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Was ist von ihm geblieben? - Peter Lange
Vom Ernst der Nachfolge - Teil 2 - Brigitte Hoffmann
»Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!« - Jörg Klingbeil
Weiteres vom Fußballplatz und von den Eukalyptusbäumen in Wilhelma - Theo Klink
In der Dezember-Ausgabe der »Warte« haben wir eine Charakterisierung Christoph Hoffmanns durch den viele Jahre mit uns befreundeten freichristlichen Pfarrer Georg Schneider (1902-1986) veröffentlicht. In der vorliegenden Ausgabe wollen wir nun mit der Gedenkansprache vom 6. Dezember 2015 auch unsererseits eine Würdigung folgen lassen.
Christoph Hoffmann hat mit seinem Ruf nach Erneuerung christlichen Lebens und der »Sammlung des Volkes Gottes in Jerusalem« viele Zeitgenossen in seinen Bann gezogen. Wir können uns heute kaum mehr vorstellen, wie intensiv die Diskussionen und Auseinandersetzungen über seine Reformideen damals im Land geführt wurden. Besonders jüngere Menschen waren von ihm und seiner Ausstrahlung angezogen. Sie hörten über andere von ihm oder lasen seine Vorstellungen in der »Süddeutschen Warte«. Sie glaubten fest an die Möglichkeit, im Zusammenwirken mit Gleichgesinnten im sozialen Leben etwas bewegen zu können. Sie vertrauten ihm und nahmen in seiner Nachfolge gravierende Änderungen ihres Lebens in Kauf.
Einer der Nachrufe an seinem Grab auf dem Tempelfriedhof in Jerusalem vor 130 Jahren zeigt ganz deutlich dieses Vertrauensverhältnis zu dem »dahingeschiedenen Lehrer und Führer«. Es heißt dort zu Beginn:
Er war der Führer unsrer Jugendjahre
und zeigte uns das höchste Menschensein.
Er malte uns das Schöne, Gute, Wahre,
die falsche Hülle riss er ab dem Schein;
sein helles Auge suchte nur das Klare,
was lauter ist und was von Trübung rein,
damit des Irrtums dunkle Wolke schwinde,
damit der Mensch den Weg zum Glücke finde.
Gleichzeitig mit seiner großen Ausstrahlung auf viele in seiner Umgebung erntete Hoffmann aber in kirchlichen Kreisen viel Widerspruch. Sein Beharren auf der durch die alttestamentlichen Propheten untermauerten Welt- und Zukunftsschau trugen ihm häufig Feindschaft, Spott und Häme ein, nicht zu vergessen sei hier die kurze Zeit nach Siedlungsbeginn in Palästina erfolgte Trennung zahlreicher Mitglieder vom Tempel wegen seines Zerwürfnisses mit seinem ehemaligen Freund Georg David Hardegg.
Kennzeichnend ist für Hoffmanns Persönlichkeit, dass nichts, aber auch gar nichts, auf die Befriedigung selbstsüchtiger Wünsche hinweist. Im Gegenteil, er hatte allem, was man heutzutage unter »Karriere« versteht, eine Absage erteilt. Als sein Bruder Wilhelm einmal bei ihm in Kirschenhardthof zu Besuch war, konnte dieser sein Erschrecken kaum in Worte fassen, dass Christoph mit seiner Familie dort in solch ärmlichen Verhältnissen hauste. »Was hättest du nicht alles werden und bewegen können«, sprach er den Bruder an, »wenn du dich nicht in so viele Auseinandersetzungen begeben hättest!« Christoph hatte bekanntlich trotz bestandenem Theologie-Examen keine Pfarrstelle angetreten, vielleicht, weil er dadurch in Kollision mit eigenen Zielsetzungen geraten wäre. Einige Anstellungen, wie die in der Pilgermission Sankt Chrischona bei Basel, scheiterten letztlich an seinen Plänen für eine christliche Sozialreform, die er mit seinen Freunden in Ludwigsburg ernsthaft weiter verfolgt hatte. Jedenfalls fehlte es ihm an einem geregelten Einkommen für sich und seine Familie. In der Kirschenhardthof-Zeit waren es hauptsächlich die Einnahmen aus den Abonnements der »Warte« gewesen, auf die er sich stützen konnte.
