pflege.

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Die Gemeinde als Leib Christi

(1. Korinther 12,12-31)

Als sich der Apostel Paulus auf seiner dritten Missionsreise in Ephesus aufhält, erfährt er von Streitereien in der von ihm zuvor gegründeten Gemeinde von Korinth. Er versucht dem mit mehreren Briefen entgegenzuwirken. Im ersten Brief geht es um ein bis heute - nicht nur für Religionsgemeinschaften, sondern für die ganze Gesellschaft - zentrales Thema: Wie können Menschen unterschiedlicher religiöser und ethnischer Herkunft gut miteinander auskommen? Wie viel Verschiedenheit hat man auszuhalten, wie viel Einheitlichkeit ist wirklich erforderlich?

Offenbar hatte es in der jungen christlichen Gemeinschaft von Korinth erhebliche Rivalitäten zwischen einzelnen Gruppen gegeben. Vor allem vertraten einige früh ein schwärmerisches Christentum und erachteten die »Gaben des Geistes« wie die »prophetische Rede« (und sich selbst) für besonders wichtig. Das erinnert übrigens durchaus an Differenzen in der jungen Tempelgesellschaft im 19. Jahrhundert.

Für Paulus sollen die Gemeindemitglieder wie ein Leib in Christus, in seinem Geiste und vereint durch die Taufe, zum Wohle des Ganzen harmonisch zusammenwirken, so unter­schiedliche Begabungen und Funktionen sie auch haben. Auch für die Gründer und die Tem­pelgesellschaft überhaupt hatte die »Gemeinde« immer eine große Bedeutung. Für Christoph Hoffmann verkörperten die jungen Christengemeinden das Ideal. Er war überzeugt, dass die jungen Christen noch so vom Geist Gottes erfüllt waren, dass sie - wie Paulus es beschreibt - Gottes Willen authentisch verkündigen konnten. Deshalb waren die Apostelbriefe für ihn min­destens genauso wertvoll wie die Evangelien.

Was das Thema »Gemeinde« angeht, so konnte sich Hoffmann eigentlich kaum auf Jesus selbst berufen. Nur im Matthäus-Evangeliums geht es einmal knapp um das Gemeindeleben, nämlich um den Umgang mit Sündern unter den Gemeindemitgliedern - bis hin zum Aus­schluss. Zu Jesu Zeiten gab es aber noch keine Gemeinden, aus denen man hätte aus­ge­schlossen werden können. Insofern scheinen die Aussagen zum Gemeindeleben bei Matthäus einen späteren Einschub darzustellen. Jesus dagegen zog übers Land, predigte allen, die zu­hören wollten, und vertraute offenbar darauf, dass die Saat schon aufgehen werde. Er wollte wohl das Judentum reformieren, aber kaum Gemeinden eines neuen, vom Judentum abge­grenzten Glaubens gründen. Sein eigenes Gedankengut wurde später überlagert von einer Dogmatik, die sich schon früh, vor allem durch Paulus, von dem gelöst hat, was wir als Lehre des Jesus von Nazareth bezeichnen und in den Evangelien noch erkennen können. Dessen ungeachtet spricht auch uns das Idealbild von dem einen Leib mit seinen unterschiedlichen Gliedern an; die im Interesse des Ganzen zusammenwirken und von einem Geist beseelt sind.

Jörg Klingbeil

Mein persönliches Bekenntnis zum Tempel

Als Peter Lange 1992 das »Templer-Handbuch« erarbeitete, schrieb er in der Einleitung zu seiner Motivation dieser Herausgabe:

... Ich habe diese Textsammlung nicht zuletzt deshalb in Angriff genommen, weil ich meinen ei­genen Beitrag zum Verständnis unserer Gemeinschaft leisten will. Ich stehe bei der Tempelge­sellschaft seit 32 Jahren in der Verantwortung als Mitglied der Gebietsleitung, seit 21 Jahren arbeite ich im Ältestendienst mit, 13 Jahre lang war ich Gemeindeleiter und seit 9 Jahren bin ich im Amt des Gebietsleiters. In all diesen Jahren wurde mir von den Mitgliedern großes Vertrauen entgegengebracht. Ich fand vielfache Unterstützung und Ermutigung. Ich habe mir immer wieder die Frage vorgelegt, ob ich denn wirklich in der Lage bin, dieses Vertrauen zu rechtfertigen. Was ist es, das ich wirklich zu dem angefangenen Werk beitragen kann?

