Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 178/1 - Januar 2022

 

 

»Stufen« (Zum neuen Jahr) - Ulrich von Hasselbach

Beten wie Jesus? - Peter Lange

Weltgericht und Reich Gottes - Brigitte Hoffmann

Christen in der Minderheit? - Jörg Klingbeil

Erinnerung an einen Pionier - Jörg Klingbeil

 

Zum Neuen Jahr (Foto: Hans Jörg Raetz auf Pixabay)

 

 

Hast du schon einmal daran gedacht,

dass dein ganz eigener Weg und deine ganz eigene Geschwindigkeit

für dich ganz genau richtig sein könnten?

Wenn du dich selbst am Weg,

an den Errungenschaften oder Lebensumständen anderer misst,

dann verletzt du damit deinen ureigenen zarten und zerbrechlichen Kern.

Denke immer daran, jeder von uns hat unterschiedliche Lektionen zu lernen,

wir lernen auf unterschiedliche Weise

und haben unterschiedliche innere Stundenpläne,

nach denen wir uns entfalten.

Dein eigener Weg ist immer der beste Weg für dich,

darauf kannst du vertrauen!

Wenn wir uns in Sanftheit, Freundlichkeit und Vergebung gegenüber uns selbst üben,

blühen wir auf.

Während wir aufblühen, erschaffen wir den Garten neu:

eine sanftere und liebevollere Welt.

Du tust in jedem Augenblick wirklich dein Bestes.

Wenn du es besser könntest, würdest du es besser machen.

Darauf kannst du immer vertrauen!

Robyn L. Posin, übersetzt von M. Steininger

»Stufen« (Zum neuen Jahr)

Ein neues Jahr hat begonnen; ist dadurch etwas anders geworden, als es vorher war? An sich ist nicht mehr geschehen, als dass sich eine Ziffer verändert hat. Wir schreiben eine andere Jahreszahl, das ist alles. Der Aufwand, mit dem immer wieder die Jahreswende begangen wird, scheint also wenig angebracht. Und doch haben wir das Empfinden, als sei mit dem Beginn des neuen Jahres ein Tor aufgestoßen zu neuen Möglichkeiten. Wir haben uns daran gewöhnt, ein Jahr als ein in sich geschlossenes Ganzes anzusehen: »wird es ein gutes oder ein schlimmes Jahr?«, »was wird das Jahr uns bringen?« - so fragen wir. Neue Hoffnungen bewegen viele oder auch neue Sorgen. Und darum, weil in den Menschen etwas geschieht, weil sich in ihnen etwas ändert, ist der Jahreswende eine Bedeutung beizumessen.

Tatsächlich ist ja auch das Jahr ein naturgegebenes Zeitmaß, das für alles Dasein auf dieser Erde verbindlich gültig ist und das wir nicht verändern können. Und vor allem: unser Leben zählt nach Jahren. Es sind uns nicht allzu viele Jahre eingeräumt, um aus unserem Le­ben etwas zu machen, um in dieser Welt etwas zu leisten, um anderen etwas zu sein und zu geben, und um in unserem Inneren zu Ausgeglichenheit und Reife zu gelangen. Darin liegt aber Aufgabe und Sinn unseres Daseins.

Wir können die Jahre als Stufen verstehen, über die wir steigen sollen, um dem Ziel unserer Bestimmung näher zu kommen. Jede Stufe wäre dann anders geartet; wir könnten sie nur einmal betreten.

Die neue Stufe, die die Ziffer 1977 trägt, scheint uns allen in gleicher Weise gegeben zu sein. Aber das scheint nur so, oder es ist doch nur die eine Seite. Denn jeder von uns hat ja seine besonderen Aufgaben zu erfüllen und seine Schicksale zu erleiden, jeder hat das Seine zu bestehen. Und so ist das neue Jahr für jeden eine verschiedene, unverwechselbare Le­bensstufe.

Es kommt darauf an, dass wir sie bejahen, dass wir sie als Stufe bejahen; und das bedeutet zugleich, dass wir die vorige hinter uns lassen. Dieses Hinter-uns-lassen gilt in einem doppel­ten Sinn. Es besagt einmal, dass wir dem Vergangenen nicht nachtrauern, dass wir uns nicht daran klammern sollen. Natürlich ist nicht gemeint, dass wir etwas uns Wertvolles preisgeben und vergessen sollen, nachdem wir es verloren haben. Aber wir sollten es umwandeln zu einem inneren Besitz, den wir mitnehmen auf die neue Lebensstufe, um uns auf ihr - ganz nach vorn gerichtet - zu bewähren. Zu dem Hinter-uns-lassen gehört aber umgekehrt auch das Freimachen von Bitterem und Enttäuschendem, von Schwerem und Belastendem, das wir aus früheren Lebensstufen erfahren haben. Manche Menschen meinen immer dem Schicksal auf­rechnen zu müssen, was es ihnen zugemutet hat, - und versperren sich so die Zukunft selbst. Dabei kann ein Leben über Jahrzehnte hin misslungen scheinen und dann doch noch für einige köstliche Jahre den Glanz der Erfüllung tragen. Aber dafür ist eben die Voraussetzung, dass die neue Lebensstufe ganz und entschieden betreten wird.

