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Die Agape-Feier in unserer Gemeinde - Karin Klingbeil
Wer ist »mein Nächster«? - Pedro Lourenzo
»Fürchtet euch nicht« - Brigitte Hoffmann
Der Weg ist das Ziel - Peter Lange
Alles Bio oder was? - Jörg Klingbeil
Israelische Studentin erforscht Geschichte der Seifenfabrik Struve - Peter Lange
Über die Grenzen - Teil 3 - Navid Kermani
Seit 1999 begehen wir die Agape-Feier in unserer Gemeinde - wieder muss man sagen, denn in den frühen Tempelgemeinden hat eine solche Feier ihren Platz gehabt. Wir haben dieses Element bewusst als eine Art Ritus wieder in unser Gemeindeleben aufgenommen, nachdem wir sonst so gut wie keine rituellen Handlungen durchführen. Seither hat die Agape-Feier also ihren festen Platz am Gründonnerstagabend im Gemeindehaus.
Der griechische Begriff agápe heißt "Liebe" und mit diesem Begriff wird im Neuen Testament die göttliche Liebe zu den Menschen bezeichnet, die in Jesus offenbar wird, besonders zu den Armen, Schwachen und Sündern. Aber es ist auch der Begriff für die Nächstenliebe, die Feindesliebe und die Liebe zu Gott. Schon bald wurde dieses Wort für das gemeinsame Mahl in den frühen Christengemeinden verwendet - es sollte ein "Liebesmahl" sein, sättigend für Arme, Gemeinschaft stiftend für alle, die daran teilnahmen. Der Ursprung aber liegt im Judentum, in dem am Vorabend des Sabbat ein feierliches Abendmahl gefeiert wird. Dabei nimmt das Mahl am Vorabend des Passahfestes eine besondere Bedeutung ein; noch heute wird es ganz traditionell als Sedermahl gefeiert - mit zunächst symbolischen Speisen und einer speziellen Liturgie und einem dann folgenden Festmahl.
In den hellenistischen Gemeinden wurde das gemeinsame Mahl bald aus dem Gottesdienst ausgegliedert - darin verblieb eine kultische Handlung, die als Eucharistie (Danksagung) in Bezug zu Jesu Opfertod gesetzt und zum Sakrament wurde. Bereits im 2. Jahrhundert begann sich diese Form im christlichen Gottesdienst durchzusetzen.
Für Jesus waren die gemeinsamen Mahlzeiten nicht nur Gelegenheit, seine Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden; das gemeinsame Essen und Trinken sind für ihn Zeichen und Sinnbild für dieses Reich, das Heil verheißt.
In diesem Sinne feierten auch die frühen Templer - am Gründonnerstag - ihr Stiftungs- und Versöhnungsfest. In einer "Warte" von 1887 ist der Ablauf einer solchen Feier ganz genau beschrieben. Auch für sie lag das Wesen dieses Mahles darin, Gemeinschaft zu stiften. Dabei geht es nicht, zumindest nicht primär, um Gemeinschaft mit Gott oder gar die Beschwörung der Gegenwart Gottes mit dem Ziel, Gott sinnlich-magisch zu erfahren.
Wir begehen unsere Agape-Feier heute nach einem immer ähnlichen Ablauf mit viel Musik, Liedern und Gebeten zum einen als Gedächtnis-Mahl, als ein Mahl der Erinnerung an Jesus - und zwar nicht nur an sein Leiden und Sterben, sondern zuerst und vor allem an ihn als Mensch, Lehrer, Helfer, als Gottes Beauftragter. Zum anderen bleibt es seinem Wesen nach ein Mahl, das Gemeinschaft stiftet. Es geht auch um Gemeinschaft mit Gott, aber wie immer bei Jesus ist Gemeinschaft mit Gott auch Gemeinschaft mit Menschen: Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen.
Hier ein weiterer Beitrag zum Jugendsaal im November 2015:
Nach der Erzählung des bekannten Gleichnisses vom barmherzigen Samariter fragte Jesus den Gesetzeslehrer: »Was meinst du? Wer von den dreien hat als Nächster an dem Überfallenen gehandelt?« »Der, der barmherzig war und ihm geholfen hat«, erwiderte er. »Dann geh und mach es genauso!«, sagte Jesus.
Diese Aufforderung Jesu bedeutet im weiteren Sinne, dass die Starken den Schwachen helfen sollen. Wenn das geschieht und sie somit dabei helfen, Ungerechtigkeit in der Welt zu verhindern, ist das ein sehr entscheidender Weg zum Reich Gottes. Doch wer sind die vermeintlich »Starken« und wer die »Schwachen« in meinen Augen?
Als »stark« sehe ich uns Privilegierte, die das Glück haben, in Deutschland geboren zu sein, die sich nicht darum sorgen müssen, wo sie die nächste Nacht verbringen sollen, wo sie die nächste Mahlzeit erhalten können, wie sie die Arztrechnung bezahlen können und so weiter.