Meine eigenen Erlebnisse der Tempelgemeinden alten Zuschnitts sind minimal (ich habe Palästina im Alter von 10 Jahren verlassen), und theologische Studien fehlten in meiner Aus­bildung ganz. In meiner Sturm- und Drangphase gehörte ich zu den Kritikern der Tempel­führung und zweifelte an dem Weg, den die Gemeinde damals ging. Je mehr ich mich jedoch mit anderen Mitgliedern über die Tempelgesellschaft auseinandersetzte und je mehr ich ihre Einstellung kennenlernte, desto mehr fühlte ich mich von dieser Gemeinschaft angezogen. Es beeindruckte mich, wie die Verantwortlichen trotz oft widrigster Umstände an ihrem Glauben festhielten.

Vielleicht war es das überzeugende Beispiel einiger leitender Persönlichkeiten, das mich in­nerlich dazu brachte, das Anliegen des Tempels selber voll und ganz zu vertreten. Es lässt sich wohl nicht rational erklären: Der Geist und das Vermächtnis der Vorväter mag dazu beige­tragen haben, ebenso das Gefühl von Wärme, Aufgeschlossenheit und Verbundenheit, das ich in der Begegnung mit Templerfreunden spürte - jedenfalls wurde mir klar, dass der Tempel­glaube ein geistiges Gut ist, für das es sich einzusetzen lohnt.

Allerdings: ein überzeugter Glaube kann aus dem reichen geistigen Erbe der Vorväter nur dann werden, wenn eigene Lebenserfahrungen hinzukommen und das Überlieferte untermau­ern. Die Glaubenszeugnisse der Vorgenerationen haben die Aufgabe, unsere Sinne - beson­ders die »inneren« - zur Erkenntnis von Gottes Wirklichkeit zu schärfen; die Sinne gebrauchen müssen wir aber selber. Wenn uns nicht auf diese Weise »die Augen geöffnet« werden, laufen wir Gefahr, trotz guter Sehkraft »blind« durchs Leben zu gehen.

Ich bekenne gern, dass die biblischen Schöpfungsberichte oder so manches meisterhafte Gedicht und Lied mir meine Augen geöffnet haben. Auch manche Erkenntnisse der naturwis­senschaftlichen Forschung haben dazu beigetragen, dass sich ein Gespür für die in allem wal­tende Schöpferkraft in mir entwickelte. Dass sich Leben - wohin man schaut - in tausend­fachen Ausprägungen verwirklichen will, weist doch auf eine Urkraft, einen »Antrieb« seit Urzeiten hin, der auch heute wirkt und noch bis in ferne Zeit wirken wird.

Und nicht nur die allgegenwärtige Schöpferkraft ist es, die ich um mich herum wahrnehme und durch die ich selbst als Wesen entstanden bin, sondern es kommen andere Erfahrungen hinzu: die Erfahrung etwa, dass meine eigene Lebensplanung nicht immer aufgeht und ich manchmal auf einen anderen Weg gelange als den von mir anvisierten, und dass der andere Weg mir überraschenderweise neue »Möglichkeiten« bietet. Oder die Erfahrung, dass ich trotz vielerlei Gefährdungen der persönlichen Existenz immer wieder bewahrt werde. Oder die Erfahrung von Liebe, Zuwendung, Anhänglichkeit, Treue, Freundschaft, Fürsorglichkeit ande­rer Menschen - Gefühle, die ich meinerseits erwidern kann, so dass sich enge seelische Be­ziehungen ergeben, die mein Leben erfüllen und bereichern.

Das sind doch alles keine Selbstverständlichkeiten. Dass ich mit einem Freund, mit meinen Eltern, meinem Ehepartner, meinen Kindern ein tiefes inneres Verhältnis pflegen kann, ist doch etwas Wunderbares. Es ist ein Erleben, für das es wohl nur die eine Erklärung geben kann, dass ein über uns waltendes göttliches Wesen in uns das Gefühl der gegenseitigen Ver­bundenheit als Lebenssinn eingepflanzt hat. Liegt es da nicht an uns, diesem Lebenssinn zu entsprechen und unsere inneren Beziehungen zu anderen Menschen zu entwickeln und zu fördern?