Der Dichter Hermann Hesse hat in einem seiner schönsten Gedichte von den Stufen ge­sagt:

 

Wie jede Blüte welkt, wie jede Jugend

dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

zu ihrer Zeit und kann nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

bereit zum Abschied sein und Neubeginne.

 

Wenn wir nun mit dem Beginn des neuen Jahres auf eine neue Stufe gelangt sind, sollten wir wie ein gutes Losungswort die Weisung darüber setzen: »Strebet nach den besten Gaben!« (1. Kor. 12,31)

Liegt in dieser Weisung nicht ein Widerspruch? Können wir nach etwas streben, das doch Gabe ist, das uns also geschenkt wird? Was wäre nicht Gabe auf dieser Welt! Was käme nicht aus dem einen Urgrund aller Dinge, dem wir alles zu danken haben? Was wäre nicht Ge­schenk! Wir aber haben zu entscheiden, welche Gabe uns als erstrebenswert gelten soll und wo wir den Zielpunkt setzen. Und es liegt an uns, ob wir überhaupt nach etwas streben oder ob wir uns abfinden.

Was sind die »besten Gaben«? Paulus spricht einmal von einem Kleinod, nach dem er strebt. Und er sagt, dass ihm dieses Kleinod als Ziel vorgehalten sei »durch den Ruf Gottes in Jesus Christus«. Er möchte es ergreifen, nachdem er »von Jesus Christus ergriffen ist«.

Es lohnt darüber nachzudenken, ob wir eigentlich »von Jesus Christus ergriffen sind«. Wir haben Weihnachten gerade hinter uns: haben wir den Ruf verstanden, der da an uns ergan­gen ist, und haben wir ihn aufgenommen? Hat er uns ergriffen, dieser Ruf aus der Enge in die Weite, von der Oberfläche in die Tiefe, vom Ich zum Mitmenschen, dieser Ruf zum Glauben, Hoffnung und zur Liebe? Das Kleinod, das dieser Ruf verheißt, ist ein erfülltes, gesegnetes, begnadetes Menschentum und damit ein Leben, das sich lohnt.

Wenn wir dem Ruf folgen, der von Jesus her an uns ergeht, wenn wir nach den besten Gaben streben, dann werden wir auch erfahren dürfen, dass uns geholfen wird und dass uns etwas Unsichtbares schützend umgibt.

Der Schutz ist allerdings nicht so zu verstehen, als ob wir vor allen äußeren Bedrohungen gesichert wären. Wir sind ja doch alle viel zu sehr verflochten in das Schicksal der Gesamtheit, als dass wir etwa erwarten könnten, es werde sich alles in unserem Leben wunschgemäß gestalten können! Was wir tun und erleiden, wirkt immer auch auf andere, und was andere tun und erleiden, wirkt auf uns. Und dem, was mit unserer Erde, was in der Natur geschieht, sind wir alle ausgesetzt. Es gibt kein menschliches Leben, das aus dem allen herausgelöst wäre, und darum auch keines, das vor allen Gefährdungen gesichert werden könnte.

Der Schutz, den wir erfahren dürfen, ist der Schutz vor dem Sichverlieren und vor der Ver­zweiflung in jenen Situationen unseres Lebens, in denen kein Sinn mehr erkennbar scheint. Unser innerer Mensch ist es, der diesen Schutz erfährt. Das meint wohl auch Hermann Hesse, wenn er sagt:

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Er vermeidet es, von Gott zu sprechen. Er fürchtet wohl, dass dieses Wort zu einseitig fest­gelegt und damit zu missverständlich geworden sei, als dass er es gebrauchen dürfte. Und so spricht er von dem Geheimnisvollen, von dem »Zauber«, der uns beschützt.

Ob wir nun »Gott« sagen oder nicht: wenn wir diesen Schutz, dieses Umunssein des Un­sichtbaren erfahren, dann werden wir auch leichter zu einer der höchsten Kostbarkeiten des menschlichen Lebens gelangen: zur Heiterkeit, zur Gelassenheit, zur Freude. Und wir sollten immer bemüht bleiben um solche Heiterkeit.

 

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

an keinem wie an einer Heimat hängen;

der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

 

Irgendwann werden wir die Stufe betreten, auf die keine weitere mehr folgt. Irgendwann be­ginnt das Jahr, in dem wir sterben werden. Und dann? Was wird jenseits dieser Stufe sein? Der Dichter ist viel zu behutsam und viel zu bescheiden, um auf diese Frage mehr zu ant­worten als ein »Vielleicht«:

 

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

uns neuen Räumen jung entgegensenden.

 

Aber wie viel Hoffnung ist in diesen Worten und wie viel Zuversicht! Wie bewegend ist die Vor­stellung, dass uns die Todesstunde jung den neuen Räumen entgegensenden könne! Dann wäre der Tod ja wie eine Neugeburt, und es bliebe alles hinter uns, was uns begrenzte und bedrängte, was uns altern ließ!

Hoffnung und Zuversicht werden fast zur Gewissheit, wenn es in Hesses Versen weiter heißt:

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden!

Über solche Gewissheit hinaus lässt sich nichts sagen, auch im christlichen Glauben nicht. Denn das Lebendigsein Jesu, so sehr es überzeugt haben mag, blieb doch in der Verborgen­heit des Geheimnisvollen.

