Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 176/2 - Februar 2020

 

 

Gewaltlosigkeit - Utopie oder Auftrag? - Rudolf Daur

Wem willst du dienen? - Wolfgang Blaich

Die Waffen nieder! - Markus Dobstadt

»Herr von Ribbeck auf Ribbeck« - Peter Lange

Die Energiewende beginnt in den Köpfen - Jörg Klingbeil

Gewaltlosigkeit - Utopie oder Auftrag?

In einem Vortrag von 1970 hat sich Rudolf Daur mit dieser weiterhin aktuellen Frage auseinan­dergesetzt. Die folgenden Kernaussagen daraus wurden bereits in der Februar-Warte 1991 wiedergegeben.

Ich glaube, die Antwort auf diese Frage kann nur sehr behutsam und ganz persönlich gegeben werden. Wir können und dürfen nur sagen: So sehe ich es. Alles Herabsetzen des Andersden­kenden scheint mir hier unangebracht. Jeder muss erkennen und zugestehen: Andere mögen es anders sehen als ich und sind darum nicht minderen Wertes. Der Lenker der Geschicke der Menschheit scheint sehr verschiedene Werkzeuge zu gebrauchen, um zu seinem Ziel zu kom­men.

Wenn ich glaube, dass der Gewaltlosigkeit die Zukunft gehört, so ist dazu vor allem dies zu sagen: Gewaltlosigkeit ist nicht Widerstandlosigkeit. Die großen Bahnbrecher der Gewaltlosig­keit in unserer Zeit, wie Gandhi, Martin Luther King, haben dem, was sie als böse erkannt hatten, äußersten und hartnäckigen Widerstand entgegengesetzt. Und Jesus, der sagt: ihr sollt nicht widerstreben dem Bösen, war in dauernder Opposition zu den Mächten und Mächtigen seiner Zeit. Wie immer man das Wort an seine Jünger, das uns Lukas berichtet, deuten mag: wer nicht hat, verkaufe sein Kleid und kaufe ein Schwert, es meint jedenfalls einen entschiede­nen Widerstand gegenüber dem, was sie bedroht.

Freilich dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass dieses Wort nicht buchstäblich, äußerlich zu nehmen ist; vielmehr weist es auf das Zweite hin, was wir in diesem Zusammenhang beachten müssen, nämlich den Unterschied von Kraft und Gewalt. Ein gewaltloser Widerstand ist kein kraftloser Widerstand, und ein kraftvoller Widerstand braucht kein gewaltsamer zu sein. Kritiker Gandhis und seiner Parole vom gewaltlosen Widerstand haben manchmal gesagt, auch er habe Gewalt geübt, wenn schon geistige, seelische Gewalt. Sein Boykott der englischen Waren, sein Fasten mit der Drohung, er werde bis zu seinem Tode fasten, wenn seine Gegner nicht nachgäben, sein berühmter Salzmarsch zum Meer, das alles sei nichts anderes als Gewalt. Irrtum! Es ist ein radikaler Unterschied zwischen Kraft und Gewalt. Gewalt sucht den Gegner zu vernichten, zu überwältigen; Kraft sucht ihn zu gewinnen, zu überzeu­gen. Martin Luther Kings Worte sind dafür bezeichnend: »Wir haben kein Verlangen, über den weißen Mann zu triumphieren, und wir trachten nicht nach solchem Sieg. Wenn die Rassen­trennung in den Verkehrsmitteln beendet ist, dann wird das nicht ein Sieg des Negers über den weißen Mann sein, sondern ein Sieg der Gerechtigkeit über die Ungerechtigkeit. Und es wird ein Sieg sein, der den besten Interessen auch der Weißen dient.«

Die Methode der Gewaltlosigkeit kann in doppelter Weise begründet werden: Idealistisch-christlich und taktisch-pragmatisch. Deshalb können Menschen ganz verschiedener Weltan­schauung sich zu ihr bekennen und vereinigen. Der amerikanische Professor John Swomley weist darauf hin, dass da, wo beide Begründungen, die religiöse und die taktische, in einem Herzen, einem Menschen zusammenkommen und zusammenwirken, die größte Durch­schlagskraft vorhanden sei. Er hat als Vorzüge der Gewaltlosigkeit vor der Gewalt vor allem die folgenden bezeichnet:

1. Gewaltlosigkeit kann von starken und von schwachen Menschen angewandt werden. Es sind also auch Frauen und Kinder als Mitstreiter nicht ausgeschlossen, sondern willkommen.