Seinen Mitmenschen in Liebe zu dienen, wie es der Apostel Paulus im Galaterbrief sagt, das war das Ziel all seiner Bemühungen. »Lebt aus der Kraft, die der Geist Gottes gibt« - unter diesem Motto hat Christoph Hoffmann die Mühen der Siedlungsgründung angepackt. Und er hat nie aufgegeben. War er in jüngeren Jahren streitbar gewesen und hatte er seine Autorität allzu oft seinen Gemeinde-Ältesten gegenüber durchzusetzen versucht, so reifte er doch am Ende zu einem Menschen, der die Realität der Welt mit in sein Kalkül zog. Bei einer der letzten Gemeindeversammlungen vor seinem Tode äußerte er sich wie folgt:
»Im Tempel muss Glaubensfreiheit herrschen. Es soll einer dem andern kein Leid antun, sondern wir sollen als Brüder miteinander leben. Ich glaube, die verschiedenen Ansichten über die Bibellehren werden sich ausgleichen, ohne dass jemand seine Gedanken umdrehen müsste. Ich habe früher nach Erscheinen der »Sendschreiben« verlangt, dass die Ältesten im Tempel mit mir in den dort gegebenen Darlegungen, namentlich in Bezug auf die sogenannten Sakramente, übereinstimmen sollten, und wer dies nicht könne, müsse sein Ältestenamt im Tempel niederlegen. Ich würde diese Forderung heute nicht mehr stellen. Mein Rat ist: Seid geduldig und vertragt euch untereinander! Wenn man auch glaubt, dass einer etwas Falsches behauptet, so wird es die Zeit klar machen.«
Ich denke, dass die auf ihn folgenden Tempelführer weitgehend diesem Rat gefolgt sind. Und wenn wir hier in Stuttgart eine enge Verbindung zum Bund für Freies Christentum pflegen, dem zahlreiche kirchliche Vertreter angehören, dann ist das ein Zeichen dafür, dass wir heutzutage auch so denken. Denn die geistige Freiheit, die von Hoffmann auf uns als heute lebende Templer überging, ist eines der Dinge, die von ihm geblieben sind. Sie ist unser Merkmal, auch wenn wir uns der Grenzen dieser Freiheit bewusst sind, und auch wenn diese Glaubensfreiheit heutzutage nicht mehr die Anziehungskraft früherer Epochen ausübt und weniger Mitglieder und Sympathisanten anlockt.
Andere Glaubensüberzeugungen, die Hoffmanns Leben geprägt hatten, wie zum Beispiel sein Bezug auf die Verkündigung der altisraelitischen Propheten und die zentrale Bedeutung der Stadt Jerusalem für den Glauben, haben wir inzwischen verlassen. Die weltliche Stadt Jerusalem kann für uns keinesfalls mehr den Sammlungsort einer Glaubensbewegung bedeuten. Auch Christoph Hoffmann hat sich in seinem späteren Leben hinsichtlich Jerusalem konzilianter gezeigt. So stammen die Bemerkungen von ihm: »Kein Ort ist heiliger als der andere« und »Der Tempel kann an jedem Ort der Erde gebaut werden«. Doch er war es jedenfalls, der damals Jerusalem zum Sitz des Tempels erklärt hatte, und er lebte und starb dort.
Wir können noch andere Punkte anführen, bei denen wir heute Hoffmann nicht mehr folgen können und wollen. Doch es sind viele Anstöße von ihm für uns auch weiterhin geblieben. Was in meinen Augen das Allerwichtigste seiner Gedanken und Initiativen für unsere Gegenwart darstellt, ist die Bedeutung, die er der christlichen Gemeinde zugemessen hat. In einem schon sehr frühen Vortrag von ihm von 1854, also aus der Zeit noch vor der Gründung des Tempels, spricht er davon, dass die erste Gemeinde der Christenheit »eine Gesellschaft, ein engvereinigtes Ganzes« war, und folgert daraus, »dass Jesus Christus eine solche Vereinigung der Menschen will«.