Das neue Jahr bedeutet für uns eine neue Stufe. Wir werden ihr nur gerecht werden, wenn wir hinter uns lassen, was gewesen ist, wenn wir ganz bereit sind für das, was vor uns liegt.

»Wohlan denn, Herz, nimm Abschied, und gesunde!«

Jede Stufe hat ihren Sinn und ihren Wert. Jede Stufe soll uns dem »Kleinod« näher führen, das uns vorgehalten ist »durch den Ruf Gottes in Jesus Christus«. Wenn wir »nach den besten Gaben streben«, sind wir von dem beschützt, in dem wir alle gründen und der immer auf allen Stufen um uns ist und bleibt.

 

 

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

zu ihrer Zeit und kann nicht ewig dauern.

 

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

bereit zum Abschied sein und Neubeginne.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

 

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

an keinem wie an einer Heimat hängen;

der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

 

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

uns neuen Räumen jung entgegen senden,

des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

 

 

Ulrich von Hasselbach in »Freies Christentum«, 1977, Nr. 1

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Beten wie Jesus?

In den Evangelien-Schriften des Neuen Testaments finden wir zahlreiche Beispiele dafür, wie Jesus von Nazareth in seinem Leben gebetet hat. In den meisten Fällen heißt es dort, dass er sich in die Einsamkeit zurückzog und dort betete. Einmal stieg er dazu auf einen Berg (Mt 14,23), ein anderes Mal ging er »noch vor Tage« an eine einsame Stätte (Mk 1,35). Es muss für ihn immer wieder ein tiefes inneres Bedürfnis nach Klärung seines Lebens und eine intensive Beschäftigung mit seinen Gedanken und Gefühlen gewesen sein. Der Theologe Fritz Maass schreibt in seinen »Gedanken zum Markus-Evangelium«, dass das Gebet für Jesus ohne Zweifel einen zentralen Platz in seinem Leben eingenommen hat.

Wir sind geneigt zu fragen, was ihn wohl dazu getrieben hat und auf welche Fragen er eine Antwort suchte. Und wie hat er gebetet? Haben fest in ihm verankerte Verse und Sprüche der Synagoge in ihm fortgewirkt, wie wir sie aus der religiösen Praxis des Judentums kennen? In den Evangelien lässt sich hierzu nichts finden. Zwar meinen wir, dass die Worte Jesu an seine Schüler über das Vaterunser-Gebet (Lk 11,2-13) Antwort darauf gibt, doch dürfen wir vermuten, dass diese Anweisungen in einer Phase seiner Entwicklung erfolgt sind, als er in seinem Glauben und in seiner Mission schon gefestigt war. Er hatte da schon einen festen inneren Halt und Sinn für sein Leben gefunden.

Wenn wir also so wenig darüber wissen, wie Jesus gebetet hat, haben wir Zweifel, ob wir noch »so wie er« beten könnten, gibt es doch auch für uns Anlass, ein »einsames Gebet« zu suchen, uns aus der Geschäftigkeit des Alltags zu lösen und durch Konzentration, im Sinne östlicher Religionen vielleicht, eine Übereinstimmung mit Welt und Leben zu erreichen. Diese innere Konzentration auf das allein Wesentliche ist doch das, was heutzutage mehr denn je als vernachlässigt erscheint.

Es gibt unter heutigen christlichen Autoren solche, die Wege zu solcher Sinnsuche be­schreiben. »Beten ist ein mystischer Vollzug des Menschseins« meint zum Beispiel der Jesui­tenpater Niklaus Brantschen. Er meint, dass wir auch für unsere Zeit Wege zum rechten Beten bräuchten. Ihm ist wichtig, dass der Begriff des Betens weit gefasst wird. Er meint, beim Beten auch ohne einen Adressaten und ohne Wunschvorstellungen auszukommen. Es lohne sich, die »Kunst des Betens« zu erlernen. Solches Beten komme auch ohne Worte aus. Was not­tue, sei vor allem die Stille und das Achten auf den Atem.

Peter Lange

Weltgericht und Reich Gottes

Die Unvereinbarkeit des Gerichts mit Jesu Botschaft

Die Weltgerichtsrede steht nur bei Matthäus (Mt 25,31-46) und dort an einer wichtigen Stelle: unmittelbar vor dem Beginn des Berichtes von Passion und Tod Jesu. Sie ist der Abschluss einer großen Rede über die Endzeit. Diese beginnt mit einer Schilderung der großen Bedrängnis als Auftakt des Endes. Ich habe schon in einem der letzten Saalvorträge darauf hingewiesen, dass diese Schilderung viele realistische Details enthält, die schlecht zu einem apokalyptischen Ende passen, aber sehr gut zu den Zuständen während und nach dem jüdisch-römischen Krieg und der Eroberung Palästinas durch Titus 70 n.Chr.: von der totalen Zerstörung Jerusalems bis zum Kampf aller gegen alle. Sie muss nach diesen Ereignissen entstanden sein, also mehr als 40 Jahre nach Jesu Tod. Im Text folgen einige Gleichnisse, darunter die bekannten von den anvertrauten Pfunden und den klugen und törichten Jung­frauen, die alle von der Rückkehr eines Herrn und seiner Abrechnung handeln. Man kann sie auf eine Endzeit beziehen, zwingend ist es nicht. Das von den Jungfrauen ist ausdrücklich als Reich-Gottes-Gleichnis gekennzeichnet. Und dann folgt die Schilderung des Weltgerichts.