2. Die Gewaltlosigkeit gewinnt gemäßigte Gegner, weckt Zweifel in ihnen an ihrer eigenen Sache und sprengt damit die gegnerische Front, während Gewalt sie nur immer fester zusam­menschließt.

3. Gewaltlosigkeit erhält das Gute, das auch beim Gegner vorhanden ist, während die Ge­walt auch dieses zerstört.

4. Gewaltlosigkeit spornt an zu dauernder Selbstprüfung und Selbstdisziplin.

5. Die Gewaltlosigkeit fordert nicht, wie die Gewalt es tut, den Gegner zu immer schärferen Mitteln heraus. Wie sich das auswirkt, haben wir auf den verschiedensten Kriegsschauplätzen schaudernd gesehen.

Schön und gut, wird nun wohl gesagt, das alles hört sich ideal und auch praktisch beachtlich an. Aber ist er nicht ein gefährlicher Weg, dieser Weg der Gewaltlosigkeit? - Zweifellos ist er das. Kein Mensch, kein Volk wird ihn gehen können, ohne Leiden auf sich zu nehmen, ohne Opfer zu bringen, ja ohne äußerstes Risiko. Aber ist der andere Weg, der der Gewalt, etwa ungefährlich? Ist die Gefahr, die auf diesem Wege droht, nicht mehr und mehr zu einer tödlichen für die ganze Menschheit geworden? Und eines ist sicher: Auf dem neuen Weg besteht wenigstens Aussicht, zu einem wirklichen Frieden zu kommen. Ich glaube sogar, die einzige Aussicht auf ein Fortbestehen der Menschheit.

Gewaltlosigkeit - Utopie oder Auftrag? Theoretisch gesehen wohl noch immer Utopie. Das heißt ja nach dem griechischen Wort: eine Sache, für die nirgends Platz ist. Aber Utopien können Ahnungen des Kommenden sein. Die Sage von Daedalus und Ikarus, die sich Flügel bauen, der originelle Einfall des Schneiders von Ulm, der das Fliegen probiert, sind das nicht Vorahnungen von dem, was wir heute erleben mit Flügen bis zum Mond? Die Einheit der Christenheit, ja auch Demokratie und Einheit der Völker, eine Weltregierung mit Schutz der Kleinen und Schwachen, mit einem Weltgerichtshof, der die Streitigkeiten schlichtet, das alles waren oder sind noch Utopien, ohne deren schrittweise Verwirklichung aber die Menschheit keine Zukunft haben dürfte. Utopie oder Auftrag, das sind keine wirklichen Gegensätze. Die Utopie kann eine prophetische Vorausschau und damit ein Auftrag sein, der aufgenommen und erfüllt werden muss: Es ist Zeit! Es ist höchste Zeit!

Rudolf Daur, aus: »Wie im Himmel so auf Erden«, Predigten und Ansprachen

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Wem willst du dienen?

(Matth. 6,24)

In der Bergpredigt stehen die folgenden Worte, welche Jesus zugesprochen werden: »Niemand kann zwei Herren dienen, entweder er wird den einen hassen und den anderen lieben,... Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.« Jesus fordert uns mit diesen Worten auf, dass wir uns entscheiden. Es geht um eine Herzensentscheidung, bei welcher es nur ein Entweder-Oder gibt.

Dieser Ausspruch ist fast zu einem Sprichwort geworden, zumindest zu einer Weisheit. Und - jedem vernünftigen Menschen leuchtet es ein, dass man seine Interessen und Energien nicht gleichzeitig absolut auf einander entgegengesetzte Ziele richten kann. Ich muss mich für einen Schwerpunkt, für ein Ziel entscheiden: was ist mir jetzt wichtiger, was verlangt meine Umge­bung jetzt am dringendsten?