Die Schwachen, meine Nächsten, liste ich nun sehr unvollständig auf:
Mein Nächster ist ein Kind auf der anderen Seite der Welt auf einer Müllkippe, atmet tagtäglich giftige Dämpfe vom verbrannten Müll ein, sammelt Wertstoffe, um sich einige Pesos zu verdienen und seine Familie ernähren zu helfen.
Meine Nächste ist das kleine Mädchen in Indien, die gegen ihren Willen mit einem deutlich älteren Mann verheiratet wird, wie eine Sklavin im Haus gehalten wird, Schwerstarbeit verrichten und eheliche Pflichten erfüllen muss.
Mein Nächster ist der stark übergewichtige US-Amerikaner, der mit einem Kran aus seinem Haus heraus gehievt werden muss, weil er nicht mehr durch seine Haustür passt.
Mein Nächster ist der Kindersoldat in Afrika, der bei seiner Entführung gezwungen wurde, seine eigenen Eltern zu töten.
Meine Nächste ist meine Arbeitskollegin, die für die gleiche Arbeit, wie ich sie verrichte, ein Viertel weniger Geld verdient.
Mein Nächster ist der alleinstehende Nachbar, mit dem ich mich unterhalte und ihm so ein wenig seiner Einsamkeit nehme.
Die Welt ist voll von »meinen Nächsten«, Menschen, denen es ganz eindeutig schlechter als mir geht. Weil es mir besser geht als meinen Nächsten, sehe ich mich in der Verantwortung, Ihnen zu helfen.
Aber auch den Menschen, die sich selbst am nächsten sind und zumeist für das Elend verantwortlich sind, von dem ich gerade eben schrieb, müssen wir helfen. Helfen auf den Weg zu Gott zurückzufinden. Denn in Gottes Augen sind die, die sich dem Geld und der Macht verschreiben, schwach und auch Ihnen muss ich als »Starker« helfen.
Natürlich ist es weder mir noch irgendjemand anderem möglich, allen diesen »Nächsten« unmittelbar zu helfen, aber unser aller Arbeit am Reich Gottes wird auch irgendwann bei diesen Nächsten spürbar sein.
(Lukas 2, 10)
Dieser Begrüßungsruf des Engels an die Hirten in der Weihnachtsgeschichte hat, wie alle gute Dichtung, mehrere Bedeutungsebenen. Auf eine davon möchte ich hier eingehen. Die Freudenbotschaft: Jesus, der Messias, der Erlöser, lebt! Er wird wiederkehren, bald! und das Gottesreich heraufführen, das er verkündet hat: »Friede auf Erden!« wurde zu der Gewissheit, von der die frühen Christengemeinden lebten, auch noch Jahrzehnte später. Das ist eine historische Tatsache, auch wenn der Engelsruf natürlich Legende ist. Die Verheißung hat sie über ihre Furcht hinweggetragen, lange. Aber sie hat sich in 2000 Jahren nicht erfüllt, und wir wissen heute, dass sie sich nicht erfüllen kann - ein ewiges Leben ohne Leid und Tod, in Frieden, Harmonie und Fülle kann es auf Erden nicht geben, in einer Welt, die sich laufend verändert.
Geht uns der Engelsruf »Fürchtet euch nicht!« noch etwas an? Ich denke schon - wenn auch etwas anders, als er bei Lukas gemeint ist. Kürzlich sagte Navid Kermani, der Muslim, der zornig gegen die fanatische Verengung des heutigen Islam ankämpft, dass Islam für ihn »heitere Gelassenheit« bedeute. Seine Erklärung dazu: er sei aufgewachsen in einem frommen, aber weltoffenen Elternhaus, und weil die Menschen, die ihn dort umgaben, gütig gewesen seien, hätten sie in ihm ein Vertrauen wachsen lassen, dass Gott gütig sei, dass sein Schicksal und alles, was ihm zustoßen könne, in Gott geborgen sei.
Ein solches Vertrauen kann ein Schutz sein, nicht vor Leid und Tod, aber vor der Verzweiflung und der Angst vor der Sinnlosigkeit. Mir fielen Fernsehbilder ein und Gespräche von Reportern mit Überlebenden der Naturkatastrophen der letzten Jahre in Südostasien. Sie hatten alles verloren; viele erzählten davon, stockend und mit Tränen, aber zugleich mit einer tief berührenden Gefasstheit - und gingen hin und lasen aus den Trümmern das noch Brauchbare heraus, um ihre Häuser wieder aufzubauen.
Vielleicht ist das die tiefste Bedeutung des »Fürchtet euch nicht!«, auch für jeden von uns: die Demut, eine Realität anzunehmen, die wir nicht verstehen. Der Glaube kann sie uns lehren; und inzwischen belegen soziologische Untersuchungen, dass im Durchschnitt bei gläubigen Menschen Krankheiten schneller heilen, Schicksalsschläge besser überwunden werden als bei anderen.
