Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 176/12 - Dezember 2020

 

 

Im Anfang war das Wort - Karin und Christine Klingbeil

Bloß keine stille Nacht! - Britta Baas

Die Macht der Zunge - Peter Lange

Der bestirnte Himmel und das Sittengesetz - Wolfgang Pfüller

Sieger bei den 2020 Westfield Local Heroes - Karin Klingbeil

Der neue Propst in Jerusalem - Jörg Klingbeil

Auf der Suche nach dem Jerusalemer Gemeindehaus - Jörg Klingbeil

Im Anfang war das Wort

Zu Weihnachten feiern wir die Geburt Jesu - zumeist denken wir dabei an die Legende, wie sie bei Lukas erzählt wird, die als Weihnachtsgeschichte in unsere Tradition eingegangen ist. Bei dem Evangelisten Johannes finden wir allerdings eine andere "Geburtsgeschichte" vor. Im Prolog des Johannesevangeliums heißt es:

 

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts ge­macht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen. ...und etwas später: Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.

 

Dieser sehr transzendente Text ist Weihnachts- und Schöpfungsgeschichte zugleich, denn er besagt, dass alles, was in unserer Welt ist, durch Gottes Wort (griechisch: logos) in diese Welt gekommen ist. Wir erinnern uns an den Schöpfungsbericht im Alten Testament: » ... und Gott sprach: es werde ...« - so nimmt die Schöpfung ihren Lauf; durch den Logos wird nach dem Willen Gottes alles erschaffen. Im Logos ist das Leben enthalten und das Licht, das sich gegen die Finsternis durchsetzt und das die Menschen erleuchtet.

"Logos" ist ein Wort mit einem breiten Bedeutungsspektrum, besonders philosophische und religiöse Prinzipien werden damit bezeichnet. So hat es unterschiedliche Bedeutung in der griechischen Philosophie bei Heraklit, bei den Sophisten, bei Platon, Aristoteles, in der Stoa, im Mittel- und Neuplatonismus - zumeist geht es um das auf unterschiedliche Weise verstan­dene Verhältnis der materiellen zur immateriellen Realität. Dabei konnte der Logos eine ver­mittelnde Instanz zwischen dem transzendenten Gott und der sichtbaren Wirklichkeit darstel­len. Auch Gottheiten konnten als Repräsentanten des Logos verstanden werden - dabei ist die Vorstellung, dass Götter in Menschengestalt auftreten, der griechischen Philosophie und Kultur nicht fremd.

In den jüdischen Schriften ist mit Logos häufig die zugrunde liegende Wirklichkeit gemeint; besonders wird dabei die Wirkmächtigkeit der Worte Gottes hervorgehoben. Beispiele dafür sind, wie oben erwähnt, die Schöpfung, außerdem ganz konkret auch die Zehn Gebote. Eine besondere Stellung nimmt hier die jüdische Weisheitsliteratur ein. Dabei stellt sich die Weisheit (Gottes) als Schöpfungsmittlerin und Herrscherin dar, die den Willen Gottes in der Welt aus­führt; gleichzeitig weisen die Vorstellungen, die mit dem Logos im Prolog des Johannesevan­geliums verbunden sind, eine wichtige Parallele auf. Andersherum ist der Logos eng mit den Attributen der Weisheit ausgestattet.

Auch im Neuen Testament wird Logos als Bezeichnung für das Wort Gottes verwendet, im Sinne der heiligen Schrift oder im Sinne einer Offenbarung oder Botschaft Gottes. Dabei ist das Wort Gottes häufig die christliche Verkündigung.

Höhepunkt des Prologs im Johannesevangelium ist die Aussage, dass das Wort Gottes Fleisch, also Mensch geworden ist, unter den Menschen gelebt hat und sie in ihm die Herrlich­keit Gottes erfahren konnten. Aber weiter wird auch ausgesagt, dass das Licht in der Welt gewesen sei, aber die Welt es nicht erkannte, dass er in sein Eigentum kam, aber die Seinen ihn nicht aufnahmen. Die ihn aber annahmen, wurden zu Gottes Kindern. Mit diesen Worten wird eindeutig das Kommen Jesu in die Welt beschrieben. Er wurde als der verstanden, der wie kein König Israels, kein Prophet zuvor, den Willen Gottes erkannte und sein Wort tat und verkündete, in liebender Zuwendung zu den Menschen, und zwar ganz besonders zu denen, die am Rand der Gesellschaft lebten.

Von diesem Sprachgebrauch aus ist der Weg nicht mehr sehr weit, um Jesus Christus selbst als das Wort Gottes in Person zu verstehen, als denjenigen, der durch seine Existenz, sein Leben, Wirken und Verkündigen die Botschaft Gottes zu den Menschen bringt. Zwar wird die Bezeichnung Logos für Jesus im weiteren Verlauf des Johannesevangeliums nicht mehr verwendet, aber Jesus betont immer wieder, dass er gekommen sei, Gottes Wort zu verkündi­gen und Gottes Werke zu wirken, so dass das Verhältnis von Gott und Jesus sich bei Johan­nes als Einheit im Wirken beschreiben lässt. Das wird durch die Aussage, dass der Logos bereits im Anfang, als die Welt noch nicht existierte, bei Gott war, noch verstärkt.

Für Johannes liegt dieser Beginn, dieser neue Anfang, wie bei Markus auch, zu dem Zeitpunkt, als Jesus sich von Johannes dem Täufer taufen ließ. Danach beginnt die Sammlung der Jünger und das Wirken Jesu - ohne dass vom Aufenthalt Jesu in der Wüste die Rede wäre. Das wiederum ist für uns wichtig, weil wir diesen Wüstenaufenthalt so verstehen, dass sich Jesus hier seiner Sendung bewusst wurde.

Dagegen beschreiben Matthäus und Lukas Jesu Geburt - die im Wissen, wer da geboren wurde, nachträglich mit vielen wundersamen Ereignissen ausgeschmückt worden ist. Aber auch für uns Templer, die wir Jesus nicht als Gott selber ansehen und ihn auch nicht anbeten, hat diese Geburt ihren Zauber.