Was hat das Reich Gottes mit dem Endgericht zu tun? Wer an ein Gottesreich der ewigen ungetrübten Harmonie glaubt, der braucht ein Endgericht. Denn die Bedingung dafür ist, dass das Böse ausgelöscht ist. Das Böse - konkret heißt das fast immer, in der Bibel und in der Geschichte, dass die Bösen ausgelöscht oder ausgestoßen werden. Deshalb häuft die Johan­nes-Offenbarung mit beinahe sadistischer Intensität Bilder von Gräuel und Qualen und Elend übereinander, bis am Schluss der größte Teil der Menschheit umgekommen ist und nur noch die wenigen Auserwählten übrig bleiben, die in das himmlische Jerusalem eingehen.

Diese Vorstellung ist nicht nur falsch und zutiefst inhuman, sie ist furchtbar im Wortsinn: sie lehrt uns das Fürchten. Denn mit nichts kann man Menschen so leicht zu Mord und Grausam­keit aufstacheln wie durch die Vorstellung, damit eine bessere Welt zu schaffen. In dieser Vor­stellung wurden die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen, erschreckend oft im Namen des christlichen Gottes und in der verblendeten, aber ehrlichen Überzeugung, damit den Willen dieses Gottes zu erfüllen. Dass das unvereinbar ist mit der Lehre und mit dem Handeln Jesu, der mit Liebe und Vertrauen die Sünder für das Gottesreich gewinnen wollte, liegt auf der Hand. Aber in dem Gerichtsbild unseres Textes steckt diese Vorstellung. Da steht am Anfang der Herr, der die Menschheit teilt in Böcke und Schafe, in Gute und Böse, und der am Ende die Bösen zur ewigen Strafe schickt.

Dazwischen - und dieses Dazwischen macht drei Viertel des Textes aus - steht etwas ande­res: der Maßstab, nach dem der Herr - Gott - richtet. Es ist der Maßstab Jesu. Gott sagt zu den Gerechten: Ihr habt den Hungrigen zu essen gegeben und den Nackten Kleider, ihr habt die Kranken und Gefangenen besucht. Und das ist das, was zählt. Denn: »Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.« Das kann nur Jesus gesagt haben. Niemand außer ihm hat zu seiner Zeit so gedacht. Wir alle kennen diesen Ausspruch, und wir zitieren ihn oft als Beispiel für die Haltung Jesu.

Noch etwas ist wichtig: die Betroffenen sind erstaunt über dieses Urteil. Sie haben so ge­handelt, nicht um sich einen guten Platz im Himmel zu verdienen, nicht einmal um das Gebot der Nächstenliebe zu erfüllen, sondern weil es ihnen selbstverständlich war, weil sie mit den Leidenden fühlten, deren Not zu ihrer eigenen machten. Darin steckt auch ein Aufruf an uns - ein schwer zu erfüllender.

Das wird ganz deutlich im zweiten Teil der Gerichtsszene, wo es um die Nicht-Gerechten geht, um die, die das alles nicht getan haben. Auch sie sind erstaunt, sie sind sich keiner Schuld bewusst. Sie haben nichts Böses getan, sie haben alle Gebote gehalten - und da das jüdische Gesetz auch viele soziale Gebote umfasst, heißt das, dass sie sich durchaus sozialverträglich verhalten haben. Aber das genügt nicht: »Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.«

Das ist die Kehrseite desselben Maßstabs. Aber zugleich ist es eine Höchstforderung, die kein Mensch erfüllen kann. Wir können nicht das Leid der Menschheit zu unserem eigenen machen. Wir können es - oft, nicht immer - bei denen, die uns nahe stehen, manchmal bei jemand, der uns zufällig begegnet und dessen Not uns anrührt. Aber nicht nur unsere äußere, auch unsere seelische Kraft dafür ist begrenzt. Trotzdem ist auch diese Forderung jesuanisch. Auch in der Bergpredigt stehen viele solcher eigentlich unerfüllbaren Höchstforderungen, von der Feindesliebe bis zur Anprangerung der Gedankensünden. Aber dort - wie überall sonst bei Jesus - steht dahinter sein Gottesbild: das eines Gottes, der uns annimmt, auch wenn wir immer wieder versagen.

Diese Forderungen sind eine Richtlinie, ein immer neuer Ansporn, der uns vor bequemer Selbstgerechtigkeit bewahren kann. Wenn aber eine solche Forderung Teil eines Gerichtspro­zesses wird, an dessen Ende die ewige Strafe steht, dann wird sie zu einem Verdammungs­urteil für die gesamte Menschheit. Und das kann nicht im Sinne Jesu sein, der seine Botschaft vom Reich Gottes als eine frohe Botschaft verkündet hat. Diese Gerichtsszene kann, so wie sie dasteht, nicht von Jesus selbst stammen. Vielleicht hat Matthäus, dem Gericht und Strafe wichtig waren, echte Jesusworte eingebaut in seine Vorstellung von einem Weltgericht.