Wir können uns diese befreiende Gelassenheit nicht selber machen; aber wir können sie uns verbauen, wenn wir uns in Verbitterung zurückziehen. Sie hängt nicht nur am Glauben, sondern auch an unserer Veranlagung, Umwelt und Erfahrung - Faktoren, die wir nicht beeinflussen können. Aber wir können sie ein bisschen üben, indem wir uns bemühen, die Augen offen zu halten dafür, dass auch im Leiden uns noch vieles Freude geben kann: die Schönheit von Natur und Kunst, die Freude anderer, die uns Freude zurückgibt; die Dankbarkeit für Hilfe, eine neue Aufgabe. So können wir erfahren: der Ruf des Engels, der zugleich eine Verheißung ist, gilt auch uns: »Fürchtet euch nicht!«
In Heft 1/2016 der Zweimonats-Zeitschrift »Freies Christentum« hat Kurt Bangert im »Wort des Schriftleiters« seine Gedanken über den inzwischen so viel begangenen »Jakobs-Weg« beschrieben. Es ist bekannt, dass nicht nur fromme Katholiken, sondern auch Protestanten und religiös »abseits« stehende Zeitgenossen diese Pilgerreise nach Santiago de Compostela antreten, die ja nicht unbedingt zu den Erholungs- oder Bildungsreisen zählt. Er fragt, was es denn ausmache, dass so mancher unter uns heutzutage die Beschwerlichkeiten dieser Wanderung noch auf sich nehme.
Er kommt zu dem Schluss, dass es wohl nicht das Ziel der Grabeskirche von Sankt Jakob sei, das die Menschen zum Gehen dieses Weges bewege. Nein, der Sinn des Weges liege vielmehr auf dem Weg. Es sei bei Vielen eine ungestillte Sehnsucht danach, sich vom stressigen Alltag eine Auszeit zu nehmen. Es liege darin eine Suche nach einem Zur-Ruhe-Kommen und einem Zu-sich-selbst-Finden. Und deshalb sei der Sinn der Wanderung nicht unbedingt das Ziel, sondern es sei das Gehen unseres Lebensweges, das uns zu neuen Erkenntnissen führe. Der Sinn des Lebens liege im Leben selbst. Der Sinn des Weges liege auf dem Weg.
Diese Betrachtungen haben mich daran erinnert, dass auch wir Templer unseren Glaubensweg als das Ziel auffassen. Wie könnten wir sonst »nach dem Gottesreich und seiner Gerechtigkeit trachten«, wie es das Losungswort uns heißt, wenn wir uns nüchtern nicht immer wieder eingestehen müssten, dass das Ziel der Vollkommenheit (»Ihr sollt vollkommen sein, wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist«, Bergpredigt Mt 5,48) für uns nicht erreichbar ist. Dass es darauf nicht ankomme, sagt uns Christoph Hoffmann (in »Occident und Orient«, S.15), sondern dass »die geistige und leibliche Vervollkommnung« (was etwas anderes bedeutet als Vollkommenheit) unser Ziel sei und die »Bereitschaft zu gemeinsamen Schritten dahin« unser Glaube.
Unsere Vorväter hatten »den Weg nach Jerusalem« als eine solche Pilgerreise verstanden, wie sie heute mit dem Jakobsweg verbunden wird. Wenn wir das Ziel unseres Lebens heute nicht mehr mit Jerusalem verknüpfen, heißt das nicht, dass wir ohne Ziel durchs Leben wandern. Wie könnte man sonst den Weg ohne ein Ziel finden? Es kommt eben vor allem auf die Erfahrung an, die wir auf unserem Weg über uns selbst und über die Welt sammeln können. »Der Weg ist das Ziel« heißt doch im Grunde, dass die Erkenntnisse, die das Gehen eines Weges mit sich bringt, das Entscheidende sind, und dass wir das Immer-wieder-Zurückfallen in unserem Streben nach Vervollkommnung nicht als ein »Vom-Weg-Abkommen« betrachten, sondern als eine zwischendurch holprige und steinige Stelle des Weges. Dass Wandergefährten uns auf dem Weg begleiten, kann den Sinnfindungs-Prozess verstärken und ein Ansporn sein, auf der Wanderschaft nicht zu ermüden.