Wenn unser Glaube auf Jesus von Nazareth ausgerichtet ist und auf seine Verkündigung des Gottesreichs, dann müssen wir die nach seinen Worten entstandene christliche Gemeinde ernstnehmen. Für Christoph Hoffmann, der durch sein Aufwachsen in Korntal schon auf ein Leben in der christlichen Gemeinde vorbereitet worden war, war es eine Selbstverständlichkeit. Noch vor der Tempelgründung entstand in Kirschenhardthof der erste Versuch einer Gemeindebildung. Es mag in dieser Gemeinde vielleicht manche Unverträglichkeiten und Spannungen gegeben haben, doch gleichzeitig waren die Mitglieder durch die dort entstandenen Schulen auf eine Verbesserung ihrer Beziehungen zueinander ausgerichtet gewesen. Einer der späteren Pioniere des Tempels in Palästina sagte später über seine Erfahrungen mit Kirschenhardthof: »Heilige habe ich hier keine gefunden, habe aber auch keine gesucht. Was meine Person betrifft, so danke ich Gott, dass er mich hierher geführt hat, in eine Gemeinde, wo die höchsten und schönsten Ziele der Menschheit angestrebt werden.«
Auf die Probegemeinde in Kirschenhardthof folgten zahlreiche Gemeindebildungen der Templer in Palästina, in Nordamerika und in Südrussland - und letzten Endes dann in Stuttgart sowie in Melbourne, Sydney und Adelaide. So sehr der Rückblick heutiger Templer auf die früheren Gemeinden neu hinzu gekommene Mitglieder mitunter stören oder nerven mag, so hat dieser Rückblick doch seinen Wert und seine Bedeutung. Wir wollen damit herausfinden, was es war, das damals zur engeren Verbindung der Gemeindeglieder zueinander geführt und was dem Einzelnen dadurch ein Gefühl der Geborgenheit und Heimat gegeben hat. Ich kann mich noch genau daran erinnern, was nach der Fertigstellung unseres Degerlocher Gemeindehauses ein älteres Mitglied damals zu mir sagte: »Jetzt weiß ich, wo ich hingehöre.«
Zum Schluss nicht zu vergessen: noch etwas Weiteres ist uns von ihm geblieben - die gläubigen und vertrauensvollen Verse nämlich, die Christoph Hoffmann 1855 nach Beendigung seiner Tätigkeit in der Pilgermission Sankt Chrischona auf dem Weg nach Ludwigsburg verfasst hatte und die er als »die Losung des Volkes Gottes« bezeichnete und die wir bis heute in unseren Gemeinden noch singen (beispielhaft hier der 9. Vers):
Nach dem hohen Ziele richte aus dem Staub sich unser Blick!
Unsre Seele sinn‘ und dichte nur das ewig wahre Glück.
So messen wir richtig die Güter der Erde,
wir lernen zu scheiden das Glas von dem Gold;
uns schreckt und uns lockt nicht die eitle Gebärde,
wir fragen nach dem nur, was Jesus gewollt.
Nach einer Gottesdienstansprache (gekürzt) von Peter Lange am 6. Dezember 2015 in der Tempelgemeinde Stuttgart
Fortsetzung aus der Mai-«Warte«
Es gibt bei allen drei Synoptikern eine Berufungsgeschichte, die wir meist nicht als solche lesen, die aber für dieses Thema wichtig ist: die vom reichen Jüngling. Auch er kommt von sich aus zu Jesus und fragt: »Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben erbe?« Der Ausdruck »das ewige Leben erben« ist oft ein Synonym für die Teilhabe am Reich Gottes - denn dann würde es ja keinen Tod mehr geben. Jesu Antwort heißt mehr oder weniger: Halte die Gebote. Er zählt einige auf, darunter auch »Ehre Vater und Mutter« und fügt sie dann zusammen im Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Aber der Jüngling ist damit nicht befriedigt: »Das habe ich alles gehalten von Jugend an«. Nur bei Markus folgt hier ein Satz, der - ob echt oder nicht - wichtig ist, für die Situation und für uns: »Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb.« Er hat erkannt, dass es dem Jüngling Ernst ist, dass er mehr tun will als nur brav die Gesetze zu halten und sich damit das ewige Leben zu erkaufen. Und dann erst sagt er: »Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen. Dann komme und folge mir nach«. Dazu fand sich der Jüngling nicht bereit. Es heißt von ihm »Er ging traurig hinweg«. Jesus selbst wahrscheinlich auch.