Das ist nicht nur meine private Meinung. Auch unter Theologen ist die Frage, ob dieser Text authentisch sei, umstritten, und es gibt noch mehr Argumente dagegen. Manche beziehen sich auf Sprachliches, Wortwahl und bestimmte Redewendungen. Ich möchte auf zwei noch kurz eingehen, weil sie für unser Verständnis von Jesus wichtig sind. In der Gerichtsszene werden die Guten, die zum ewigen Leben eingehen, die Gerechten genannt, und das leuchtet auf den ersten Blick ein. Nun sind aber Gerechtigkeit und Gerechte Begriffe, die bei Jesus sonst fast nie auftauchen, und wenn, dann fast immer mit negativem Beiklang: »Es wird Freude sein unter den Engeln des Himmels über einen Sünder, der Buße tut, mehr denn als über 99 Gerechte.«

Viele Gleichnisse - von den Arbeitern im Weinberg, vom verlorenen Sohn - handeln von dem, was Richard Hoffmann treffend »die Ungerechtigkeit der göttlichen Liebe« genannt hat. Jede Vergebung ist ungerecht, und Jesus ging es genau darum, dass Liebe höher steht als Gerechtigkeit. Schon das macht eine Schilderung des Weltgerichts aus seinem Mund un­wahr­scheinlich. Jesus spricht zwar durchaus auch manchmal von Strafen. Aber es sind spezielle Strafen für spezielle Vergehen. Es geht um die Verurteilung einer Tat oder einer Haltung, nicht um die Abstempelung eines Menschen oder der halben Menschheit als böse.

Wichtig ist noch etwas anderes, nämlich die Person des Richters in diesem Gericht. Unser Text beginnt: »Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden.«

Der Begriff »Menschensohn« stammt aus einer Vision des Propheten Daniel. Daniel sieht zunächst vier Tiere, die reale Könige beziehungsweise Königreiche symbolisieren. Und dann heißt es: »Siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn« und wenig später: »Der, der uralt war« - gemeint ist Gott - »gab ihm Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich ist ewig.« (Daniel 7,13-14). Wen Daniel damit meint, ist bis heute unklar. Sicher nicht Jesus, wie die christliche Auslegung lautet (verfasst vermutlich im 2. Jahrhundert v. Chr.), das Volk Israel, den Messias? - keine Deutung passt wirklich. Matthäus verwendet den Begriff praktisch als Synonym für Jesus - sicher weil für seine judenchristliche Gemeinde, die das Buch Daniel kannte, Jesus damit als Weltenherrscher und Weltenrichter legitimiert war. Aber diese Rolle hat Jesus nie für sich in Anspruch genommen, auch wenn er in vielen Kirchen so dargestellt ist. Sie wurde ihm von seinen Anhängern übergestülpt, wie unser Text zeigt, fast von Anfang an.

Warum rede ich so ausführlich über einen Text, den ich nicht für authentisch halte? Warum über eine Apokalypse, an die wir alle nicht glauben? Ich habe zwei Gründe, die mir wichtig erscheinen. Zum einen: Ich habe schon oft betont: Wir können von Gott nichts wissen. Etwas, was unendlich größer ist als wir, können wir mit unserem begrenzten Verstand und unseren noch begrenzteren Sinnen nicht erfassen. Wenn wir von ihm sprechen, müssen wir in Bildern sprechen. Für uns Christen sind das vor allem die Bilder Jesu. Wenn wir darauf vertrauen, dass Gott uns annimmt, auch wenn wir versagen, dann tun wir das vielleicht, weil wir es in sel­tenen Momenten zu spüren meinen, vielleicht, weil es uns hilft, auch im Versagen nicht zu verzweifeln, weil wir ein Bedürfnis nach einem solchen Angenommensein haben.

Aber wir tun es vor allem, weil Jesus uns gelehrt hat, Gott so zu sehen. Wir vertrauen Gott, weil wir dem vertrauen, was Jesus uns von ihm gesagt hat. Wir haben einen großen Teil der 2000-jährigen kirchlich-christlichen Überlieferung über Bord geworfen und berufen uns aus­schließlich auf Jesus. Umso mehr müssen wir uns bemühen, uns unser Bild von ihm, von seinem Reden und Handeln möglichst klar zu machen, möglichst deutlich herauszulösen aus dem Gewirr verschiedener späterer Deutungen, von dem alle unsere Quellen mehr oder weni­ger geprägt sind. Und dazu gehört für mich, den Widerspruch, den unser Text spiegelt und der alle Quellen durchzieht, wenigstens teilweise zu klären.

Das schließt nicht aus, dass wir auch das, was wahrscheinlich authentisch ist, prüfen. Wir wissen, dass auch Jesus sich geirrt hat - zum Beispiel in der Naherwartung -, dass manche seiner Anschauungen zeitgebunden waren und für uns nicht mehr bindend sein können - zum Beispiel seine Ausführungen zum Ehebruch -, aber wir glauben, dass der Kern seiner Lehre dem Willen Gottes näher kommt als fast alles andere, was wir kennen. Auch das lässt sich nicht beweisen, zumindest nicht wissenschaftlich. Aber es gibt einen Beweis, den wir selbst erfahren können: dass Jesu Lehre von Liebe und Vertrauen uns hilft, selbst besser zu leben und besser mit anderen zusammenzuleben. Und dass dieser Beweis zu einem Teil von uns selber abhängt, macht ihn umso glaubwürdiger.