Eine Geburt als solche ist immer etwas Besonderes, bedeutet nicht nur ein neues Leben, sondern in diesem Anfang eines Erdenlebens liegt ja auch ein unvorstellbares Potential des­sen, was aus diesem Leben werden wird. Mit dieser Thematik hat sich Christine beschäftigt. Da sie selber vor gut zwei Jahren Mutter geworden ist, berührt sie das Thema Geburt in be­sonderer Weise.

Christine: »Jede Geburt kommt für die werdenden Eltern einem Wunder gleich, kaum eine Hebamme, die nichts Spirituelles mit sich bringt. Da ist auf einmal dieser ganz neue kleine Mensch, der das Leben seiner Eltern für immer auf den Kopf stellt. Wir beWUNDERn dieses neue Leben. Was uns verwundert oder wunderbar erscheint, nennen wir oft Wunder. Fast schon inflationär sprechen wir von den Wundern der Technik, der Medizin oder sonstigen wissenschaftlichen Phänomenen oder Errungenschaften. Dabei spricht man vom Wunder vor allem, wenn etwas den Gesetzen der Wissenschaft zu widersprechen scheint. Wir sehnen uns nach einem Beweis, aber ein wesentlicher Aspekt des Wunders ist doch dessen Unbeweis­barkeit. Der Theologe Uwe Birnstein sagt dazu: "Wunder lassen sich nur erfahren. Sie führen auch nicht zum Glauben - sie setzen den Glauben vielmehr voraus.

Ich für meinen Teil empfinde neues Leben durchaus als Wunder - auch wenn mir völlig klar ist, welche biochemischen und physiologischen Prozesse für dessen Entstehung vonnöten sind. Das nimmt ihm aber nicht den Zauber. Im Gegenteil: Da ist eine Kraft am Werk, die ist größer als wir. Die Komplexität dieses schöpferischen Aktes lässt mich ganz demütig werden. In diesem neuen Leben liegt all unsere Hoffnung, unsere bedingungslose Liebe und das Po­tential der ganzen Welt.

Der weltberühmte Cellist Pablo Casals fand dafür die folgenden Worte: „Wir sollten zu je­dem von ihnen sagen: Weißt du was du bist? Du bist ein Wunder! Du bist einzigartig. In all den Jahren, die vergangen sind, hat es nie ein Kind wie dich gegeben. Deine Beine, deine Arme, deine geschickten Finger, die Art wie du dich bewegst. Aus dir kann ein Shakespeare werden, ein Michelangelo, ein Beethoven ... Du hast die Fähigkeit zu allem. Ja, du bist ein Wunder. Und wenn du aufwächst, kannst du dann jemandem Schaden zufügen, der wie du ein Wunder ist? Du musst daran arbeiten - wir alle müssen daran arbeiten - , dass die Welt ihrer Kinder würdig ist.

Erstaunlich ist, dass gerade die Geburt Jesu, die eigentlich völlig im Dunkeln liegt, das Hauptfest der Christenheit geworden ist. Aber - und gerade auch mit der Tradition des Schen­kens - ist das genau Ausdruck dafür, dass die Christenheit im Herzen verstanden hat, worum es Jesus ging, was das Zentrum seiner Botschaft ist, wofür er gelebt hat - und gestorben ist: sein völlig vorurteilsfreies Zugehen auf die Menschen, der Respekt, mit dem er ihnen allen begegnete, gleich, woher sie kamen oder welche Stellung sie in der Gesellschaft innehatten. Dabei wandte er sich besonders denen zu, die unter etwas zu leiden hatten - einer Krankheit, dem Ausschluss aus der Gesellschaft, Schulden und Schuld. Seine Worte ermutigten, trösteten und heilten - an Leib und Seele. Am deutlichsten äußerte das der Hauptmann von Kapernaum, der in höchster Not um seinen kranken Knecht zu Jesus gekommen war, und zu ihm sagte: Herr, ich bin es nicht wert, dass du unter mein Dach einkehrst; aber sprich nur ein Wort, dann wird mein Diener gesund! (Mt 8,8). Jesus nahm Menschen mit ihren Schwächen und Fehlern, ihren Sehnsüchten und ihrer Hilfsbedürftigkeit wahr und an, aber er erkannte auch das Potential, das in jedem steckte, und vermochte durch seine Worte, ihre seelischen Selbstheilungskräfte zu aktivieren und sie so an Leib und Seele heil zu machen. Er war wie vielleicht nur wenige ein Mensch des Gesprächs: des Zuhörens einerseits und andererseits des kraftvollen Wortes, das zutraf, tröstete, ermutigte, heilte, provozierte und befreite - das etwas bewirkte. Sein Wort war und ist glaubhaft, weil er lebte, was er von den Menschen forderte: vertraut euch selbst, dem Nächsten und Gott - verwirklicht und lebt die Liebe!

Wir alle haben Sehnsucht vor allem nach Liebe und Bestätigung und den Wunsch von an­deren angenommen zu werden. Weihnachten macht uns das ganz bewusst und lässt uns gleichzeitig auch selbst den Wunsch spüren, unseren Mitmenschen Gutes zu tun und ihnen unsere Liebe auch zu zeigen. Natürlich wäre es traurig, wenn das nur zu Weihnachten geschehen würde, aber zu Weihnachten versuchen wir ganz besonders, geheime Wünsche unserer Liebsten zu erfüllen, uns füreinander Zeit zu nehmen, Freunden eine Freude zu bereiten und Bedürftigen mit einer Spende zu helfen.

Dass dabei Worte nur unser sprachlicher Ausdruck für die Zuwendung zu unseren Mitmen­schen sind und dass unendlich viel auch ohne Worte beim anderen ankommt, wenn wir uns ihm zuwenden und Zeit und Aufmerksamkeit für ihn und seine Situation aufbringen, zeigt die folgende Geschichte.