Und wenn ich - je älter ich werde - immer mehr Menschen aus meiner Umgebung durch den Tod aus diesem Leben gehen sehe: Auch diese Erkenntnis der Endlichkeit alles irdischen Seins ist eine Erfahrung, vor der man entweder die Augen verschließen oder die man als eine Bestimmung oder als Erfüllung annehmen kann.

Unser Dasein ist zwar begrenzt, es ist aber dadurch nicht wertlos. Es entfaltet eine Wirk­samkeit über diese kurze Zeitspanne hinaus. Wir selbst sind geprägt von den Generationen vor uns - oft ohne dass es uns bewusst wird - und strahlen unsererseits auch wieder auf die Menschen unserer Umgebung und auf zukünftige Generationen aus. Ich glaube fest daran, dass jedes Wesen auf der Welt eine eigene Wirkung entfaltet und dass sich diese Wirkung durch die Zeiten hindurch fortsetzt. Wir können als hervorstechendes Beispiel Jesus von Nazareth nehmen, der lediglich ein paar Jahre lang predigend durch Palästina zog, ohne dessen Wirkungsgeschichte es aber heute keine Christen, keine Protestanten und keine Templer geben würde, und ohne die ich nicht daran gegangen wäre, dieses Handbuch zu verfassen. Im Grunde ist Kultur und Zivilisation überhaupt nur denkbar durch die vielfältigen »Nach«-Wirkungen längst vergangener, uns nicht mehr bekannter Menschen.

Die Wissenschaft lehrt uns, dass allem Geschehen im Universum eine »Entwicklung« zu Grunde liegt. Unsere Erde ist einstmals aus einem Gasnebel hervorgegangen, und ständig bilden sich im Weltall aus Gasnebeln weitere Himmelskörper. Aus glühenden Sternen trennen sich Planeten ab und erkalten. Damit setzt die Möglichkeit der Entwicklung organischen Lebens ein. Primitive einzellige Pflanzen und Tiere führen zu immer komplexer aufgebauten Lebewesen und letztendlich zum frühen Menschen. Dieser lebt unbehaust und muss den Tag mit Nahrungssuche verbringen. Nach einer weiteren Zeitspanne schließt er sich zu Sippen und Gemeinschaften zusammen und entwickelt eine Kultur.

Aus all diesem Wissen ergibt sich für uns die Erkenntnis, dass diese Kette von Ereignissen eine Richtung hat und dass es einer auslösenden Willenskraft bedurft hat, diese Richtung zu bestimmen. Nun ist mein eigenes Leben ein Teil dieses Weltganzen, also muss diese Ent­wicklung auch in ihm und in dem meiner Mitmenschen wirksam sein. Im Unterschied zu Tier und Pflanze habe ich als Mensch ein Quäntchen Mitbeteiligung an dieser Fortentwicklung erhalten. Ich kann einen eigenen - wenn auch sehr kleinen - Beitrag leisten zur Weiterent­wicklung in Richtung auf eine immer höhere geistige Existenz des Menschen hin. In der alten religiösen Sprache hieß das: »nach dem Reich Gottes trachten«.

Gott ist für mich der Ausgangspunkt der Welt, und er bestimmt ihr Ziel. Seine Schöpferkraft ist in mir wirksam, und sein Geist leitet mich auf meinem Lebensweg und lässt mich - wenn ich danach suche - erkennen, welche Aufgabe ich in diesem Erdenleben zu erfüllen habe.

Solchen Glauben haben die frühen Templer überzeugend demonstriert und unter Beweis gestellt. Es geht in der heutigen Zeit darum, dass er wieder reaktiviert werden muss, nicht nur im Rahmen unserer engeren Gemeinschaft, sondern auch darüber hinaus. Sich als ein von Gott »Geschaffener« zu empfinden, führt konsequenterweise auch dazu, sich ihm gegenüber im eigenen Leben zu verantworten.

Unsere kleine Gemeinschaft kann viel aus ihrem geistigen Erbe schöpfen. Wir sind aufgeru­fen, in einer Welt, die immer gottloser zu werden droht, unseren Beitrag für ein gottverantwor­tetes Leben einzubringen. In der Rückbesinnung auf die glaubensstarken Templer der Vergan­genheit und im Vertrauen darauf, dass gute Freunde uns auf unserem Weg begleiten, werden uns neue Kräfte zufließen. Aber nicht das »Sonnen im Glanz vergangener Tage« ist mit dieser Rückbesinnung gemeint, sondern der Anstoß zur Aktivierung der eigenen Möglichkeiten. »Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.«

Stuttgart, im Sommer 1992, Peter Lange, Gebietsleiter der Tempelgesellschaft in Deutschland

Peter Lange wird 90

Als derzeitiger Tempelvorsteher der Tempelgesell­schaft - und im Namen der Gebietsleitung, der Ältesten und der TSA-Mitglieder - gratuliere ich Pe­ter Lange sehr herzlich zu seinem 90. Geburtstag in diesem Monat.