Der Text liefert zum Weggang des Jünglings auch die Begründung »denn er hatte viele Güter« und damit den Ansatzpunkt für ein wenig überzeugendes Gespräch zum Thema: Reichtum verbaut den Zugang zum Reich Gottes. So wird diese Szene fast immer gelesen und kommentiert: »Die Gefahr des Reichtums«. Auch wenn das wohl teilweise stimmt, bleibt es hier eine bloße Behauptung.
Für mich liegt der Schwerpunkt in dem Gespräch Jesu mit dem Jüngling anderswo. Zum einen: Jesus verurteilt den Jüngling nicht, er schickt ihn auch nicht weg. Er lässt ihn, den er lieb gewonnen hat, einfach gehen - traurig. In dieser Trauer wird etwas spürbar von der Zwiespältigkeit, die in der Forderung nach einer absoluten, durch nichts eingeschränkten Nachfolge liegt. »Lass alles hinter dir, hier und jetzt, und folge mir nach!« Dieses »alles« ist ja nicht nur der Besitz, es sind auch alle bisherigen menschlichen Beziehungen. Die Verfasser unseres Spruchs über die Nachfolge spürten den Zwiespalt wohl nicht. Für sie gab es nur das Ideal der totalen Nachfolge. Die zwei, die um Aufschub baten, spürten ihn.
Deshalb ist das wichtigste an der Szene mit dem reichen Jüngling der Verlauf des Gesprächs. Auf dessen Frage nach dem ewigen Leben antwortet Jesus zunächst mit dem Hinweis auf die Gebote. Indirekt heißt das: auch dieser Weg kann zur Teilhabe am Gottesreich führen oder schon jetzt ein Stück dieses Teilhabens sein. Erst als der Jüngling mehr will, folgt das viel bekanntere »Verkaufe alles, was du hast...«
Will man aus diesen zwei so unterschiedlichen Aussagen Jesu eine Maxime machen, so kann sie nur heißen: es gibt nicht nur einen, sondern (mindestens) zwei Wege - und es wird nicht gesagt, welches der bessere sei. Und das bedeutet wohl, dass jeder das für sich selbst entscheiden muss.
Die Forderung, dass neben der Verkündigung des Gottesreichs nichts anderes Raum haben dürfe, entspricht eigentlich unserem Leitspruch: Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes. Trotzdem empfinde ich zwischen beidem nicht nur einen Unterschied, sondern einen tiefen Gegensatz.
»Trachtet am ersten...« - das ist die große Leitlinie, aber sie ist offen, sie setzt keine einengenden Beispiele, sie gibt uns Freiheit, die Freiheit, zu denken und nach Erkenntnis zu streben, die Freiheit, in jeder Situation selbst zu entscheiden, was wir für gut oder böse erachten, die Freiheit, Fehler zu machen und vielleicht daraus zu lernen. Das ist oft unbequem und manchmal sehr belastend, aber das macht unsere Würde als Menschen aus.
Dem gegenüber ist die Forderung nach der Absolutheit der Nachfolge eng. Die Extrembeispiele unseres Textes setzen den Rahmen: Selbst die Nächstenliebe, der Kern der Lehre Jesu, wird zum störenden Hindernis deklassiert. In der Rede bei der Aussendung der 72 sagt Jesus u.a.: »grüßt unterwegs niemanden«. Zur Erklärung muss man dazu sagen - manche von uns haben es sicher schon selbst erlebt: wenn man auf einsamen Wanderungen oder kaum befahrenen Straßen jemandem begegnet, ist es auch heute noch selbstverständlich, dass man ihn grüßt und meist auch noch ein paar Worte wechselt. Wenn das den Jüngern untersagt wird, kann es eigentlich nur heißen: kümmert euch nicht um diese Einzelnen, das lohnt sich nicht. Geht möglichst schnell in Städte und Dörfer, da habt ihr mehr Publikum. Zugegeben, das ist meine boshafte Formulierung. In biblischer Sprache würde es heißen: lasst euch durch nichts ablenken von eurer Mission der Verkündigung. Das Ergebnis ist das gleiche.