Karin und Christine Klingbeil in der Weihnachtsfeier 2019

Jenseits von Worten

»Wie schwer es doch ist, jung zu sein«, sagt Father O’Shea und erzählte dann von der ersten Patientin, zu der man ihn als Krankenhausgeistlichen gerufen hatte. Noch sehr jung und eifrig war er an das Krankenlager einer Frau gegangen, die einer schweren Operation unterzogen werden sollte und die jetzt steif vor Angst in ihrem Bett lag. Kaum hatte er sich zu ihr gesetzt, da sagte sie auch schon: »Father, ich habe das sichere Gefühl, dass ich morgen sterben werde.«

Während seiner Ausbildung war er auf eine solche Situation nicht vorbereitet worden, und nun hatte er absolut keine Ahnung, wie er reagieren sollte. Um seine Verwirrung zu überspie­len, ergriff er erst einmal ihre Hand. Da begann sie zu erzählen. Er hörte ihr kaum zu und suchte in seinem Gedächtnis krampfhaft nach irgendwelchen Worten des Trostes aus der christlichen Tradition, nach Aussprüchen von Teresa von Avila oder Jesus. Vorher waren sie ihm noch alle präsent gewesen; aber nun waren sie wie weggewischt.

Die Frau sprach weiter und weinte auch etwas; sein Herz öffnete sich für sie in ihrer Todes­furcht. Schließlich schloss sie die Augen und er benutzte diese Gelegenheit, um Gott um Hilfe zu bitten, um die Worte, die ihm fehlten. Doch ihm fiel nichts ein. Endlich schlief sie einfach ein und er ging, überzeugt, nicht das Zeug zum Priester zu haben. Tagelang machte er sich schmerzliche Gedanken über seine Unzulänglichkeit und über seine Berufung. Er hatte sich zu sehr geschämt, um die Frau noch einmal aufzusuchen.

Doch einige Wochen später erhielt er einen Brief von ihr, in dem sie sich für all die wunder­vollen Dinge bedankte, die er während seines Besuches für sie getan hatte, und ganz beson­ders für das, was er zu ihr gesagt hatte, Worte des Trostes und der Weisheit. Sie würde sie niemals vergessen. Und dann zitierte sie ausführlich, was sie ihn hatte sagen hören.

Father O’Shea begann zu lachen. »Das ist schon so lange her«, sagte er immer noch lachend. »Gott sei Dank, dass wir nie wieder so jung sein können.« Er hielt inne, um sich die Augen zu wischen. »Wissen Sie«, sagte er dann, »im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass Gott, wenn ich darum bete, jemandem dienen zu können, manchmal Ja sagt und manchmal Nein - und sehr oft auch: Geh mal zur Seite, Patrick. Ich mache das selber.«

Rachel Naomi Remen, aus dem "anderen Adventskalender" 2019, gekürzt

Bloß keine stille Nacht!

Corona bleibt, Weihnachten kommt. Wird der Heilige Abend ein Fest - oder ein Fiasko? Schon jetzt bibbern Kirchenfunktionäre: Was tun, wenn die Kirchenfernen die Bänke stürmen?

Stellen Sie sich vor, es ist Weihnachten - und keiner geht hin. Die Kirchenbänke bleiben leer. Oder genauer: Nur jeder dritte Platz ist besetzt, jede zweite Bank bleibt gänzlich frei. Ordner kontrollieren, ob der vorgeschriebene Abstand von 1,5 Metern zwischen den Besuchern eingehalten wird. Singen ist verboten, einander berühren auch. Vorn verkündet der Pfarrer die Weihnachtsbotschaft: »Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt!« Alle Welt möge sich freuen. Aber bitte: Bloß nicht zusammen jubeln! Keine Umarmungen, keine Küsse. Das Virus lauert überall. Nicht auszudenken, wenn ausgerechnet die Stille Nacht zum Corona-Hot­spot würde!

So oder so ähnlich muss man sich den Heiligen Abend vorstellen, wenn die Angst vor dem Virus die Oberhand über das Fest gewinnt...

Britta Baas

 

Dieser Artikel ist für die Internetausgabe der »Warte« leider nicht freigegeben. Lesen Sie den vollständigen Artikel in der gedruckten Ausgabe der »Warte« oder in »Publik-Forum«, kri­tisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 18/2020, Seite 10.

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Die Macht der Zunge

»Jede Art von Tieren wird gezähmt vom Menschen, aber die Zunge kann kein Mensch zäh­men. Mit ihr loben wir den Herrn und Vater, und mit ihr fluchen wir die Menschen, die nach dem Bilde Gottes gemacht sind. Aus einem Mund kommt Loben und Fluchen. Das soll so nicht sein, liebe Brüder. Lässt die Quelle aus einem Loch doch nicht süßes und bitteres Wasser fließen?« (Jak 3,8-11)

 

Es ist ein bedeutsamer Brief, der als Jakobusbrief in die Reihe der »katholischen«, d.h. als wichtige Jesus-Verkündigung an die ganze Christenheit gerichteten Briefe aufgenommen und doch von Martin Luther als »stroherne Epistel« an die drittletzte Stelle der neutestamentlichen Schriften gesetzt worden ist. Viele kennen vermutlich das Wort Jesu im Matthäus-Evangelium, dass nicht das, was zum Mund hineingeht, den Menschen unrein mache, sondern das, was aus dem Mund herauskommt.

Die Bibel versteht unter »Zunge« Sprache, Redefähigkeit, Ausdrucksmöglichkeit. Im Jako­busbrief ist im Bild der Zunge speziell Beurteilung, Meinungsbildung, Beeinflussung gemeint, was im gesellschaftlichen Umgang mit anderen eine vorherrschende Rolle spielen kann. Der Zunge wird damit ein hohes Maß an Wirkung und Verantwortung zugewiesen. Unsere Zunge ist, so gesehen, nicht nur das Organ, mit dem wir sprechen und mit anderen Menschen kom­munizieren, sie ist auch das Mittel, mit dem wir unseren Standpunkt im Leben und in der Welt definieren und bestimmen. Leider können solche Positionierungen auch dazu missbraucht werden, Mitmenschen zu beeinflussen und zu bedrängen, um Macht über sie zu gewinnen.