Obwohl Peter in Deutschland lebt, ist er sehr vie­len Templern in Australien wohlbekannt, hat er doch in den 1950ern eine längere Zeitspanne hier ver­bracht und dann durch seine führenden Ämter in der TGD und für die Tempelgesellschaft insgesamt über Jahrzehnte. Allein in der Zeit, als er Tempel­vorsteher war (2001-2007), besuchte Peter die TSA aus vier Anlässen.

In seiner offiziellen Vorstellung als Tempelvorsteher im Templer Record (dem Vorgänger des Templer Talk) wies Peter darauf hin, dass sein Dienst am Tempel durch das leuchtende Bei­spiel anderer (älterer) Templer veranlasst worden sei und von der Überzeugung, dass sein Leben seine Erfüllung in solchem Bemühen finden könne. Ich bin davon überzeugt, dass Peter selber durch sein unentwegtes, hingebungsvolles Engagement bei den unzähligen Aufgaben, die er übernommen hat, für viele eine Inspiration war (und weiterhin ist):

Indem er zunächst als Vertreter der Jugendgruppe den Sitzungen der Gebietsleitung bei­wohnte, dann als gewähltes Mitglied und langjähriger Gebietsleiter, in Verbindung mit um­fangreichem ehrenamtlichem Dienst als Ältester und Herausgeber der Warte, der Arbeit im Archiv und an der Templer-Genealogie.

Indem er die Ältesten und Mitarbeiter eines Gebiets ermutigte, Zeit im anderen zuzubringen, und dadurch unsere Verbindung festigte.

Indem er Richtlinien für die Ältesten erstellte, Gottesdienste abhielt, regelmäßig bei Veröf­fentlichungen mitwirkte und Glaubensdiskussionen leitete.

Indem er ein breites Spektrum von Literatur über den Templerglauben und die Tempelge­meinschaft initiierte.

Wie er selber sagte: »Wir müssen wissen, wer wir sind und was wir wollen, und in der Lage sein, dies unseren jungen Leuten und Nicht-Templern verständlich zu machen.«

In beiden Gebieten war Peter bei Veranstaltungen der Tempelgesellschaft immer präsent, und indem er Verbindungen mit vielen Templern aufbaute und auch wiederherstellte, ist es ihm möglich, sich konstruktiv auf Menschen jeden Alters einzulassen. Dies ist nicht zuletzt auf Peters Fähigkeit zurückzuführen, wirkungsvoll zu kommunizieren - sowohl im Gespräch als auch schriftlich - und so uns allen zu ermöglichen, von seiner Einsicht und seinem Wissen, seiner nachdenklichen Entschlossenheit und seiner aufrichtigen Begeisterung für die Tempel­gesellschaft zu profitieren.

Mit seinem selbstlosen Bemühen und seinem geschätzten Ratschlägen hat er immer da­nach gestrebt, uns zu vereinen und zu gegenseitigem Verständnis und zur Zusammenarbeit beider Gebiete beizutragen.

Mark schließt auf Deutsch:

»Wenn der Schwabe mit 40 Jahren gescheit wird, dann muss Peter jetzt sehr gescheit sein!

Lieber Peter, herzlichen Glückwunsch zum 90. Geburtstag und wir wünschen Dir nur das Aller­beste!«

Mark Herrmann (Übersetzung: Karin Klingbeil)

 

Als derzeitiger Gebietsleiter der Tempelgesellschaft in Deutschland schließe ich mich den Glückwünschen des Tempelvorstehers Mark Hermann auch im Namen der Gebietsleitung und unserer hiesigen Mitglieder gerne an. Peter hat zwar bereits im Vorfeld zu erkennen gegeben, dass er keine besondere Würdigung wünsche, aber bei solchen Geburtstagen müssen die Betroffenen einfach aushalten, wenn andere ihre Wertschätzung für das Geburtstagskind zum Ausdruck bringen. Es ist eben ein typischer Wesenszug von Peter und Ausdruck seiner großen Bescheidenheit, dass er von seiner eigenen Person kein besonderes Aufhebens macht.