Zunächst aber noch eine kurze Erläuterung zum zugegebenermaßen belasteten Begriff »Mammon«. Dieses Wort stammt aus dem Aramäischen und bedeutete ursprünglich so viel wie »Besitz, Vermögen«. Es handelt sich also nicht um einen Götzennamen, sondern um ein Wort, das schon damals zu Jesu Zeiten als eine Art personifizierter Inbegriff des Geldes und des Besitzes bekannt war. Der Begriff blieb jedoch bei der Übertragung des Neuen Testaments in unsere Sprache unübersetzt. Heute ist er zum Inbegriff für den schlechten Charakter des Geldes geworden.

Ich verstehe die Aussage Jesu als eine Aufforderung sowohl an mich als Einzelnen als auch an Gruppen, Gemeinschaften und Regierungen, die Einstellung zu überprüfen. Sie fordert die Entscheidung des Herzens, des Gewissens, was mir wichtiger oder wertvoller ist. Woran möchte ich mein Herz hängen? Worauf will ich meine positiven Gedanken, meine Achtung, meine Aufmerksamkeit mit der Kraft und der Liebe meines Herzens richten? Um dann die rich­tigen Schritte zu finden, die richtige Tat folgen zu lassen.

Geht es nicht darum zu erkennen und entsprechend zu handeln, was letztendlich schwerer wiegt, der Gewinn aus Rohstoffen z.B. oder das Wohl eines Volkes, die Umwelt oder das Klima weltweit. Um solche Abwägungen und Einschätzungen geht es überall dort, wo Interes­senskonflikte bestehen, z.B. beim Kampf um die Zerstörung bzw. Erhaltung des Regenwaldes, welcher einen erheblichen Einfluss auf das globale Wetter hat. Was zur Entscheidung steht: wollen die maßgeblichen Stellen im Land weiter auf der Erweiterung von Anbau- und Weideflä­chen bestehen und dabei bewusst die negativen Folgen für Klima und den Lebensraum indigener Völker in Kauf nehmen, um der Gewinne Willen aus Soja und Rindfleisch? Hier kann nur Weisheit in Liebe weiterhelfen: »Der Mensch sollte alle seine Werke zunächst einmal in seinem Herzen erwägen, bevor er sie ausführt.«

Wolfgang Blaich

Die Waffen nieder!

Pazifismus in kriegerischen Zeiten. Wie ernst sollen Christen die Bergpredigt nehmen?

Ein Holzkreuz steht auf einem Tisch mit weißer Tischdecke und Blumen darauf. Gut ein Dutzend Menschen hat sich davor versammelt. Sie singen, schweigen, zünden Kerzen an und beten. Im Hintergrund ein mit Stacheldraht bewehrter Zaun. Er umgibt den Fliegerhorst des Taktischen Luftgeschwaders 33 in Büchel. Ein 24 Stunden langer Gottesdienst beginnt. »Hier auf dem Fliegerhorst üben deutsche Soldaten, US-Atombomben ins Ziel zu fliegen und abzu­werfen. Dagegen protestieren wir«, sagt Matthias-Wilhelm Engelke. Der evangelische Pfarrer hat den Langzeit-Gottesdienst mitorganisiert.

Der Gottesdienst beendet eine zwanzigwöchige Aktionszeit gegen die in Büchel gelagerten zwanzig Atombomben. Bei einem Protesttag im Juni mit mehr als tausend Teilnehmern sagte Margot Käßmann, die frühere Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutsch­land (EKD): Es gibt »keinen "gerechten" Krieg, nur gerechten Frieden. Und zum Frieden zu rufen ist Aufgabe der Kirchen.«

Doch wie radikal ist die Friedensbotschaft Jesu auszulegen? Darüber ist in den letzten Jah­ren in den Kirchen viel diskutiert worden...

Markus Dobstadt

 

Dieser Artikel ist für die Internetausgabe der »Warte« leider nicht freigegeben. Lesen Sie den vollständigen Artikel in der gedruckten Ausgabe der »Warte« oder in »Publik-Forum«, kri­tisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 21/2019, Seite 26.