Sicher fallen uns dazu zahlreiche Beispiele aus dem politischen Leben der Völker ein. Erle­ben wir nicht allzu oft die Auswirkungen solcher missbrauchter Macht oder hören davon? Wir Älteren werden an vergangene Zeiten erinnert, als sprachgewandte Menschen durch ihre Rhetorik - ihre »Zunge« - andere Menschen in Abhängigkeit, Not und Verzweiflung geführt haben. Und auch heutzutage gibt es Staatenlenker, die ihr Volk mit Parolen und unbewiesenen Behauptungen auf ihre Seite zu bringen versuchen.

Die Sprache gibt uns zwar die wichtige Möglichkeit, mit anderen Menschen Gedankenaus­tausch zu treiben und so zu neuen Zielen, Stimmungen, Überzeugungen zu gelangen, doch wir können auf diese Weise auch andere bedrängen, schädigen oder in eine Abhängigkeit füh­ren. Deshalb gilt es, jedes unserer Worte abzuwägen, ob es dem Angesprochenen nützt oder ob wir ihn damit vielleicht nötigen. Unsere Zunge kann zum Heilen, aber auch zum Verletzen gebraucht werden. Das sollten wir bedenken, ehe ein Wort, eine Äußerung oder eine Beurtei­lung unseren Mund verlässt.

Peter Lange

Der bestirnte Himmel und das Sittengesetz

Zur Religiosität Ludwig van Beethovens

Ludwig van Beethoven, idealisierendes Gemälde von Joseph Karl Stieler, um 1820 (Quelle: Wikimedia Commons)
Quelle: Wikimedia Commons

Ludwig van Beethoven wurde vor 250 Jahren, im Dezem­ber 1770, in Bonn geboren. Anlass genug, diesen vielleicht größten europäischen Komponisten zu würdigen. Dies soll mit dem nachfolgenden - hier gekürzten - Beitrag von Dr. habil. Wolfgang Pfüller, Vorstandsmitglied des Bundes für freies Christentum, Dozent, Pfarrer i.R. und Organist, ge­sche­hen, der in der Zeitschrift des Bundes "Freies Chris­tentum", Heft 6/2020, erschienen ist.

Beethoven stammte bekanntlich aus dem Rheinland, war mithin selbstverständlich katholisch. Er begann seine beruf­liche Laufbahn als Organist am Hofe des Kurfürsten und Erzbischofs von Köln; er komponierte zwei Messen und sorgte auch für eine gut katholische Erziehung seines Neffen und Ziehsohnes Karl. Freilich wird man Beethovens Religiosität kaum als traditionell katholisch bezeichnen können. Das kirchliche Leben mit seinen Traditionen spielte für ihn nur eine geringe Rolle, und noch weniger dürften ihn die kirchlichen Dogmen berührt haben. Umso mehr prägten ihn bereits in seiner Bonner Zeit die Ideale der Aufklärung und der Französischen Revolution, war er fasziniert vor allem von den Ideen Kants und Schillers. Zudem zeigte sich Beethoven in seinen späteren Jahren zu­nehmend aufgeschlossen für fernöstliches, hinduistisches Gedankengut. Dies wiederum kor­respondiert mit gewissen Zügen von Naturfrömmigkeit, die bei Beethoven sehr stark ausge­prägt sind. ( ...) Im Folgenden soll Beethovens Religiosität anhand der Stichworte »Natur«, »Aufklärung« und »Helden« erläutert werden.

Natur

Beethovens Schulbildung muss man wohl als eher mangelhaft einstufen. Demzufolge fiel ihm etwa das Rechnen zeitlebens schwer, und seine Rechtschreibung und mehr noch seine Hand­schrift waren geradezu berüchtigt. Jedoch war Beethoven ein eifriger Leser und hat sich auf diese Weise ein beträchtliches Maß an literarischer bzw. geistiger Bildung angeeignet. Einen entscheidenden Anteil seiner Bildung bezog Beethoven allerdings aus der unmittelbaren An­schauung der Natur. Diese inspirierte ihn nicht nur, was kompositorische Ideen anging, son­dern - wie Zeugen notierten - auch in Bezug auf seine Religiosität. Auf einem seiner stunden­langen Spaziergänge äußerte er etwa: »Wenn ich am Abend den Himmel staunend betrachte und das Heer der ewig in seinen Grenzen sich schwingenden Licht-Körper ( ...), dann schwingt sich mein Geist über diese so viel Millionen Meilen entfernten Gestirne hin, zur Urquelle, aus welcher alles Geschaffene entströmt und aus welcher ewig neue Schöpfungen entströmen werden.« Und in sein Skizzenbuch notierte er 1815 bei einem Gang auf dem Kahlenberg: »Ich bin selig, glücklich im Wald - jeder Baum spricht durch dich. O Gott, welche Herrlichkeit, in einer solchen Waldgegend, in den Höhen ist Ruhe - Ruhe ihm zu dienen.« Hier ordnet sich etwa auch Beethovens 6. Sinfonie, die sog. Pastorale, mit identifizierbaren Naturlauten ein, »die dem Zweck dient, die Hörer in die Natur zu geleiten und zugleich zu motivieren, zur Verehrung Gottes in der Natur fortzuschreiten« (Martin Geck: Beethoven. Der Schöpfer und sein Universum, 2020).

Schließlich soll Beethoven bereits als Kind und junger Mann in Bonn vom Dachboden aus sehr eingehend den Sternhimmel betrachtet haben. Dazu passen nicht nur mehrere Exzerpte aus Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Dazu passt vor allem seine Vertonung von sechs Gedichten von Christian Fürchtegott Gellert, und hier vor allen andern in strahlendem C-Dur die Nr. 4 »Die Ehre Gottes aus der Natur« mit den bekannten Eingangs­worten: »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre«.