Das ist unbarmherzig nicht nur gegenüber diesen Einzelnen, sondern gegenüber uns allen oder fast allen, die wir eine so kompromisslose Nachfolge nie werden erreichen können; z.T. aus Bequemlichkeit, z.T. aus sehr respektablen Gründen wie Arbeit, Familie und Fürsorge für Andere, z.T. aber auch, weil wir, vielleicht unbewusst, eine solche Enge nicht wollen. Wir wollen ein Leben nach der Anleitung Jesu führen, aber wir wollen auch noch vieles andere: andere Menschen und Kulturen kennenlernen, wandern oder Sport treiben, uns freuen an einem Fußballspiel oder einer Oper, einem Buch oder an fröhlicher Geselligkeit und, und, und ... Manchmal habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen. Aber ist das wirklich schlecht?
Ich komme noch einmal auf das Gespräch zwischen Jesus und dem reichen Jüngling zurück und auf Jesu doppelte Antwort auf die Frage nach dem ewigen Leben. Schon die Reihenfolge im Erzählrahmen suggeriert: die erste Antwort - das Halten der Gebote - ist die Sparversion für religiös Minderbemittelte, für Normalbürger wie uns, die zu mehr nicht fähig sind. Der Königsweg zum Gottesreich ist die zweite Antwort, das Wegschenken allen Besitzes und der bedingungslose Aufbruch. So haben es wohl die damaligen Hörer und die späteren Leser verstanden: die meisten Bücher des Neuen Testaments und unsere Gesangbücher bringen wieder und wieder entsprechende Aufrufe. Ich lese oder singe sie, bin vielleicht kurz beeindruckt - und gehe zur Tagesordnung über. Mit meinem Alltag haben sie nichts zu tun.
Für den anderen Weg, den Jesus aufzeigt, gilt das nicht. Er ist alltagstauglich und praktikabel. »Halte die Gebote«. Dass damit nicht die über 600 Einzelvorschriften absolut gesetzt werden, wissen wir aus vielen Worten und Handlungen Jesu. Gemeint ist, was er als das oberste und höchste Gebot bezeichnet hat: die Gottes- und die Nächstenliebe. Und für den, der mit dem Begriff Gottesliebe nichts anfangen kann, heißt es an einer anderen Stelle: »Wenn er seinen Nachbar nicht liebt, den er sieht, wie soll er Gott lieben, den er nicht sieht?«. Beides hängt untrennbar zusammen. Wenn wir versuchen, Nächstenliebe zu üben, können wir erfahren, dass die Freude des anderen auf uns zurückstrahlt, und diese doppelte Freude erleben als ein kleines Schrittchen hin zu einem kleinen Stück Reich Gottes im Hier und Jetzt.
Das ist der Weg, dem wir als Templer folgen. Oder es zumindest anstreben. Für die Prediger der absoluten Nachfolge gibt es nur den einen wahren Weg zum Gottesreich, alles andere ist Schwäche oder Eingebung des Bösen, die den Weg zum Gottesreich versperrt. Am erschreckendsten sagt es der letzte Satz:
»Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes«.
Das ist ein Verdammungsurteil und zugleich ein Denkverbot. Denn nur im Rückblick lässt sich wenigstens teilweise erkennen, wo der Weg, den man gegangen ist, gut oder schlecht oder kontraproduktiv war, d.h. ob und wo er in der Realität uns dem Ziel näher gebracht oder uns davon entfernt hat. Wo wir diese Überprüfung an der Realität verweigern, laufen wir Gefahr, das Ziel zu verfehlen. Das lässt sich an der Geschichte des Christentums ebenso ablesen wie an der politischer Systeme.
Jesus hingegen sagt dem Jüngling zwei Wege, die zum Gottesreich führen können. Mehr als einen - dann kann es vielleicht auch drei oder fünf oder 100 geben, und jeder kann anders oder ein bisschen anders sein.