Unsere Ernährung sorgt zunehmend für Schlagzeilen. Bauern protestieren gegen den Verfall der Erzeugerpreise bei Milch und Fleisch. Der Absatz von Bio-Lebensmitteln steigt stetig an. Aber sind Bio-Lebensmittel immer besser als konventionelle? Einige Meinungen und Fakten zum Thema seien hier wiedergegeben:
Carsten Bauck betreibt den am längsten durchgängig bewirtschafteten Demeter-Bauernhof Deutschlands in der Lüneburger Heide. Neben einer Mastbullenzucht gibt es auf dem 450 ha großen Hof 20.000 Masthähnchen, 7.600 Legehennen, 400 Puten, 170 Schweine, 60 Milchkühe, elf Pferde und 800 Tonnen geernteter (Heide-)Kartoffeln pro Jahr. Sein Großvater hatte den Hof in der Nähe von Uelzen 1932 gegründet und war im Dorf anfangs als »Spinner« ausgegrenzt worden. Nach zweimaliger Vernichtung des Viehbestands durch die Schweinegrippe hatte er sich den Schriften Rudolf Steiners zugewandt, seinen Betrieb konsequent umgestellt, der konventionellen Landwirtschaft abgeschworen und sich an eine fünfjährige Fruchtfolge zur Schonung des Bodens gehalten; er begann den Zyklus immer mit zehrenden Kulturen wie Kartoffeln, um ihn mit humusbildenden Pflanzen wie Kleegras zu beenden. Der damals begonnene Kreislauf - das Futter der Tiere wird auf den eigenen Feldern erzeugt - wird auf dem Hof bis heute durchgehalten. Carsten Bauck wurde - anders als sein Großvater - in der Schule nicht mehr verprügelt, aber auch kein Fanatiker des Biolandbaus. »Wir verwenden die falschen Begriffe«, meint er, »der Gegensatz besteht nicht zwischen biologisch und konventionell, sondern zwischen bäuerlich und industriell. Mir ist ein bäuerlich konventioneller Betrieb tausendmal lieber als ein biologisch industrieller.« Von der Agroindustrie, die in Ostdeutschland ehemalige Kolchosen aufkaufe, um sie für die profitablere Bioproduktion zu nutzen, hält er nichts und würde deshalb auch keine Biolebensmittel beim Discounter kaufen, weil diese genauso industriell hergestellt würden wie herkömmliche. Andererseits macht sich der Landwirt über das Dilemma der bäuerlichen Produktion keine Illusionen: »Bei unseren heutigen Ernährungsgewohnheiten können wir unmöglich achtzig Millionen Menschen mit Lebensmitteln von echten Biobauern satt bekommen. Aber wenn wir unsere Ernährung umstellen, weniger Fleisch essen und dafür mehr auszugeben bereit sind, dann geht es.«
Für Ökosektierertum ist auch das Umweltbundesamt nicht bekannt. Aber auch diese Behörde hält nach einer aktuellen Studie eine Änderung der landwirtschaftlichen Produktion für dringend geboten: »Im Unterschied zu anderen Branchen, die in den letzten Jahren große Erfolge bei der Reduzierung der Stoffeinträge in die Umwelt erreichen konnten, zeigen sich bei den landwirtschaftlichen Emissionen nur geringe Verbesserungen«, heißt es dort. Beklagt wird eine desaströse Belastung durch Phosphor, Schwermetalle und vor allem Stickstoff. Die konventionelle Landwirtschaft sei für 57 % der gesamten Stickstoffbelastung verantwortlich; der Verkehr, die Industrie und die Siedlungsabwässer tragen dagegen jeweils nur 14 % dazu bei. Aus Stickstoff wird in der Atmosphäre Lachgas, ein gefährliches Treibhausgas. Stickstoff wird überdies als Nitrat ins Grundwasser geschwemmt - mit verheerenden Folgen: Bei 15 % des Trinkwassers liegt der Nitratanteil bereits über dem gesetzlichen Grenzwert. Ebenso negativ sind die Auswirkungen der Schädlingsbekämpfung auf die Artenvielfalt und die Antibiotikaresistenzen aufgrund der Massentierhaltung. Trotz dieser alarmierenden Symptome kommt die Studie zu einem ernüchternden Fazit: »Die derzeitige Entwicklung lässt nicht erkennen, dass eine baldige Trendumkehr zu erwarten ist. Deswegen ist eine stärkere finanzielle Förderung des ökologischen Landbaus unbedingt erforderlich.«
Doch die Politik hat offenbar andere Anreize gesetzt. So ergibt sich die paradoxe Entwicklung, dass die Nachfrage nach Biolebensmitteln ständig steigt, während die biologisch bewirtschaftete Agrarfläche stagniert: Acht Milliarden Euro gaben die Deutschen 2014 für Biolebensmittel aus, knapp 5 % mehr als im Vorjahr. Die Bioackerfläche nahm in dieser Zeit aber nur um 0,6 % zu, weil die Biobauern ihren konventionellen Konkurrenten im Kampf um Land bzw. Pachtflächen hoffnungslos unterlegen sind. Insbesondere Massentierzüchter verdienen so viel Geld, dass sie zu fast jedem Preis Land pachten können - nur um den Dung ihrer Tiere dort abzuladen. Noch verhängnisvoller wirkt sich die (wegen der »Energiewende« gut gemeinte) Förderung von Energiepflanzen für die Biogaserzeugung aus, die bei zweitausend Euro pro Hektar liegt, mehr als viermal so viel, wie ein Biolandwirt bekommt. Die Folge: Auf 20 % der deutschen Agrarfläche stehen Energiepflanzen; Kritiker sprechen schon von einer »Vermaisung« der Landschaft. Auch wenn die Politik inzwischen reumütig eine Trendwende eingeleitet hat, wird es lange dauern, bis diese greift, denn die Zuschüsse sind auf zwanzig Jahre garantiert worden!