Aufklärung

Besonders in seiner Geburtsstadt Bonn wurde Beethoven durch wesentliche Gedanken der Aufklärung nachhaltig geprägt. Wie viele Zeitgenossen schwärmte er für die Philosophie Kants und mehr noch für die Werke Schillers. So wollte man nicht nur das Licht der Vernunft in ob­skures menschliches Denken hineintragen, wollte man nicht nur den Schöpfer in den bewun­dernswerten, zweckmäßigen Werken der Natur erkennen; sondern man wollte nicht zuletzt die moralische Besserung, die Humanisierung des »Menschengeschlechts« befördern.

Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Beethoven als Nr. 2 seiner Gellert-Lieder die erste Strophe des Liedes vertonte, dessen Text ( ...) auch heute noch im Evangeli­schen Gesangbuch zu finden ist (EG 412): »So jemand spricht "Ich liebe Gott", und hasst doch seine Brüder, der treibt mit Gottes Wahrheit Spott und reißt sie ganz darnieder. Gott ist die Lieb und will, dass ich den Nächsten liebe gleich als mich.« »Brüderlichkeit« nahm Beethoven nicht nur als Leitwort der Französischen Revolution auf, er akzentuierte es auch in seiner Textauswahl aus Schillers Ode an die Freude in der 9. Sinfonie. Hier ist es dann die geradezu überwältigende göttliche Freude, die alle Menschen zu Brüdern werden lässt, ( ...) miteinander verbindet in einem Bund, der als erfülltes menschliches Leben das erstrebenswerte Ziel menschlichen Lebens überhaupt darstellt.

Auch wenn Beethoven vor allem aufgrund seiner zunehmenden Taubheit vielen nicht selten als Misanthrop erschien, war er dies doch keineswegs. ( ...) Jedenfalls war es sein stetiges Be­mühen, sich selbst und andere moralisch zu bessern. Das belegen nicht nur seine so ziemlich erfolglosen, weil zu ehrgeizigen Erziehungsversuche an seinem Neffen Karl. Das belegt nicht nur seine auffallende sittliche Strenge gegenüber seinen beiden jüngeren Brüdern ( ...). Das belegt vor allem sein hoher Anspruch, den er an seine Musik stellte. Beethoven wollte mit seiner Musik keineswegs bloß zur Erbauung oder gar zur Unterhaltung beitragen, obwohl es natürlich auch solche Kompositionen von ihm gibt. Ihm ging es jedoch vor allem darum, die Menschen auf dem überaus beschwerlichen Weg zu ihrer moralischen Vervollkommnung, zu ihrer Humanisierung, voranzubringen. Beethoven verstand seine Musik als Sendung, sein dementsprechendes Bewusstsein betrachtete er als Adel des Geistes, der ihn ohne Weiteres über den Adel seiner Zeit erhob. Hierzu Martin Geck: »Kein Komponist redet und agiert so ersichtlich im Zeichen künstlerischer Freiheit wie Beethoven. Es geht freilich nicht nur um die Freiheit von, sondern auch um die Freiheit zu etwas - nämlich zu großen Ideen, welche den Menschen und die Menschheit weiterbringen. Auch die Musik wird nun als Sendung verstan­den.« Bezeichnend sind an dieser Stelle auch einige kritische Bemerkungen Beethovens zu Mozart, den er im Übrigen außerordentlich schätzte. Während Beethoven in seiner einzigen Oper Fidelio das Ideal unverfälschter, treuer Gattenliebe propagierte, meinte er, dass er Opern wie Don Juan oder Figaro nicht komponieren könne, da ihm solche Stoffe zu leichtfertig seien.

Zwei damalige Theologen übten auf Beethoven einen kaum zu überschätzenden Einfluss aus: Christoph Christian Sturm (1740-1786) und Johann Michael Sailer (1751-1832). Es waren dabei freilich nicht theologische, vielmehr Erbauungsbücher, die Beethoven ausgiebig genutzt hat bzw. die ihn inspiriert haben. Sturms Betrachtungen der Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung auf alle Tage des Jahres scheint Beethoven zumindest vorübergehend geradezu als Andachtsbuch gedient zu haben, wie viele Unterstreichungen bezeugen. Dabei ging es Beethoven offensichtlich um zwei Hauptgedanken: zum einen um die Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer der Wunder der Natur; zum anderen aber um die Frage nach dem richtigen Handeln im menschlichen Zusammenleben.

Aus Sailers Schriften wiederum hat sich Beethoven vor allem reichlich für seine Sammlung von Sinnsprüchen bedient; hier ein Beispiel: »Die rechte Musik ist im Menschen drin. Wo Einklang des Herzens mit dem heiligen Gesetze, da die rechte Harmonie zwischen Gott und dem Menschen, da die schönste Musik.« Hier wie bei Sturm zeigt sich eine aufgeklärte Frömmigkeit, die den Menschen am Leitfaden der göttlichen Schöpfung, besonders ihrer wei­sen Einrichtung, zum rechten Handeln und somit, was Beethoven natürlich vor allem interes­siert, zu einer Gott und dem Menschen gemäßen Musik führen will. Weder bei Sturm noch bei Sailer fand Beethoven demnach eine traditionelle »Dogmengläubigkeit, sondern eine geradezu aufgeklärte Theologie der religiösen Erfahrung« (Martin Geck).

Helden

Meist werden die Jahre 1800-1810 als »heroische Epoche« in Beethovens Schaffen bezeich­net, die besonders geprägt ist von seiner 3. wie von seiner 5. Sinfonie (»Eroica« und »Schick­salssinfonie«). Aber heldenhafte Charaktere waren für Beethoven ( ...) weit darüber hinaus von immenser Bedeutung. Denn sie waren für ihn jeweils Verkörperungen der Humanität. Dabei waren damals wohl vor allem der antike Prometheus sowie der Zeitgenosse Napoleon maßge­bend. Dass Beethoven diesem zunächst die Eroica widmen wollte, ist bekannt - wie auch, dass er diese Widmung (wutentbrannt?) tilgte, da Napoleon s. E. die Ideale der Französischen Revolution bzw. der Republik verraten hatte, nachdem er sich selbst zum Kaiser ernannte. Davon unberührt bleibt die Bewunderung Beethovens für Napoleon, die nicht zuletzt darauf beruht, »dass dieser sich nicht infolge erblicher Privilegien, sondern aufgrund seiner strategi­schen Fähigkeiten zum Herrscher Europas hat aufschwingen können und sich dabei für grund­legende gesellschaftliche Umwälzungen eingesetzt hat« (Martin Geck). In diesem Zusammen­hang ist dann auch die antike Gestalt des Prometheus zu sehen.