»Herr von Ribbeck auf Ribbeck«

Theodor Fontane und die Schaffenskraft des Alters

Zwar haben wir seinen 200. Geburtstag am 30. Dezember schon um gut einen Monat verfehlt, doch sein Name ist uns sicher auch im neuen Jahr noch geläufig wie kaum ein anderer aus seiner Zeit. Jedenfalls geht es mir so. Er ist, wie er selbst dichtete, »der Mann der Wande­rungen, er ist der Mann der märk’schen Geschichte und auch der vielen märk’schen Gedichte«. Theodor Fontane (Gemälde von Carl Breitbach,
 1880) - Wikimedia CommonsSeine Balladen und Versdichtungen, wie »John Maynard« oder »Archibald Douglas«, und seine Romane, wie »Effi Briest«, sind mir in meinem Leben immer wieder vor Augen getreten. Sie sind bis heute unser Kulturgut ge­blieben. Eine besondere Bedeutung hat für mich jedoch sein Nachsinnen über das menschliche Leben gehabt und seine nie erlahmende Schaffenskraft im Alter.

Fontanes dichterisches Wirken begann nämlich erst spät in seinem Leben. Nicht die Tätigkeit als gelernter Apotheker oder sein journalistisches Treiben »als Tintensklave« (wie es eine Charakterisierung in »Publik-Forum« Ausgabe 24 2019 ausdrückt) brachte ihm die Befriedigung, die er sich für sein inneres Streben erhofft hatte. Sein Leben hat er selbst so zusammengefasst: »Je älter ich werde, je tiefer empfinde ich, dass alles Glück und Gnade ist, das Kleine so gut wie das Große«. »Mit 59 Jahren«, heißt es in der journalisti­schen Würdigung, »hatte er den ersten seiner bekannten Romane veröffentlicht, und mit 75 Jahren erschien der berühmteste (Effi Briest), und erst mit 78 Jahren der wohl schönste (Der Stechlin)«. Damit werden die Erkenntnisse der Gerontologie (Alterswissenschaft) bestätigt, dass familiäre Bindungen, eine Selbstreflexion und ein gesam­meltes Wissen Voraussetzung sind für dichterische Produktivität. Heute gilt Theodor Fontane jedenfalls als der größte deutsche Romancier seiner Zeit, als ein »Chronist des sogenannten bürgerlichen Zeitalters«.

Es geht bei den tieferen Gedanken Fontanes vielfach um das Altern, einen Prozess, der in der Gegenwart, verursacht durch die gestiegene Lebenserwartung der Menschen, eine immer größere Bedeutung erlangt. Es ergeben sich neue Fragestellungen: Wie gehen wir mit dem eigenen Altern um? Realisieren wir denn überhaupt, dass wir im Gegensatz zu früheren Generationen im Durchschnitt älter werden als diese? »Aber warum eigentlich«, fragt Publik-Forum, »wird so oft über alte Menschen gesprochen, aber eben kaum mit ihnen? Warum spricht man stereotyp von den Alten und nicht von ihren individuellen Stärken, Erfahrungen und Einschätzungen?« Mir scheint, dass dieses Fehlen einer Antwort von dem sich dauernd steigernden Ideal des Jungen und Jugendlichen verursacht wird, dem sich die tägliche Publi­zistik doch vor allem anderen verschrieben hat. Könnte nicht, so möchte ich fragen, das »ge­mäßigte« Tempo der Älteren der so wahnwitzig beschleunigten Gegenwartswelt ausgleichend gegenüber stehen? Es ist heutzutage so oft von den »Kosten« und der »Last« des Alters die Rede - aber kaum von dessen Würde, Beispiel und Daseinssinn.

Unser Blick auf das Endliche, auf das Sterben und das Danach ist für mich meisterlich ausgedrückt in Fontanes Gedicht »Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland«. Als sein Tod naht, verfügt der gütige alte Schlossherr, dass noch ein Birnbaum auf seinem Grab gepflanzt werden soll. Er sah zu Lebzeiten gewissermaßen schon über seinen Tod hinaus auf die Welt danach, und dass auch zukünftig Kinder sich an den süßen Früchten des Baumes erfreuen könnten, und dass sein eigenes Leben dadurch eine Fortsetzung finden würde.