Außerdem - und das wiegt fast noch schwerer - ist die Biolandwirtschaft zum Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden: Einerseits haben einige Branchenriesen den ökologischen Landbau praktisch industrialisiert, indem sie zehntausende Hektar gepachtet haben, wobei sie sich nicht an die strengen Kriterien von Verbänden wie Bioland oder Demeter, sondern nur an die europäischen Mindeststandards halten. Andererseits zwingt der Nachfrageüberhang zu Importen, deren Erzeugung den ethischen Grundsätzen des ökologischen Landbaus geradezu Hohn spricht. Heute stammen die meisten deutschen Biotomaten aus Almeria in Spanien, dem größten überdachten Gemüseanbaugebiet der Erde, einer Plastikplanenlandschaft von erschreckender Künstlichkeit. Fast die Hälfte aller Bioäpfel und Biokarotten werden importiert; vier von fünf Bioknoblauchknollen kommen aus China. Schätzungen zufolge wird aber nur ein Prozent der weltweiten Ackerfläche seriös ökologisch bewirtschaftet. Kein Wunder, dass Biosupermarktketten wie Alnatura händeringend nach regionalen Produzenten von Bioprodukten suchen und unter ihren Kunden unter dem Motto »Gemeinsam Boden gut machen« Anleger suchen, die bereit sind, die Landwirte dabei finanziell zu unterstützen.
Besondere Sorgen bereitet auf dem Bauckhof die Geflügelzucht, weil die Industrialisierung der Landwirtschaft zu einer absurden Monopolisierung geführt hat: Drei bis vier Großkonzerne kontrollieren inzwischen die Genetik fast des gesamten Zuchtgeflügels weltweit, neunzig Prozent der Putengenetik sind sogar in der Hand eines einzigen Unternehmens. Carsten Bauck schimpft auf diese »Kommerzialisierung der Schöpfung«, weil die Agroindustrie als Zuchtziel nur Effizienzsteigerung und Profitmaximierung verfolge. Wegen der Nachfrage der Kunden nach mageren Putenschnitzeln sei der Anteil des Brustfleisches bei Puten Jahr für Jahr um drei Prozent gestiegen, herausgekommen seien dabei inzwischen regelrechte »Zombies« mit fünfzig Prozent Anteil Brustfleisch. Deswegen wird auf dem Bauckhof nun versucht, die degenerierten Tiere mit weggezüchtetem Immunsystem wieder an die Freilandhaltung zu gewöhnen, ein ebenso ehrgeiziges wie unrentables Unterfangen. Auch die hochgezüchteten Legehennen, die heute im Schnitt 350 statt - wie noch in den fünfziger Jahren - 250 Eier pro Jahr legen (das »Urhuhn« brachte es auf 30 p.a.), sollen wieder Schritt für Schritt an ökologischere Produktionsmethoden herangeführt werden. Aber für Romantik ist auch hier kein Platz; auch das angestrebte Hochleistungs-Biohuhn muss sich rechnen. Immerhin dürfen die Hühner auf dem Bauckhof in geradezu komfortablen Ställen leben und haben Auslauf auf einer Wiese mit zwölf Quadratmeter Platz für jedes Tier. Aber der »Luxus« hat seinen Preis, fünfzig Cent kostet ein Ei vom Bauckhof; dennoch fehlt es nicht an Kunden.
Carsten Bauck hält die verbreitete Gedankenlosigkeit der Verbraucher für besonders verhängnisvoll: »Warum interessiert sich zum Beispiel niemand dafür, woraus das Futter besteht? Dabei fängt doch Bio damit an. Mit Futtermitteln kann man aus Mist Gold machen. Dieses ganze Billigfleisch ist nur möglich, weil beim Futter alle Schweinereien möglich sind. Es gibt eine Negativliste der EU, mit einigen verbotenen Inhaltsstoffen wie zum Beispiel Kot, Urin, Bauschutt, Hausmüll und ähnlichem Dreck, alles andere ist erlaubt.« Dass sich die industrielle Massentierproduktion in eine moralische Sackgasse manövriert hat, haben inzwischen auch die Experten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundeslandwirtschaftsministeriums begriffen; in einem vor kurzem vorgelegten Gutachten wurden »erhebliche Defizite im Tierschutz« beklagt und »die derzeitigen Haltungsbedingungen eines Großteils der Nutztiere für nicht zukunftsfähig« erklärt. Die Bauern sollten nicht immer mehr immer billigeres Fleisch produzieren, sondern weniger, dafür aber besseres und teureres Fleisch. Laut einer Umfrage sind drei Viertel der Deutschen auch bereit, mehr Fleisch für Geld zu bezahlen, wenn die Tiere artgerecht gehalten werden. Eine andere Umfrage kam allerdings zum Ergebnis, dass dreizehn Prozent der Befragten mehr Fleisch essen würden, wenn es noch billiger wäre.