Freilich, je länger desto mehr traten anders geartete Sinnbilder der Humanität für Beethoven in den Vordergrund, bedingt sicher durch eigene leidvolle Erfahrungen mit zunehmender Taub­heit sowie anderen empfindlichen gesundheitlichen Beschwerden, aber auch mit Enttäuschun­gen in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen. Infolgedessen konnte dann eher der home­rische Odysseus zur Leitfigur werden. ( ...)

In diesen Zusammenhang scheint mir schließlich auch Christus zu gehören. Bereits in sei­nem Oratorium Christus am Ölberge von 1803/1804 sieht Beethoven Christus weniger als Sohn Gottes als vielmehr als leidenden, kämpfenden, sich Gott ergebenden Gerechten. ( ...) Sicher kann man behaupten, dass Beethoven in seiner Missa solemnis über diese Art der Verehrung hinausgeht, weil hier der Glaube an Christus stark betont wird. Gleichwohl wird man diesen Glauben auch hier nicht traditionell dogmatisch, sondern als Verehrung für den helden­haft leidenden Gerechten verstehen dürfen.

Schluss

»Der bestirnte Himmel über uns, und das Sittengesetz in uns, Kant!!!« Diese Eintragung findet sich in Beethovens »Tagebuch« (1812-1818). ( ...) Mit dieser prägnanten Formulierung sind die beiden Leitlinien von Beethovens Religiosität ziemlich genau bezeichnet. Auf der einen Seite erbaut sich Beethoven an der Schönheit der Natur in ihren reichen irdischen und himm­lischen Erscheinungen. Auf der anderen Seite steht für ihn die Reinheit des Sittengesetzes, strebt er nach Vervollkommnung seiner selbst wie anderer - wobei er sich nicht zuletzt an heldenhaften Charakteren orientiert - und will mit seiner Musik die Humanität befördern. ( ...) Zu würdigen ist, dass Beethoven die göttliche Wirklichkeit nicht nur in der Natur, sondern auch in herausragenden Persönlichkeiten der menschlichen Geschichte findet, und dass Christus für ihn dabei zweifellos an einer der vordersten Positionen steht.

Wolfgang Pfüller (Überarbeitung: Jörg Klingbeil)

Sieger bei den 2020 Westfield Local Heroes

Seit 2018 lobt die Firma Westfield, die Einkaufszentren in Australien und Neuseeland betreibt, jedes Jahr in den Einzugsbereichen ihrer Niederlassungen einen Preis für Initiativen aus, die einen positiven Effekt auf ihre Umgebung haben. 2020, in dem Jahr, in dem die Initiative der TSA "CHAMPION" ihren siebten Geburtstag feierte, gehörte sie zu den drei Siegern von Knox. In der Präsentation der Sieger auf der Westfield Local Heroes-Internetseite heißt es:

»Als Martina Eaton feststellte, dass viele Men­schen durch das Raster fallen, weil sie nicht die Vo­raussetzungen für Unterstützungsleistungen erfül­len, richtete sie bei der Gemeinde die zentrale Aus­gabestelle ein, um betroffenen Familien zu helfen, Essen auf den Tisch zu bringen. »Ich habe be­schlossen, einen Dienst anzubieten, der diesen Mit­gliedern der Gemeinde nicht nur mit Lebensmittel­paketen hilft, sondern auch mit Unterstützung in Kri­sen, in die sie geraten sind«, sagt Martina Eaton, die bei der Temple Society Australia Sozialbetreue­rin ist. So können Familien auch bei Ausgaben für Schulbücher oder Fahrten zu Vorstellungsgesprächen Hilfe bekommen.

CHAMPION besteht seit sieben Jahren und steht für Community Hub And Meeting Place In Our Neighbourhood (Gemeindezentrum und Treffpunkt für unsere Nachbarschaft) und unter­stützt im Monat 300 Betroffene.

Sieger bei den 2020 Westfield Local Heroes (Foto: Privat)
Foto: Privat

Martina ist besonders stolz darauf, dass CHAM­PION auch die dringend benötigte soziale Interak­tion ermöglicht und ein Ort ist, an dem sich Men­schen willkommen und unterstützt fühlen. Sie sam­melte Spenden, um einen Gemeinschaftsgarten an­zulegen, in dem Gemüse angebaut und die Menge an Speiseresten und Gartenmaterial, die auf Depo­nien landen, reduziert werden können. »Wir ermuti­gen unsere Besucher bei CHAMPION, an Garten­veranstaltungen teilzunehmen, damit sie soziale Kontakte haben, aktiv sind und von frischen Le­bensmitteln profitieren, die sie selbst angebaut ha­ben«, sagt Martina.

Westfield Local Heroes werden von ihren Distrik­ten nominiert und gewählt, wobei die drei besten Fi­nalisten pro Westfield Center jeweils einen Zu­schuss von 10.000 US$ für ihre Organisation erhalten. Die Temple Society wird den Gewinn verwenden, um einen neuen Kühl- und Gefrierschrank zu kaufen. Auf diese Weise kann sie mehr Menschen in Not mit Kühl- und Tiefkühlkost versorgen und ihnen helfen.«

Außerdem soll damit die Bezahlung von Mitarbeitern finanziert werden, damit CHAMPION einen weiteren Vormittag oder Nachmittag pro Woche öffnen kann, um Bedürftigen zu helfen.