 

Ich habe Peter in den letzten 20 Jahren durch sein Engagement - insbesondere im Ältesten­kreis, im Sprecherdienst bei Gemeindeveranstaltungen, als Tempelvorsteher und auch im Ar­chiv - stets als vorbildlichen Templer erlebt, der den Grundgedanken der Templer, wonach »Tat mehr ist als Worte«, geradezu idealtypisch verkörpert. Seine natürliche Autorität beruht auf seiner Fähigkeit zur zwischenmenschlichen Kommunikation und Interaktion und nicht auf formalen Strukturen. Sein Fleiß war und ist beispielhaft, was nicht zuletzt in seinen zahllosen schriftlichen Beiträgen zum Templerglauben und zur Templergeschichte zum Ausdruck kommt. Durch seine gelebte Überzeugung vom Templerglauben hat er uns allen immer wieder wich­tige Impulse und Orientierung gegeben. Dafür drücken wir ihm unseren aufrichtigen Dank aus.

Im Laufe der Jahre mögen sich seine Tätigkeitsschwerpunkte verändert haben: War es an­fangs noch die Jugendarbeit, die Peter auch in der Gebietsleitung vertrat, so war es später der Ältestenkreis, der Sprecherdienst sowie die Schriftleitung der »Warte«. Die Funktion des Ge­bietsleiters und das Amt des Tempelvorstehers ergaben sich daraus gewissermaßen als fol­gerichtige Höhepunkte. Sein Interesse an der Templergeschichte und an der Ahnenforschung haben ihn schließlich zum Archivleiter prädestiniert. Alle diese Aufgaben hat er mit großem Engagement und - sicher allzu oft - unter Zurückstellung eigener privater Belange wahrgenom­men.

Wir wünschen Peter für die Zukunft alles Gute, vor allem Gesundheit. Möge er uns allen weiterhin mit seinen Ideen und seiner Überzeugungskraft zur Seite stehen.

Jörg Klingbeil

BUCHVORSTELLUNG

Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen

Fragen nach Gott

Jeder soll von da,
 wo er ist,
 einen Schritt näher kommen - Fragen nach Gott (Quelle: Carl Hanser Verlag)
Quelle: Carl Hanser Verlag

Das Buch von Navid Kermani, 2022 im Hanser Verlag erschie­nen, stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Anlass war das Versprechen an seinen sterbenden Vater, seiner Tochter, die auf dem Gymnasium am katholischen Religionsunterricht teil­nimmt, den Islam zu lehren. Dabei ging es ihm nicht um Gebote und Verbote, Schriften, Gebete, Feste und Sitten, sondern um das, worum es dem Islam eigentlich geht und wie er die Religiosi­tät der eigenen Familie, die 1959 aus dem Iran geflohen war, ge­prägt hat.

Doch es geht Kermani auch ganz wesentlich um das verbin­dende Anliegen aller Religionen, „also weshalb wir von uns sa­gen, dass wir an Gott glauben“ (S. 7). Er versucht, sich dem an­zunähern, was oder wer Gott ist - also etwas zu beschreiben, das sich nicht beschreiben lässt. Er bemüht Vergleiche wie die Un­endlichkeit, den Atem, die Natur, die Wahrheit und den Urgrund allen Seins - und schließt sich der Aussage des Mystikers Ibn Arabi aus dem 12./13. Jahrhundert an: „Das, was Gott eigentlich ist, bleibt dem Menschen notwendig verborgen, das wird er niemals in Worte fassen können, weil es jenseits der Sprache, der Vorstellung, der menschlichen Erkenntnis liegt.“ (S. 117). Auch die dunkle Seite Gottes - im Christentum die Theodizee-Frage - spart er nicht aus. Immer wieder sucht er die vergleichende Perspektive zwischen den monotheistischen Religionen, besonders zwischen Islam und Christentum.