Eines der größeren industriellen Unternehmen der Templer im früheren Palästina stellte die 1874 gegründete »Öl- und Seifenfabrik Struve und Scheerer« in der Deutschen Kolonie Haifa dar. Die »Warte« berichtete in ihrem September-Heft 2012 über die amerikanische Tempelgemeinde Buffalo am Erie-See und über die von dort nach Haifa übersiedelten deutschstämmigen Andreas Struve und Georg Scheerer.
Nun hat sich auch eine israelische Studentin der Hochschule von Westgaliläa in Akko bei Haifa daran gemacht, in einer Prüfungsarbeit die Produktionsmethode und wirtschaftliche Bedeutung der unmittelbar am Strand von Haifa gelegenen Fabrik darzustellen. Dazu diente ihr vor allem die von unserem Mitglied Dr. Herbert Struve verfasste Kurzdarstellung des Unternehmens. Die in Westgaliläa reichlich wachsenden Oliven haben die beiden Gründer Struve und Scheerer damals auf den Gedanken gebracht, das im persönlichen Haushalts-Konsum wichtige Olivenöl maschinell zu pressen und daraus auch Waschseife herzustellen. Mit der Zeit wurden neben den Oliven noch andere Ölfrüchte wie Sesam und Leinsamen auf der Anlage gepresst. Außer dem heimischen Markt ging man in der Fabrik auch an den Export der Öle und Seifen, vorwiegend in die USA und nach Deutschland.
Die Studentin aus Akko ging bei ihrer Arbeit auf die Suche nach eventuell noch vorhandenen Resten der damaligen Fabrikanlage an der Meeresbucht, äußerte sich aber sehr enttäuscht über das, was sie vorfand: auf dem ehemaligen Fabrikgelände befindet sich heutzutage eine Autoreparatur-Werkstätte, und überhaupt nichts mehr erinnert an das geschäftige Treiben der damaligen Zeit, als Oliven mit Kamelen im Hof der Fabrik angeliefert wurden und Ölfässer für den Verkauf aufgestapelt lagen.
Für eine Erklärung, wie Andreas Struve, der die technische Leitung des Unternehmens hatte, sich mit den Methoden des Ölpressens und der Seifenherstellung vertraut gemacht hat, diente der Forscherin ein Hinweis aus alten »Warte«-Veröffentlichungen, dass dazu amerikanische Fachleute, wie der Seifensieder N. Seiz und später Jakob Keil, eingestellt worden waren.
Schon recht bald war es für die Unternehmer klar geworden, dass das Areal der Fabrik am Strand von Haifa für den wachsenden Umsatz zu klein geworden war und man an eine Erweiterung denken musste. Hinzu kamen behördliche Beschränkungen des Fabrikgeländes (Nutzung der Grundstücksfront für Hafenanlagen und Lagerhäuser), Ärger mit Zwischenhändlern und politische Schwierigkeiten. Doch erst nach dem Tod der Fabrikgründer (Andreas Struve 1906, Georg Scheerer 1912) konnten die Nachfolger aus der nächsten Generation (Johannes Struve und Wilhelm Scheerer) daran gehen, Verlegungsmöglichkeiten der Produktionsstätte zu suchen.
Sie fanden den Platz für die Errichtung einer neuen größeren Fabrikanlage in der Nähe der templerischen Zweigsiedlung von Haifa, Neuhardthof, unweit der arabischen Ortschaft Tireh gelegen. Eine Fläche von 11.000 m² stand dort zur Verfügung. Es entstand bald ein Neubau, ausgestattet mit modernen Maschinenanlagen. Im Mai 1937 erfolgte die Inbetriebnahme. Es wurden vor allem feinste Olivenöle und raffinierte Sesam-, Erdnuss- und Kokosöle gepresst. Aus dem Öl wurden Wasch- und Toiletteseifen sowie Waschmittel hergestellt. Etwa 70 Prozent der Erzeugung gingen in den Export.
Aber lange währte die räumliche Entspannung in Neuhardthof leider nicht. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs brachte für Johannes Struve und Wilhelm Scheerer die Internierung, für den schon in das Unternehmen eingearbeiteten Vertreter der dritten Generation, Paul Struve, die Umsiedlung nach Deutschland, wo er längere Zeit die Leitung der »Chemischen Fabrik Struve & Co.« in Dortmund innehatte. Herbert Struve erwähnt in seiner Kurzdarstellung, dass er die Fabrikhallen von Neuhardthof 1971 bei einer Besuchsreise noch gesehen habe, jedoch mit anderer Nutzung: »Die demontierten Apparate und Maschinen rosteten auf dem Fabrikgelände vor sich hin«.