Und es bleibt offen, ob einer davon uns vielleicht unserem Ziel näher bringt, an einem Ort und für eine begrenzte Zeit die Welt ein bisschen Reich-Gottes-ähnlicher zu machen.
Anders ausgedrückt: der Weg zum Gottesreich, oder zu ein bisschen mehr Gottesreich ist immer offen, für alle, für Einzelne und für Gruppen, für »Sünder« und »Gerechte«. Das hat Jesus nicht nur gelehrt, das hat er gelebt. Er hat mit Sündern und Zöllnern gegessen, und er hat von der Prostituierten, die seine Füße wusch, gesagt: »Ihr ist viel vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt«. Dann aber ist Reich Gottes nie ein Zustand vollkommener Harmonie und Belohnung (auch wenn es bei den Evangelisten oft so erscheint), sondern immer ein Weg, den man immer wieder neu gehen muss, in ganz kleinen Schritten oder manchmal auch in großen, um real und erfahrbar zu werden.
Das steht im Gegensatz zu unserem Text und seiner Forderung der totalen Nachfolge. Trotzdem glaube ich, dass dieser Text in seinem Kern echt ist. Keiner der Jünger hätte eine solche Provokation gewagt. Und wenn wir auch nur eines der Evangelien oder gar alle vier (Johannes bietet sowieso eine ganz andere Sicht) im Zusammenhang lesen, stoßen wir laufend auf Widersprüche, die sich nicht dadurch weg erklären lassen, dass wir die Worte, die jeweils nicht in unser Konzept passen, ohne plausiblen Grund für unecht erklären. Unsere Welt (besser: unsere Sicht der Welt) ist lebendig, weil sie aus Widersprüchen besteht. Und diese Widersprüche finden wir auch bei Jesus: zwischen Liebe und Gerechtigkeit, zwischen Vorherbestimmung (Gottes Wille) und jederzeit möglicher Gnade, zwischen Gehorsam und Freiheit.
Ich habe oben gesagt: Gott hat uns die Fähigkeit und Freiheit zur Entscheidung gegeben. Sie ist begrenzt durch Veranlagung, Erziehung, Umstände und vieles andere, das wir gar nicht kennen. Das gilt auch für diejenigen, die die totale Nachfolge fordern, für sich selbst leisten können und wollen. Auch sie haben ein Stück Freiheit praktiziert, ihre Entscheidung getroffen, im Glauben, damit Gottes Willen zu tun.
Ein solcher Glaube kann Glück und Befriedigung geben und eine Selbstgewissheit, die andere mitreißt. Aber ob das zum Guten oder zu etwas Schlimmem führt, ob das tatsächlich Gottes Wille ist oder war, wissen wir nicht.
Wir können Gottes Wirken nicht deuten. Wir können nicht einmal wissen, ob es ihn gibt, ob und wie er wirkt, ob er eine unpersönliche Kraft in und über allem ist oder ein persönliches Gegenüber oder, für viele Menschen, beides zugleich. Begreifen können wir das nicht. Aber wir können diesem Gott, den wir nicht begreifen, vertrauen. Und selbst wenn wir uns bewusst bleiben, dass dieses Vertrauen, zumindest zu einem Teil, unsere eigene Entscheidung ist, bleibt es eine Kraft, in der wir uns geborgen fühlen und die uns hilft. Auch das hat uns Jesus vorgelebt. »Siehe, dein Glaube hat dir geholfen«, hat er zu vielen Geheilten gesagt. Wir vertrauen diesem unbegreiflichen Gott, dass er uns annimmt, auch wenn wir Fehler machen.