Es ist ein sehr persönliches Buch mit etlichen humorvollen Zwischenbemerkungen, in dem er auf die altersgemäß kritischen Einwände der zwölfjährigen Tochter eingeht, deren Reflektion ihm aber auch zur selbstkritischen Weiterentwicklung der eigenen Positionen dient. Bevor er zu einem neuen Thema übergeht, greift er jeweils ihre Fragen und Einwände auf und erklärt klar und verständlich, wie alles zusammenhängt. Dazu streut er Verse des Koran ein, die seine Aussagen unterstützen, und bringt dem Leser den Islam auf eine sehr sympathische Art und Weise nahe. Er gesteht aber auch ein, dass es Verse im Koran gibt, die ihn erschrecken. Auf die Frage, warum er selbst Muslim geblieben ist, gibt er die schlichte Antwort, weil er das islamische Bekenntnis, mit dem man Muslim wird, sprechen kann. Die shahada, deren Beja­hung die Zugehörigkeit zum Islam ausmacht, lautet: Es gibt keinen Gott außer Gott und Mo­hammed ist sein Prophet. „Das erste Bekenntnis besagt, dass in allen Erscheinungen dieselbe Kraft wirkt: jenseits der oder genauer gesagt, in der Dualität, mit der wir die Wirklichkeit not­wendig verstehen. In all dieser Verschiedenheit und Widersprüchlichkeit des Lebens gibt es eine Einheit, die alles mit allem verbindet, etwas Untrennbares und Schöpferisches. Das ist damit gemeint, dass es keinen Gott außer Gott gibt, also keine andere Ursache, nur diese eine, schöpferische Kraft: In allen Erscheinungen wirkt das gleiche Prinzip des tauhid, also der Einheit Gottes. Und das zweite Bekenntnis besagt, dass sich uns in all der Verschiedenheit der Erde und der Sterne, der Menschen und Völker diese eine und überall gleiche schöpferische Kraft zeigt, wenn wir nur genau hinsehen - dass Gott sich mitteilt. Denn wenn ich Mohammed anerkenne, erkenne ich im Islam gleichzeitig auch alle anderen Propheten an, die vor ihm ge­sandt worden sind.“ (S. 27f)

Kermani ist zwar Muslim, weil er in einem islamischen Haus geboren wurde, ist aber davon überzeugt, dass Gott in jedem Haus zu finden ist. Aber es komme darauf an, sich einander an­zunähern - das soll auch der Buchtitel aussagen. Es ist der Kernsatz der kurzen (angeblich wahren) Geschichte von einem der berühmtesten islamischen Mystiker des 11. Jahrhunderts: Als Scheich Abu Said einmal nach Tus kam, strömten so viele Gläubige in die Moschee, dass kein Platz mehr blieb. „Gott möge mir vergeben“, rief der Platzanweiser: “Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.“ Da schloss der Scheich die Versammlung, bevor sie begonnen hatte. „Alles, was ich sagen wollte und sämtliche Propheten gesagt haben, hat der Platzanweiser bereits gesagt“, gab er zur Erklärung, bevor er sich umwandte und die Stadt verließ: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.“ (S. 32f).

Aber Kermani spricht auch deutliche Kritik aus: »Das ganze Elend des heutigen Islams lässt sich unter anderem damit erklären, dass ein Großteil unserer Gelehrten die lebendige und da­mit veränderliche Beziehung zum Koran verloren hat«, schreibt er. Die Folgen: Rückständig­keit, Armut, Unvernunft, Humorlosigkeit, Fundamentalismus, Gewalt, Frauenfeindlichkeit ... So ein fast schon abgestorbener Islam hat nichts mehr zu sagen in einer Welt, in der nicht nur die Quantenphysik, sondern nach vielen Kriegen und Völkermorden endlich die Menschenrechte entdeckt worden sind. Dabei fänden die Muslime für beides eine Grundlage im Koran, für die moderne Wissenschaft ebenso wie für Gerechtigkeit in der Politik, ... Denn der Koran preist die Vernunft und erklärt jeden Menschen für gleich. Wenn Religionen ein Weg sind, kann auch der Islam nicht unveränderlich sein.“ (S. 12).