In der Novemberausgabe des Templer Talk bedankt sich Martina Eaton bei allen, die für sie gestimmt, ihre posts in den sozialen Netzwerken geteilt und ihr ermutigende Nachrichten geschickt hätten. Sie sei davon überwältigt, diese Auszeichnung gewonnen zu haben, und überlege gerade mit ihrem Team, wie sie die angebotenen Dienste optimieren könnten. »Unser oberstes Ziel dabei ist natürlich, unsere Besucher zu stärken und ihnen die Chance zu bieten, Fähigkeiten auszubilden, ihre seelische Gesundheit zu verbessern und ihre soziale Isolation zu reduzieren. Wer eine Idee einbringen möchte, möge bitte mit mir Kontakt aufnehmen«.

Karin Klingbeil

Joachim Lenz - der neue Propst in Jerusalem

Seit dem 1. August 2020 ist Joachim Lenz neuer Propst der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache zu Jerusalem.

Der aus dem Rheinland stammende Pfarrer war zuvor zehn Jahre lang als Pastor für den Evangelischen Kirchentag und von 2015 bis 2019 als Theologischer Vorstand und Direktor bei der Berliner Stadtmission tätig. Er folgt damit Wolfgang Schmidt nach, der im Vorjahr nach sieben Jahren Amtszeit nach Deutschland zurückkehrte und nun für die Bildungs- und Erziehungsarbeit in der Badischen Landeskirche verantwort­lich zeichnet.

Im August gab es einen kleinen Einführungsgottesdienst in der Erlöserkirche, bei dem zugleich der Interimspropst der elf vorangegangenen Monate, Dr. Rainer Stuhlmann, verabschie­det wurde. Wegen der Corona-Pandemie verlief der Start für Joachim Lenz naturgemäß völlig anders als geplant. So musste er sich gleich nach der Ankunft im Heiligen Land für zwei Wochen in Quarantäne begeben. Und da die Infektions­zahlen in Israel weltweit mit am höchsten ist - auf der West­bank und im Gazastreifen sieht es übrigens nicht besser aus -, brachte die Corona-Pandemie auch das Gemeindeleben nahezu zum Erliegen. Der Sonntags­gottesdienst in der Erlöserkirche war zwischenzeitlich nur denen möglich gewesen, die in der Altstadt wohnen, das wären lediglich vier Personen gewesen; deshalb fand der Gottesdienst im Internet statt. Gemeindeabende, Konzerte, Gespräche und Besuche - all dies lag brach. Es kommen zur Zeit weder Besuchergruppen noch Volontäre, weder Pilger noch Touristen ins Heilige Land. So sei die Gemeinde plötzlich sehr klein geworden und die Gemeindeange­hörigen lebten über ein großes Gebiet verteilt. Aber - so Joachim Lenz - was für die Gemeinde traurig und schwierig ist, sei für die Nachbarn in der Altstadt existenzbedrohend; dort sind die meisten Läden seit Monaten geschlossen.

Die verwaiste Altstadt (Foto: Im Land der Bibel, Heft 3/2020)
Foto: Im Land der Bibel, Heft 3/2020

Hierzu Joachim Lenz: »Ohne den Blick auf die verschlossenen Geschäfte im Muristan und ohne die manchmal unwirkliche Stille in der Altstadt wäre es eine unbeschwerte Anfangszeit gewesen.« Auch die eigenen Mitarbeiter aus den palästinensischen Gebieten seien an den Kontrollpunkten morgens nicht nach Jerusalem hi­neingelassen worden. Die Arbeitslosenquote hat in Israel inzwi­schen die 20-Prozent-Grenze überschritten. Am 18. Oktober 2020 wurde der Lockdown in Israel wieder etwas gelockert; so können zum Beispiel Gottesdienste unter Wahrung des gebotenen Ab­stands im Kreuzgang der Erlöserkirche stattfinden. Unter freiem Himmel dürfen sich derzeit nur 20 Menschen versammeln, in ge­schlossenen Räumen (auch Kirchen) nur zehn. Die für den Re­formationstag geplante gottesdienstliche Einführung von Propst Joachim Lenz wurde bis auf weiteres verschoben. Umso mehr freut er sich darauf, die Stadt Jerusalem und das Heilige Land wieder bevölkert und ohne Angst vor Ansteckung zu erleben - und mit vielen ins direkte Gespräch zu kommen.

Jörg Klingbeil

NEUES AUS DEM ARCHIV

Auf der Suche nach dem Jerusalemer Gemeindehaus

Hin und wieder wird unser Archiv mit Fragen konfrontiert, deren Beantwortung auch für uns zu überraschenden Ergebnissen führt. So richtete vor kurzem die Doktorandin Zofia Durda, die sich mit der Templerarchitektur im Heiligen Land befasst, an uns die schlichte Frage, wo denn der Versammlungsraum der Jerusalemer Templergemeinde war, bevor das dortige Gemeinde­haus errichtet wurde; sie habe in der »Warte« gelesen, dass dieser Raum nach Fertigstellung des Gemeindehauses verkauft werden sollte.

Das war neu für mich. Ich kenne natürlich den »Saal« an der Ecke Betlehem- /Rephaim-Straße. Ich las auch in Peter Langes Ausarbeitung über »Die deutschen Handwerker von Jerusalem« (Warte-Beilage Nr. 14/2008), dass sich die deutschen Siedler zu sonntäglichen Versammlungen anfangs bei Christian Eppinger und dann bei Paul Aberle bis 1874 regel­mäßig trafen, als auf der neu gegründeten Kolonie ein Versammlungshaus entstanden sei. War das der gemeinte Vorgängerbau? Wo lag er? War er tatsächlich verkauft worden? Doch der Reihe nach.