Mein zweiter Grund: der Text handelt - nicht nur, aber auch - vom Reich Gottes. Für Jesus war das der Hauptinhalt seiner Botschaft. Trotzdem gibt es bei ihm keine einzige Schilderung, wie das Reich Gottes sein, und auch keine, wie es kommen würde. Das scheint mir wichtig.

Jesus ging mit Gott mit einer Ehrfurcht um, die die meisten seiner Nachfolger vermissen ließen. Er gab nicht vor, den Willen Gottes bis ins Einzelne und auch nicht für die Zukunft zu kennen, es gibt bei ihm keine direkten göttlichen Eingebungen und auch keine Zukunftsvisio­nen (wo es sie in den Evangelien gibt, zu Tod und Auferstehung, sind sie höchstwahrscheinlich späteren Datums). Er sprach mit seinen Zuhörern darüber, wie Reich Gottes wachsen könne und was sie selbst tun könnten, um daran teilzuhaben. Daraus leite ich ab, was er selbst so generell nie gesagt hat: für ihn war Reich Gottes wesentlich nicht ein Zustand sondern eine Entwicklung. Deshalb gibt es keine genauen Angaben, was Reich Gottes ist, und wir müssen uns immer neu Gedanken darüber machen. Und ich denke, das ist gut so.

Auch für uns, die Tempelgesellschaft, ist das Reich Gottes der Mittelpunkt unseres Glau­bens. Für die Tempelgründer war es ein Zustand, den sie sich ausmalten nach den Bildern der Propheten und von dem sie glaubten, ihn heraufführen und erleben zu können. Das war die Basis der Auswanderung.

Wir wissen, dass sie sich geirrt haben. Trotzdem halten wir an ihrem Grundgedanken fest, obwohl - oder vielleicht, weil - wir ihn anders auslegen. Und vielleicht kommen wir dem Grund­gedanken Jesu sogar näher. Auch für uns ist Reich Gottes kein Zustand, sondern eine Ent­wicklung, deren Ziel, falls sie eines hat, wir nicht kennen und nicht denken können. Wir kennen auch den Weg dieser Entwicklung nicht, sie kann ganz anders verlaufen, als wir es uns vor­stellen, wie wir aus unserer eigenen Geschichte ablesen können. Unsere Vorfahren haben nicht den Anfang eines Gottesreiches gesetzt, den sie erhofft hatten. Sie haben trotzdem, für eine begrenzte Zeit, etwas Positives geschaffen. Und sie haben gerade aus den Misserfolgen etwas von der Demut Jesu gelernt: wir können die Wege Gottes nicht deuten.

Wir können nur, wie Jesus es seinen Zuhörern gezeigt hat, einige kleine Schritte tun, um an unserem kleinen Ort, mit unserer kleinen Kraft, für eine kleine Zeit die Welt um uns herum ein kleines bisschen Reich-Gottes-ähnlicher zu machen. Wichtig ist nicht das unbegreifliche Ziel. Wichtig ist, dass wir uns darum bemühen: Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes.

Brigitte Hoffmann, Saal-Ansprache in der Tempelgemeinde Stuttgart am 8. Juni 2008

Christen in der Minderheit?

Studie sieht christliche Bevölkerung im Schwinden

Das Weihnachtsfest 2021 könnte das letzte einer christlichen Mehrheit in Deutschland gewe­sen sein. Dies ergibt eine aktuelle Studie des Instituts für Demoskopie (IfD) Allensbach, über die Studienleiter Thomas Petersen am 22.12.2021 in der FAZ berichtete. Bereits seit langem sei eine schleichende Erosion des Christentums in Deutschland zu erkennen. Insofern verleite die mediale Fokussierung auf Skandale im kirchlichen Bereich und deren schleppende Aufar­beitung zu falschen Schlussfolgerungen. Vielmehr habe der schwindende Rückhalt der Kir­chen tiefer gehende Ursachen, die zu einer fundamentalen Veränderung der Gesellschaft füh­ren könnten.

Diesen Trend kann das IfD seit Jahrzehnten durch Umfragen belegen. So ist etwa der Anteil derjenigen, die zumindest gelegentlich in die Kirche gehen, seit den 1960er-Jahren von 60 Prozent auf heute unter 30 Prozent zurückgegangen. 1995 gaben noch 37 Prozent der Befrag­ten an, Mitglied der evangelischen Kirche zu sein, 2021 nur noch 28 Prozent. Bei den Katholi­ken ging der Anteil von 36 auf 25 Prozent zurück. Die Entwicklung habe sich sogar beschleu­nigt. In absehbarer Zeit werde nur noch eine Minderheit der Bevölkerung den beiden großen christlichen Kirchen angehören.