So deutet in Israel jetzt nichts mehr auf diese frühe industrielle Betätigung der Templer hin. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn durch Dokumentationen wie die von der Hochschule in Akko wenigstens in Archiven oder Bibliotheken zukünftig etwas über die ehemals hervorstechende Fabrik der deutschen Siedler von Haifa zu lesen sein würde. In Deutschland konnten Besucher der Wanderausstellung des Landeskirchlichen Archivs in letzter Zeit in den Vitrinen zumindest ein historisches Stück »Struve-Seife« sehen und bewundern.
Die Bilder in diesem Bericht verdanken wir verschiedenen Angehörigen der Familie Struve.
Fortsetzung des Textes von Navid Kermani
Es ist gut, dass unsere Gesellschaften, anders als nach dem 11. September 2001, dem Terror unsere Freiheit entgegengehalten haben. Es ist beglückend zu sehen, wie viele Menschen in Europa und besonders auch in Deutschland sich für Flüchtlinge einsetzen. Aber dieser Protest und diese Solidarität, sie bleiben noch zu oft unpolitisch. Wir führen keine breite gesellschaftliche Debatte über die Ursachen des Terrors und der Fluchtbewegung und inwiefern unsere eigene Politik vielleicht sogar die Katastrophe befördert, die sich vor unseren Grenzen abspielt. Wir fragen nicht, warum unser engster Partner im Nahen Osten ausgerechnet Saudi-Arabien ist. Wir lernen nicht aus unseren Fehlern, wenn wir einem Diktator wie General Sissi den roten Teppich ausrollen. Oder wir lernen die falschen Lektionen, wenn wir aus den desaströsen Kriegen im Irak oder in Libyen den Schluss ziehen, uns auch bei Völkermord besser herauszuhalten. Nichts ist uns eingefallen, um den Mord zu verhindern, den das syrische Regime seit vier Jahren am eigenen Volk verübt. Und ebenso haben wir uns abgefunden mit der Existenz eines neuen, religiösen Faschismus, dessen Staatsgebiet etwa so groß ist wie Großbritannien und von den Grenzen Irans bis fast ans Mittelmeer reicht. Nicht, dass es einfache Antworten darauf gäbe, wie eine Millionenstadt wie Mossul befreit werden könnte - aber wir stellen uns nicht einmal ernsthaft die Frage. Eine Organisation wie der »Islamische Staat« mit hochgerechnet 30.000 Kämpfern ist für die Weltgemeinschaft nicht unbesiegbar - sie darf es nicht sein. »Heute sind sie bei uns«, sagte der katholische Bischof von Mossul, Yohanna Petros Mouche, als er den Westen und die Weltmächte um Hilfe bat, um den IS aus dem Irak zu vertreiben. »Heute sind sie bei uns. Morgen werden sie bei euch sein.«
Ich möchte mir nicht vorstellen, was noch geschehen muss, damit wir dem Bischof von Mossul rechtgeben. Denn es gehört zur propagandistischen Logik des »Islamischen Staates«, daß er mit seinen Bildern eine immer höhere Stufe des Horrors zündet, um in unser Bewusstsein zu dringen. Als wir uns nicht mehr über einzelne christliche Geiseln erregten, die den Rosenkranz beten, bevor sie geköpft werden, fing der IS an, ganze Gruppen von Christen zu enthaupten. Als wir die Enthauptungen von unseren Bildschirmen verbannten, fackelte der IS die Bilder aus dem Nationalmuseum von Mossul ab. Als wir uns an zertrümmerte Statuen gewöhnt hatten, begann der IS, ganze Ruinenstädte wie Nimrod und Ninive zu planieren. Als wir uns nicht mehr mit der Vertreibung der Yeziden beschäftigten, rüttelten uns kurz die Nachrichten von Massenvergewaltigungen wach. Als wir glaubten, der Schrecken beschränke sich auf den Irak und Syrien, erreichten uns die Snuffvideos aus Libyen und Ägypten. Als wir uns an die Enthauptungen und die Kreuzigungen gewöhnt hatten, wurden die Opfer erst enthauptet und dann gekreuzigt, wie zuletzt in Libyen. Palmyra wird nicht auf einmal, vielmehr Bauwerk um Bauwerk gesprengt, im Abstand von Wochen, um jedes Mal ein neue Nachricht zu produzieren. Das wird nicht aufhören. Der IS wird den Horror so lange steigern, bis wir in unserem europäischen Alltag sehen, hören und fühlen, dass dieser Horror nicht von selbst aufhören wird. Paris wird nur der Anfang gewesen sein, und Lyon nicht die letzte Enthauptung bleiben. Und je länger wir warten, desto weniger Möglichkeiten bleiben uns. Anders gesagt, ist es schon viel zu spät.