Die Anfänge der Templersiedlung an der Emek Rephaim sind auf das Jahr 1873 zu datie­ren. Da legte Matthäus Frank aus Neuffen am 25. April den Grundstein für ein Wohnhaus und eine Mühle. Das Gebäude mit der Türüberschrift »Eben Ezer« wurde zur Keimzelle der neuen Kolonie und steht heute noch. Zwei Jahre später standen bereits sieben Gebäude und in der »Süddeutschen Warte« vom 23. September 1875 wird angekündigt, dass der Bau eines »kleineren Gemeindehauses« in Angriff genommen werden solle, auch für Versammlungen der Gemeinde und des Jünglingsvereins. Das scheint zügig umgesetzt worden zu sein, denn in der Ausgabe vom 9. März 1876 ist zu lesen, dass der neuen Siedlung inzwischen »das Gemeindehaus mit dem Versammlungssaal hinzugefügt« worden sei; am Neujahrstag (1876) habe dort die erste Gemeindeversammlung stattgefunden. Zwei Jahre später verlegte Chris­toph Hoffmann die Leitung der Tempelgesellschaft und die höhere Tempelschule, für die ein Schulhaus mit Internat rechtzeitig fertig wurde, nach Jerusalem. 1882 kam ein zweites Schul­gebäude hinzu.

In der »Warte des Tempels« vom 26. April 1883 wird über die Konfirmation am 1. April 1883 in Jerusalem berichtet. Wegen der zahlreichen Teilnehmer sei der Gemeindesaal zu klein gewesen; deshalb sei man in den größeren »Vereinssaal« ausgewichen, der mit 250 Personen aber auch gedrängt voll gewesen sei. Das habe die Notwendigkeit eines größeren Versamm­lungssaals in Jerusalem drastisch vor Augen geführt. Da dieser für Zusammenkünfte aller Ge­meinden gedacht sei, sollten sich auch alle Tempelgemeinden finanziell daran beteiligen. Durch den Verkauf »unseres gegenwärtigen Versammlungshauses« könnten ungefähr 5.000 Frcs zusammengebracht werden. Durch diesen Betrag und freiwillige Beiträge der Jerusale­mer Mitglieder könne der Bau eines Saales für 500-600 Personen unschwer realisiert werden.

Kolonie Rephaim um 1890 (Foto: TGD-Archiv)
Foto: TGD-Archiv

Bereits in der »Warte des Tempels« vom 7. Juni 1883 wird berichtet, dass der Plan eines Gebäudes für »allgemeine Tempelfeste des Orients und Occi­dents« inzwischen beschlossen, eine Baukommis­sion gebildet und Theodor Sandel mit der Planung beauftragt worden sei. Der Bauplan sei schon bewil­ligt und die geschätzten Kosten in Höhe von 20.000 Frcs durch freiwillige Spenden voraussichtlich ge­deckt. Hinzu komme noch »der Erlös vom seitherigen Gemeindehaus der Jerusalemer Ge­mein­de« in Höhe von 4.500 Frcs. Die Bauarbeiten seien bereits in Angriff genommen worden, so dass mit der Fertigstellung dieses neuen »Tempelgesellschaftshauses« bis zum Tempelfest im Herbst d.J. zu rechnen sei. Das Tempelfest wurde dann zwar wegen des Ausbruchs der Cholera in Ägypten abgesagt, aber mit dem Bau ging es flott weiter. In der »Warte« vom 17. Januar 1884 wird über die feierliche Einweihung des »Tempelgesellschaftshauses« am dritten Adventssonntag (16. Dezember 1883) berichtet.

Die Beschreibung des Gebäudes und das Foto aus dem Jahr 1890 machen deutlich, dass das »Tempelgesellschaftshaus« mit dem heute noch bestehenden »Saal« identisch ist. Und der Vorgängerbau? Hier hilft ein Blick auf den Plan der Kolonie Jerusalem (Stand: 1939) wei­ter. Denn dort ist südlich des »Saales« ein Gebäude mit der Bezeichnung »Gemeindehaus« verzeichnet. Auf dem Foto von 1890 handelt es sich um das eingeschossige Gebäude direkt links neben dem »Saal«, den heute die armenische Gemeinde als Gotteshaus nutzt. Es wurde - nach Jakob Eisler - nach der Fertigstellung des »Saals« doch nicht verkauft, weil durch die Spenden der Templer, nicht nur in Palästina, sondern auch in Deutschland, den USA und Russland, genügend Geld zusammenkam, um den Neubau zu finanzieren.

Bleibt noch zu klären, wo denn der 1883 für die Konfirmation genutzte große »Vereinssaal« lag. Hier wäre beispielsweise an die bei den Kolonisten sehr beliebte Schankwirtschaft von August Lendholt auf der Kolonie zu denken, bei dem sich viele Jahre der deutsche Gesang­verein und der Freie Deutsche Verein trafen.

Jörg Klingbeil

Hinweis

Im letzten Heft habe ich beim Beitrag »Hoffnung lässt nicht zuschanden werden« von Dr. Andreas Rössler den Nachweis falsch angegeben. Zwar ist dieser Beitrag durchaus in der Zeitschrift des Bundes »Freies Christentum. Auf der Suche nach neuen Wegen« Nr. 32/1980 erschienen, entnommen wurde er aber dem neuen Buch von Andreas Rössler »Denkwege eines freien Christentums«.

Dieses Buch wurde von Raphael und Werner Zager herausgegeben und ist 2020 im Verlag Traugott Bautz erschienen (ISBN 978-3-95948-462-6).

Zum 80. Geburtstag des Autors haben der Präsident des Bundes für Freies Christentum und sein Sohn eine Auswahl seiner zahlreichen Beiträge in der Zeitschrift, deren Schriftleitung er selber von 2004-2012 innehatte, zusammengestellt. Diese decken mit dem Zeitraum von 1969 bis 2019 ein halbes Jahrhundert ab und - wie es im Geleitwort der Herausgeber heißt - »fügen sich ... zu einer Glaubenslehre im Geiste des liberalen Protestantismus. Dabei werden kritische Anfragen nicht ausgeklammert, sondern redlich erörtert, um zu tragfähigen Antworten zu gelangen. Zugleich ist ein weiter Horizont zu erkennen, der religiöse, theologische und philosophische Perspektiven mit einbezieht. So ist es für Rössler charakteristisch, dass er in seinen kirchen-, theologie- und philosophiegeschichtlichen Betrachtungen stets darauf bedacht ist, Bezüge zur eigenen Gegenwart aufzuzeigen«.

Karin Klingbeil

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