Die Studie sieht aber noch tiefer reichende Auflösungserscheinungen: Die Frage, ob sie sich ihrer Kirche eng verbunden fühlten, wurde von 23 Prozent der Katholiken bejaht; das ent­spricht nur noch knapp sechs Prozent der Gesamtbevölkerung. Bei den Protestanten waren es gerade einmal 12 Prozent (= drei Prozent der Bevölkerung). Die meisten Mitglieder der großen Kirchen sahen sich trotz einer gewissen Verbundenheit eher in einer kritischen Distanz oder erklärten sogar, sie fühlten sich zwar als Christ, die Kirche bedeute ihnen aber nicht (mehr) viel. Jeder siebte Protestant bekannte offen, er wisse nicht, was er glauben solle, oder er brauche keine Religion. Mehr als ein Drittel der Befragten hatte schon mal einen Kirchenaus­tritt in Erwägung gezogen. Offenbar sei der christliche Glaube auch bei den verbleibenden Kir­chenmitgliedern nur wenig verankert.

Auch die Antworten zu konkreten Glaubensinhalten belegen eine veränderte religiöse Ori­entierung: 61 Prozent glaubten an eine Seele, 52 Prozent an Wunder, ein gleicher Prozentsatz an schicksalhafte Fügungen. Ebenso viele gaben als Glaubensinhalt an, dass „in der Natur alles eine Seele hat, auch Tiere und Pflanzen“. Dagegen gaben weniger als die Hälfte der Be­fragten an, sie würden an Gott glauben.

Kerninhalte des christlichen Glaubens werden offenbar nur noch von einer Minderheit ver­treten: 1986 hielten in Westdeutschland 56 Prozent Jesus für den Sohn Gottes; heute sind es nur noch 37 Prozent. Der Glaube an die Dreifaltigkeit ging im gleichen Zeitraum von 39 auf 27 Prozent zurück, der an die Auferstehung der Toten von 38 auf 24 Prozent - das Glaubensbe­kenntnis scheint unverbindlich geworden zu sein. Dagegen sind vage spirituelle Vorstellungen weit verbreitet, wie etwa der Glaube an „irgendeine überirdische Macht“ oder an Engel oder eben an Wunder.

Für geradezu dramatisch hält die Studie den Bedeutungsverlust der Kirchen in der Gesell­schaft: Bei der Frage, von welchen Institutionen die wichtigsten gesellschaftlichen Impulse ausgehen, landeten die großen Kirchen bereits vor zehn Jahren auf den beiden letzten (von 18) Plätzen. In der aktuellen Umfrage wurde erneut eine eher kritische Haltung der Bevöl­kerung gegenüber den Kirchen deutlich: Für 56 Prozent der Befragten war die katholische Kirche „nach den ganzen Skandalen unglaubwürdig geworden“, immerhin noch 46 Prozent sahen dies auch bei der evangelischen Kirche so. Nur 40 Prozent hielten die evangelische Kirche und nur 38 Prozent die katholische Kirche noch für „wichtig“. Bei den unter Dreißigjährigen waren sogar nur noch ein Drittel der Befragten von der Wichtigkeit der Kirchen überzeugt; dies lässt eine weiter abnehmende Bedeutung der Kirchen bei gesellschaftlichen Diskussionen erwarten.

Ungebrochen scheint dagegen die Wertschätzung der christlichen Kulturtradition zu sein: Erstmals wurde 2021 gefragt, ob das Christentum zu Deutschland gehöre. Dies bejahten 70 Prozent, sogar von den Konfessionslosen waren es noch 55 Prozent. 43 Prozent hielten eine religiöse Erziehung der Kinder für wichtig, genauso viele wie im Jahr 1995. Ähnlich unverän­dert hoch lag auch der Anteil derjenigen, für die christliche Wertvorstellungen persönlich wich­tig waren.

Die Studie kommt insgesamt zu dem Schluss, dass sich die Erosion des Christentums in drei Stufen vollziehe: Zuerst verlören die Menschen den Glauben an die wesentlichen Inhalte des Christentums; dieser Prozess sei inzwischen weit vorangeschritten. Erst nach dieser inne­ren Entfremdung folge mit dem Kirchenaustritt die äußere Trennung. Die verbreitete Meinung, wonach besonders engagierte Gläubige die Kirche aus Protest verließen, sei insofern falsch. Der dritte Schritt sei die Abwendung von der christlichen Kulturtradition, die ohne christliche Fundierung immerhin noch eine gewisse Zeit weitergetragen werde. Dies werde zum Beispiel bei der Frage nach christlichen Weihnachtsliedern deutlich. Die Mehrheit bekannte, solche Lieder in der eigenen Kindheit gesungen zu haben. Heute bejahten das zwar deutlich weniger Menschen, unter diesen aber auffallend viele aus der Altersgruppe der jungen Eltern (30-44 Jahre). Offenbar werden die Liederbücher wieder öfter hervorgeholt, wenn Kinder im Haus sind. Thomas Petersen meint dazu, dass die christliche Tradition auf diese Weise zumindest bis zu einem gewissen Grad auch von denen weitergetragen werde, die mit dem Glauben selbst nicht mehr viel anfangen könnten.