Ist das bei alten Menschen nicht immer schon der heiß ersehnte Wunsch, dass die künftig Lebenden auf die ihnen Vorangegangenen mit Dank und Freude zurückschauen würden, dass der Verstorbene nicht vergangen und vergessen ist, sondern dass er etwas hinterlässt, das die ihm Nachkommenden an ihn erinnert, an seine Zuneigung und an seine Liebe, mit der er die Zukünftigen bedacht hat. Fontanes Gedicht hat es veranschaulicht:

 

Und die Jahre gehen wohl auf und ab,
längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab,
und in der goldnen Herbsteszeit
leuchtet′s wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung′ übern Kirchhof her,
da flüstert′s im Baume: »Willste ′ne Beer?«
Und kommt ein Mädel, so flüstert′s:
»Lütt Dirn, kumm man röwer, ick gew di ′ne Birn.«
So spendet Segen noch immer die Hand
des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.

 

Kann man es denn schöner ausdrücken als in diesen einfachen Versen, dass das mensch­liche Leben eine Fortsetzung findet in dem Leben der nächsten Generation? Und haben wir, wenn wir die »Nachgeborenen« sind, nicht immer wieder Anlass, auf die vor uns Lebenden zurückzuschauen, auf ihre Arbeit, ihr Streben und ihre Vorsorge für die nach ihnen Kom­men­den? Vielleicht gelangt diese Vorsorge für die Kommen­den meist in einem zu geringen Maß in unser Bewusstsein. Wir sollten wohl öfter an den hier vorgestellten Dichter denken und an den Birnbaum auf dem Grab des »Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland«.

Peter Lange

Die Energiewende beginnt in den Köpfen

Um das Ziel einer Begrenzung der globalen Erwärmung um 2 Grad gegenüber der vorindu­striellen Zeit einzuhalten, muss bis 2050 eine weltweite CO2-Neutralität erreicht werden, d.h. die CO2-Menge in der Atmosphäre darf dann nicht mehr steigen. Dieses Ziel hat auch der EU-Ministerrat im Vorfeld der UN-Klimakonferenz im Dezember 2019 vorgegeben. In Deutschland ist aktuell vorgesehen, die Treibhausgasemissionen (vor allem CO2) gegenüber dem Refe­renzjahr 1990 um 55 Prozent zu senken. Angesichts dieser ehrgeizigen Zielmarken sollten wir uns bewusst machen, dass wir faktisch täglich mit unserem Handeln darüber entscheiden, wieviel CO2 wir erzeugen. Dazu brauchen wir konkrete Informationen, welches Produkt oder welche Leistung in der Herstellung und Nutzung welche Menge CO2 verbraucht. Denn in der Regel kennen wir zwar den Preis eines Produktes, aber nicht den damit verbundenen CO2-Ausstoß - eine Art »CO2-Preisschild« fehlt noch weitgehend. Deshalb hier ein paar einfache Kennzahlen, die ich dem Infobrief einer Solarfirma bzw. der Homepage des Umweltbundes­amtes entnommen habe: Der CO2-Verbrauch pro Person in Deutschland betrug im Jahr 2018 im Schnitt 8,6 t (weltweit 4,8 t); das entspricht einem Tagesverbrauch von ca. 23,6 kg. Um das 2-Grad-Ziel zu erreichen, dürfen pro Person und Jahr aber nur noch 2,0 t Kohlendioxid ausge­stoßen werden, das entspricht pro Tag ca. 5,5 kg. Der gegenwärtige Ausstoß von Treibhaus­gasen muss also um mehr als drei Viertel verringert werden.