Brigitte Hoffmann, Teil 2 der Saalansprache vom 25.10.2015
Als Nebukadnezar II. im Jahre 587 v. Chr. Jerusalem mit dem Tempel zerstört und die Elite des Landes in das Exil nach Babylon wegführt, bricht für die Zurückgebliebenen wie für die Deportierten das bisherige Weltbild völlig zusammen. Viele werten das Geschehen als das von Jesaja und anderen Propheten schon lange zuvor angekündigte Strafgericht Gottes. Erst allmählich wird die abgrundtiefe Verzweiflung des Volkes überwunden und ein Reformprozess eingeleitet, in dessen Verlauf die gesamten religiösen Traditionen überarbeitet und die Grundlagen für die heutige Textfassung der Jüdischen Bibel geschaffen werden. Hieran wirkt im Exil auch ein namentlich nicht bekannter Prophet mit, der nicht mehr von Strafe und Gericht redet, sondern davon, dass Gott sein Volk trösten wolle. Der Blick sei nun nicht mehr auf die Fehler der Vergangenheit zu richten, denn Gott wolle Neues schaffen. Er kündigt die Rückkehr nach Jerusalem an, die dann durch den Perserkönig Kyros „als Werkzeug Gottes“ (Jesaja 45, 1ff.) im Jahr 538 tatsächlich herbeigeführt wird. Die Sammlung der Worte dieses ungewöhnlichen Propheten wurde später an die Aussagen Jesajas angehängt (Jesaja 40-55); die Bibelforschung gab ihm den Namen „Deuterojesaja“ (=zweiter Jesaja). Außerhalb des gewohnten Rahmens, fern vom Tempel mit Priestern und Opferkult, macht er den Verbannten eine tröstende Heilszusage im Namen Gottes. Auch unser Bibelvers ist ein solches Trostwort, das sich hier zwar an das bedrängte Volk Israel richtet, aber auch uns bis heute unmittelbar anspricht: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.«
Der eigene Name, das ist das äußere Zeichen für die eigene unverwechselbare Persönlichkeit. Werde ich bei meinem Namen gerufen, dann weiß ich, dass ich gemeint bin. Zugleich werde ich durch meinen Namen im sozialen Kontext eingeordnet. Denn unser Name ist nicht nur eine bloße Ansammlung von Buchstaben, sondern steht auch für unsere Familie, unsere Herkunft und Kindheit, unsere offizielle und unsere private Seite und unseren Ruf. Manchmal sagt man, jemand macht sich einen guten Namen, wenn er etwas leistet. Im Verhältnis zu Gott gilt allerdings: Jeder Mensch ist eine von Gott angesprochene einmalige Person und nicht bloß eine austauschbare Nummer. Mit seinem unverwechselbaren Namen wird jedem Menschen gesagt: Du bist kein Eigentum eines anderen Menschen. Und vor Gott muss sich jeder Mensch nicht erst einen Namen machen, er hat schon einen. Gottes persönliche Ansprache „Du“ macht mich zudem zu einem „Ich“ vor ihm. Er ist unser absolutes „Gegenüber“, den wir - wie Jesus - vertrauensvoll als „unser Vater“ ansprechen dürfen.
Die Erinnerungen unseres Mitglieds Theo Klink an die Templer-Kolonie Wilhelma (siehe Mai-»Warte«) sprudeln weiter. Da er wohl unter den Letzten ist, die aus eigener Anschauung über das Leben in der alten Zeit erzählen können, wollen wir unseren Lesern diese Rückschau nicht vorenthalten.
Fußballspiele fanden in Wilhelma des Öfteren mit auswärtigen Vereinen statt. Besonders spannend war es, wenn die Saroner die Gäste waren. Sie waren die große Konkurrenz, gegen die man auf keinen Fall verlieren wollte. Auch die Spiele gegen eine englische Militärauswahl, wie auf dem Bild von 1938 gezeigt, boten immer etwas Außergewöhnliches. Wenn man ein Spiel gegen die Engländer verlor, war meistens die Ausrede zur Hand, dass den Engländern ja eine viel größere Auswahl an Spielern zur Verfügung stand als wir sie hatten. Und wenn Wilhelma mal gewann, nahm man umgekehrt die Engländer in Schutz, weil sie halt keinen Sportplatz besaßen wie wir und vielleicht nicht so oft trainieren konnten. Aber stolz waren wir immer auf unsere eigenen Spieler, wenn sie Tore schossen oder sich gut verteidigten. Dabei denke ich heute noch an die Namen Alfred Edelmaier und Otto Frank.