Jörg Klingbeil

AUS DEM ARCHIV

Erinnerung an einen Pionier

Zum 100. Todestag von Hugo Wieland

Vor 100 Jahren, am 19. Januar 1922, starb der Firmengründer und Unternehmer Karl Hugo Wieland während eines Aufenthalts im Tropengenesungsheim (Paul-Lechler-Krankenhaus) in Tübingen. Seine Familie stammte väterlicherseits aus der Murrhardter Gegend. Der Vater Georg Karl Wieland (geb. 1818) war als königlich-württembergischer »Forstadjunkt« (Forstge­hilfe) in Bodelshausen tätig, wo Karl Hugo am 8. April 1853 zur Welt kam. Seine Mutter Sophie geb. Eckert (geb. 1826) stammte aus Sternenfels im heutigen Enzkreis. Karl Hugos Schwe­ster, Katharine Pauline, wurde im Oktober 1854 in Fornsbach geboren, wohin die Familie nach einer Erkrankung des Vaters gezogen war. Bereits im Januar 1856 starb der Vater an Lungen­schwindsucht; die Mutter musste fortan die beiden Kinder allein durchbringen. In Fornsbach muss Sophie Wieland wohl mit den Jerusalemsfreunden in Berührung gekommen sein, die in dieser Gegend zahlreich vertreten waren und von denen viele später nach Palästina auswan­derten. Auch Sophie Wieland zog 1871 mit ihren beiden Kindern dorthin.

Portrait Hugo Wieland (Quelle: TGD-Archiv)
Quelle: TGD-Archiv

Karl Hugo hatte offenbar noch in der alten Heimat eine Schrei­nerlehre absolviert; in Jerusalem entwickelte sich daraus ein schwunghafter Baustoffhandel. Denn nach einem Bericht in der »Warte des Tempels« vom 24. November 1886 gab es »bei Wieland auf der Nordseite der Stadt ein reichhaltiges Lager an Bau- und Möbelhölzern, Dachziegeln und Zementplatten«. Das Fir­menareal lag an der Prophetenstraße in der Nähe der Propstei und wurde nach der Gründung des Staates Israel der Busfirma Egged als Abstellplatz überlassen; vor einigen Jahren stand vom Wohn­haus leider nur noch eine traurige Ruine.

Die Nachfrage noch Baustoffen für Neubauten stieg Ende des 19. Jahrhunderts rasch an und Hugo Wieland nutzte das, um Mitte der 1890er Jahre in Jaffa beim dortigen Bahnhof eine größere Anlage zur Herstellung verschiedener Zementwaren zu errichten, wie etwa Treppenstufen, Dachziegel, Balustraden, Balkonträger, Fenstereinfassungen und Fußbodenplatten. Es war die erste Ze­mentwarenfabrik des Landes. Seine Firma, die er mit einigen sei­ner Söhnen betrieb, wurde ein im ganzen Land bekannter und geschätzter Fertigungsbetrieb mit zeitweise über 40 Mitarbeitern. Den Zement bezog man von der 1874 gegründeten Heidel­berger Zement AG. Besonderen Erfolg hatte das Unternehmen mit der Herstellung von Ze­mentrohren, die gerne für die Bewässerung der Orangenplantagen verwendet wurden, da sie bedeutend billiger und besser als die bis dahin gebräuchlichen Eisenrohre waren. Die farbigen Fußbodenplatten aus der Wieland’schen Produktion sind heute noch in zahlreichen früheren Templerhäusern in Israel zu bewundern. Auch innerhalb der Tempelgesellschaft spielte Hugo Wieland eine hervorgehobene Rolle; so bildete er zusammen mit Tempelvorsteher Christoph Hoffmann II und Baurat Gottlieb Schumacher die dreiköpfige Delegation, die 1899 zu einer Au­dienz bei König Wilhelm II. von Württemberg reiste, um über wichtige Anliegen der Templer in Palästina zu verhandeln.

Nach dem Zweiten Weltkrieg betrieb die israelische Armee auf dem Firmenareal eine Wä­scherei; dadurch blieben die Bauten zum Glück erhalten. Nach der Freigabe durch die Armee und nach zähem Ringen wurde das Gebäudeensemble unter Denkmalschutz gestellt; viele Israelis (wie z.B. Jakob Eisler) haben sich in diesem Kampf engagiert und die Denkmalschutz­behörde unterstützt. Heute ist das Firmengelände rund um den historischen Bahnhof mit seinen zahlreichen Cafés, Boutiquen und Galerien ein beliebter Treffpunkt zum Ausgehen und Shoppen.

Hugo Wieland war seit 1878 in erster Ehe mit Ka­tharina Friederike Weller aus Unterneustetten bei Murrhardt verheiratet, der Tochter der Templer Jo­hann Georg Weller und Christiane Catherine geb. Kübler. Dieser Ehe entstammten fünf Söhne und zwei Töchter. Nach dem frühen Tod seiner ersten Frau 1893 heiratete Hugo im Jahr darauf die aus der Nähe von Heilbronn stammende Maria Kämpff. Aus dieser Ehe entstammte ein weiterer Sohn. Die Schwester von Hugo, Katharine, heiratete übrigens den ebenfalls aus der Murrhardter Gegend stam­menden Templer Johann Friedrich Kübler, der in Je­rusalem eine Metzgerei eröffnete.

Man kann Hugo Wieland durchaus als Pionier der Bauindustrie im Heiligen Land bezeichnen. Zu diesem Schluss kam offenbar auch die Stadt Tübingen, die nach der Auflassung des Grabes von Hugo Wieland auf dem Tübinger Stadtfriedhof eine Stele zur Erinnerung aufstellen ließ.

Jörg Klingbeil

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