Setzt man hierzu einige CO2-Emissionen von Produkten und Dienstleistungen des Alltags in Beziehung, so wird deutlich, welch drastische Umstellung uns allen bevorsteht:

Konsum: Wenn man in der Metzgerei ein Kilo Rindfleisch aus Baden-Württemberg kauft, dann wurden hierfür durch Produktion und Einkaufsfahrt bereits 14 kg CO2 verbraucht; bei Schweinefleisch sind es immerhin noch 6 kg. Mit anderen Worten: Das Rindfleisch »ver­braucht« das CO2-Budget von drei Tagen. Bei Rindersteaks aus den USA oder Argentinien ist das Missverhältnis natürlich noch krasser.

Elektrogeräte: Ein alter Kühlschrank mit Gefrierfach Klasse A+ verbraucht pro Jahr rd. 150 kg CO2 (ohne Produktion des Geräts), also fast den CO2-»Bedarf« eines Monats. Ersetzt man ihn durch einen neuen der Klasse A+++, reduziert sich der CO2-Fußabdruck um etwas mehr als die Hälfte.

Stromerzeugung: Ein deutscher 2-Personen-Haushalt verbraucht pro Jahr durchschnittlich etwa 3.000 kWh elektrische Energie. Für den aktuellen Strommix in Deutschland hat das Um­weltbundesamt für das Jahr 2018 einen direkten CO2-Ausstoß von 474 g pro kWh errechnet, das sind rd. 1.422 kg/Jahr bzw. 3,9 kg pro Tag - also schon zwei Drittel des für das Jahr 2050 angestrebten täglichen CO2-Ausstoßes. Durch den Wechsel zu einem Ökostromanbieter lässt sich der Ausstoß um über 90 Prozent reduzieren. Deshalb ist der rasche Ausbau erneuerbarer Energien von entscheidender Bedeutung.

Heizung: Eine Ölheizung mit Brennwertkessel in einem Einfamilienhaus hat einen jährlichen Energiebedarf von etwa 23.000 kWh bei einem CO2-Ausstoß von ca. 300 g/kWh; daraus errechnet sich ein CO2-Ausstoß von ungefähr 6,9 t/Jahr, bei drei Bewohnern sind das ca. 2,3 t/Jahr oder 6,3 kg/Tag, damit schon mehr als das angestrebte tägliche CO2-Budget. Mit einer zusätzlichen Solarthermieanlage lässt sich der Energiebedarf um rund ein Viertel, mit einer strombasierten Wärmepumpe sogar um fast 60 Prozent senken. Die Umstellung auf eine Holz­pellets-Heizung würde trotz des höheren Energiebedarfs wegen der faktischen Klimaneutralität des Brennstoffs Holz sogar zu einer Absenkung des CO2-Ausstoßes um knapp 90 Prozent führen - allerdings mit der Folge einer erheblich höheren Feinstaubbelastung.

Verkehr: Neben der Energieerzeugung und dem Gebäudesektor ist insbesondere der Ver­kehrs­bereich für den Ausstoß von Treibhausgasen verantwortlich, zumal der Verkehr zu rd. 95 Prozent von fossilen Brennstoffen abhängig ist. Zwar sanken die Treibhausgasemissionen pro Fahrzeug seit 1995 bei PKW um ca. 15, bei LKW sogar um 30 Prozent, allerdings wurde diese Reduzierung mehr als ausgeglichen durch die Zunahme der Verkehrsleistungen insgesamt, bei PKW um knapp 30 Prozent, beim Straßengüterverkehr sogar um mehr als 70 Prozent. Bei der Verkehrsmittelwahl wird daher künftig der Ausstoß von Treibhausgasen eine größere Rolle spielen müssen - notfalls wird der Gesetzgeber mit Hilfe der geplanten CO2-Bepreisung nach­helfen. Grob gerechnet stößt ein PKW durchschnittlich knapp 150 g Treibhausgase pro Perso­nenkilometer aus; die Bahn weist bei dem aktuellen Strommix einen wesentlich niedrigeren Ausstoß von rd. 30 g/Pkm auf, ähnlich der Fernlinienbus. Bei einem Inlandsflug sind es dagegen stattliche 230 g/Pkm. Für den Flug Stuttgart-Berlin kann man also einen CO2-Ausstoß von rd. 100 kg veranschlagen.

Jörg Klingbeil

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