Anders war es bei den Spielen gegen die Saroner. Unsere Nachbarkolonie Sarona wurde von uns Wilhelmanern in vielerlei Hinsicht bewundert. Die Kolonie Sarona war älter, hatte mehr fortschrittlichen Charakter durch die Nähe zu Jaffa und Tel-Aviv, es gab dort eigene Bäcker, Metzger und Kaufläden, was unserer reinen Bauernkolonie fehlte. Und dann hatten die auch noch die schöneren Mädchen (!!). Unsere eigenen kannte man von klein auf, war mit ihnen zusammen in der Schule, ganz anders die fernen Schönheiten von Sarona. Doch beim Fußballspiel wollte man gut sein. Für das Selbstbewusstsein der Wilhelmaner war es deshalb sehr wichtig, beim Fußballspiel auf Augenhöhe mit Sarona zu stehen und vielleicht auch mal zu glänzen.
In meiner Fotosammlung habe ich eine Aufnahme vom Fußballplatz in Wilhelma gefunden, aus ähnlicher Perspektive fotografiert wie die von Wolfgang Löbert, allerdings 24 Jahre später. Die Aufnahme entstand, als ich 1962 auf dem Flug nach Australien einen Zwischenstopp in Tel-Aviv einlegte und Bene-Atarot besuchte. Die beiden Fotos habe ich zum Vergleich übereinandergestellt. Beide Bilder sind von der Kreuzstraße aus aufgenommen, das Bild von 1938 ist aber mit größerem Weitwinkel fotografiert, und schwenkt weiter nach rechts. Auf dem unteren Bild (1962) ist rechts hinten noch ein Teil der Stallungen des Anwesens von Fritz Beilharz zu sehen, die auf dem oberen Bild (1938) in voller Breite links neben dem Wohnhaus stehen. Interessant ist, wie die 1938 frisch gepflanzten Ficus-Bäumchen in den inzwischen verflossenen 24 Jahren gewachsen waren.
Es verwundert die Leser vielleicht, wie ich das Bild von Wolfgang Löbert in der Mai-»Warte« so genau mit dem Jahr 1938 festmachen konnte. Es sind die frisch gepflanzten Ficus-Bäumchen.
Das Fällen der Eukalyptusbäume war damals ein großes Ereignis in Wilhelma gewesen, das seine Schatten vorauswarf. Die Eukalyptusbäume waren ein Ärgernis geworden, weil sie so übermächtig wurden und mit ihren Wurzeln den Vorgärten der Häuser die Nahrung entzogen. In den Vorgärten konnten deshalb keine Blumen mehr gepflanzt werden. Aber auch keinen richtigen Schatten gaben die Eukalyptusbäume ab, weil sich die Blätter, mithilfe ihrer Taxien, immer auf »Sonne-Durchlassen« einstellten, um den Wasserverlust des Baumes zu minimieren. Deshalb war in Wilhelma beschlossen worden, alle Eukalyptusbäume durch immergrüne Laubbäume zu ersetzen. Diese sollten wassersparend sein und nicht höher als 8 Meter werden. Die Wahl fiel auf den Ficus-Baum, eine Art Birkenfeige.
Die ganze Neupflanzung war ein Ereignis, nicht nur, weil der Charakter der Kolonie sich dadurch veränderte, sondern weil die Ausführung des Fällens von weit über hundert riesigen Eukalyptusbäumen eine Herkules-Arbeit bedeutete. Unser Lehrer Alfred Hönig gab uns in Deutsch das Aufsatzthema »Alte Riesen müssen weichen« auf. So haben wir Schüler uns damals recht intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Über den entstandenen Aufsatz kann ich das Jahr 1938 ebenfalls festmachen. Dass im Verlauf dieser Arbeiten beim Fällen eines Baumes - in der Höhe des Hauses von Andreas Frank - Ludwig Vollmer (Vater von Heinz und Luise Vollmer-Wagner) tödlich verletzt wurde, ist ein weiterer zeitlicher Merkpunkt.
Es sei von der »Warte«-Schriftleitung noch hinzugefügt, dass die Eukalyptusbäume in Wilhelma wohl als Folge der erfolgreichen Anpflanzung in Sarona ausgewählt worden waren. Die Malaria, die in der Frühzeit von Sarona so viele Todesopfer gekostet hatte, war dort letztlich durch die Austrocknung der Sumpfstellen mittels Eukalyptusbäumen besiegt worden.