Bei aller Kritik ist der Islam die Religion seiner Wahl, aber seiner Tochter, die in Deutschland aufwächst, rät er, möglichst die Bücher, die für und wider den Propheten sind, selber zu lesen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Ebenso könne sie selber herausfinden, was für oder ge­gen andere Religionen spreche: „Das Buch, das Opa sich gewünscht hat, ist kein Wettbewerb, bei dem am Ende der Islam auf Platz eins landen soll. Solche Bücher gibt es genügend, und Sieger ist zufällig immer die eigene Religion.“ (S. 101). Grundsätzlich ist für ihn Religion keine Nebensache, sondern mindestens ebenso wichtig wie Naturwissenschaft, Geschichte oder Sprache, weil sie hilft, die Welt zu verstehen, egal, ob man selbst gläubig ist oder nicht. „Und überhaupt setzt der Gaube die Freiheit voraus, dass du nicht glauben musst. Was mich beunruhigt, ist das religiöse Unwissen, das sich ausbreitet. Denn so wie der Glaube nur in Freiheit entstehen kann, setzt ihrerseits die Freiheit das Wissen voraus. Wenn du Religion überhaupt nicht kennst, bist du auch nicht frei, dich von ihr abzuwenden. Insofern ist die Freiheit kein Geschenk, sondern eine Aufgabe: nämlich dass du über den eigenen, nun einmal beschränkten Horizont deiner eigenen Welt hinauszublicken lernst.“ (S. 111).

Schließlich geht es konkret um Unterschiede zwischen Islam und Christentum, wobei sich Kermani an die dogmatischen Inhalte wie den Sündenfall, die Erbsünde, die Erlösung durch den Foltertod Christi am Kreuz und die Dreieinigkeit hält. Inhaltlich sei der Abendmahlsritus schwer zu vermitteln und mit dem Gebot der Feindesliebe überfordere das Christentum seine Anhänger schlichtweg. Demgegenüber erscheint der Islam, wie Kermani ihn darlegt, schlichter und lebensnäher, der Korantext unbestritten poetisch. Der islamische bzw. der sufische Jesus ist für ihn das Beispiel für den vollkommenen Menschen schlechthin. „Für die Sufis steht Jesus für ein Vermögen, das in jedem Menschen steckt, nämlich seine eigene Gottnatur zu entfalten“ (S. 163), eine Vorstellung, die der unseren durchaus nahekommt.

Dennoch findet Kermani es wichtig, an den unterschiedlichen Bekenntnissen festzuhalten, weil eine von Differenzen bereinigte Einheitsreligion die Wahrheitspotentiale verliere - Unter­schiedenes bleibt gut. Außerdem gesteht Kermani ein, dass sich Aussagen wie ‚der Islam ist dies, das Christentum will das‘ verbieten, weil es in keiner Weltreligion allseits anerkannte Aussagen gibt - ebenso wie der Islam, den er seiner Tochter zu vermitteln sucht, nur eine Möglichkeit von vielen darstellt, die obendrein von vielen Muslimen abgelehnt würde.

Auch wenn die Tochter mit ihren Einwänden sein Schreibkonzept immer wieder durcheinan­dergebracht hat, ist ihm wichtiger, dass sie weiterhin Fragen stellt, weil nur so eine Auseinan­dersetzung mit jedem Thema erfolgen kann. Als bestmögliche Wirkung des von Vater und Tochter gemeinsam verfassten Buches stellt Kermani sich vor, dass „ein Christ, ein Jude, ein Buddhist oder wer auch immer unser Buch liest, sich auf seine eigene Religion besinnt, weil dort alles, was wir besprechen, auf die eine oder andere Weise ebenfalls zu finden ist, in sei­ner eigenen Sprache, mit seinen vertrauten Bildern, mit anderen Betonungen sowie mit Riten, Liedern und Gebeten, ....“ (S. 178).

Das Buch ist außerordentlich lesenswert. In verständlichen Worten und dabei sehr unter­haltsam werden selbst komplizierte Zusammenhänge erklärt, philosophische und theologische Gedanken präsentiert und Koran und Islam dem Leser auf liebevolle Weise nahegebracht. So, wie Kermani den Islam darlegt, kann man ihn problemlos akzeptieren - aber so wird er vom Großteil der Muslime eben nicht aufgefasst, auch wenn es zunehmend liberale Muslime gibt. Ungleich wird seine Beurteilung daher da, wo er seine sehr liberale Auffassung vom Islam mit der dogmatischen kirchlichen Auffassung vergleicht. Denn viele Interpretationen von biblischen Geschichten, die auch im Koran vorkommen, sind auch unsere Sichtweise. Aber im Unter­schied zum Islam, der keine religiöse Hierarchie kennt, die Glaubensinhalte festlegt, ist das im Christentum eben anders.

Navid Kermani: »Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott«, Hanser, 240 Seiten, 22 Euro.

Karin Klingbeil

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