Darf ein Friedenspreisträger zum Krieg aufrufen? Ich rufe nicht zum Krieg auf. Ich weise lediglich darauf hin, dass es einen Krieg gibt - und dass auch wir, als seine nächsten Nachbarn, uns dazu verhalten müssen, womöglich militärisch, ja, aber vor allem sehr viel entschlossener als bisher diplomatisch und ebenso zivilgesellschaftlich. Denn dieser Krieg kann nicht mehr allein in Syrien und im Irak beendet werden. Er kann nur von den Mächten beendet werden, die hinter den befeindeten Armeen und Milizen stehen, Iran, die Türkei, die Golfstaaten, Russland und auch der Westen. Und erst wenn unsere Gesellschaften den Irrsinn nicht länger akzeptieren, werden sich auch die Regierungen bewegen. Wahrscheinlich werden wir Fehler machen, was immer wir jetzt noch tun. Aber den größten Fehler begehen wir, wenn wir weiterhin nichts oder so wenig gegen den Massenmord vor unserer europäischen Haustür tun, den des »Islamischen Staates« und den des Assad-Regimes.
»Soeben komme ich aus Aleppo zurück«, fuhr Pater Jacques in der Email fort, die er wenige Tage vor seiner Entführung am 21. Mai schrieb, »dieser Stadt, die am Fluss des Stolzes schläft, die im Zentrum des Orients liegt. Sie ist jetzt wie eine Frau, die von Krebs aufgefressen ist. Alle fliehen aus Aleppo, vor allem die armen Christen. Dabei treffen diese Massaker nicht nur die Christen, sondern das gesamte syrische Volk. Unsere Bestimmung ist schwer umzusetzen, vor allem in diesen Tagen, an denen Pater Paolo verschwunden ist, der Lehrer und Begründer des Dialogs im 21. Jahrhundert. In diesen Tagen leben wir den Dialog als ein gemeinschaftliches, gemeinsames Leiden. Wir sind traurig in dieser ungerechten Welt, die einen Teil der Verantwortung für die Opfer des Krieges trägt, dieser Welt des Dollars und des Euros, die nur nach ihren eigenen Völkern, ihrem eigenen Wohlstand, ihrer eigenen Sicherheit sieht, während der Rest der Welt Hungers stirbt und an Krankheiten und am Krieg. Es scheint, dass ihr einziges Ziel ist, Gegenden zu finden, wo sie Kriege führen und den Handel mit Waffen, mit Flugzeugen noch steigern können. Wie rechtfertigen sich diese Regierungen, die die Massaker beenden könnten, aber nichts tun, nichts. Ich bange nicht um meinen Glauben, aber ich bange um die Welt. Die Frage, die wir uns stellen, ist die folgende: Haben wir das Recht zu leben oder nicht? Die Antwort ist schon da, denn dieser Krieg ist eine klare Antwort, so klar wie das Licht der Sonne. Also ist der wahre Dialog, den wir heute leben, der Dialog der Barmherzigkeit. Mut, meine Liebe, ich bin bei Dir und umarme dich fest, Jacques.«
Zwei Monate nach der Entführung von Pater Jacques, am 28. Juli 2015, hat der »Islamische Staat« die Kleinstadt Qaryatein eingenommen. Die meisten Bewohner konnten im letzten Augenblick fliehen, aber zweihundert Christen wurden vom IS entführt. Einen weiteren Monat später, am 21. August, wurde das Kloster Mar Elian mit Bulldozern zerstört. Auf den Bildern, die der IS ins Internet gestellt hat, ist zu sehen, dass kein einziger der tausendsiebenhundert Jahre alten Steine auf dem anderen geblieben ist. Weitere zwei Wochen später, am 3. September, tauchten auf einer Website des Islamischen Staates Fotos auf, die einige der Christen aus Qaryatein in den ersten Stuhlreihen einer Schulaula oder einer Festhalle zeigen, kahlgeschoren, manche bis auf die Knochen abgemagert, ihre Blicke leer, sie alle von der Geiselhaft gezeichnet. Auch Pater Jacques ist auf den Photos zu erkennen, in ziviler Kleidung, ebenfalls kahlgeschoren und abgezehrt, deutlich wahrnehmbar die Erschütterung in seinem Blick. Er hält sich die Hand vor den Mund, als wolle er nicht wahrhaben, was er sieht. Auf der Bühne der Aula sitzt ein breitschultriger, langbärtiger Mann in Kampfuniform, der einen Vertrag unterzeichnet. Es ist ein sogenannter Dhimmi-Vertrag, der die Christen der Herrschaft der Muslime unterwirft. Sie dürfen keine Kirche und keine Klöster bauen, kein Kreuz und ebensowenig eine Bibel mit sich führen. Ihre Priester dürfen keine Priesterkleidung tragen. Die Muslime dürfen die Gebete der Christen nicht hören, ihre Schriften nicht lesen und ihre Kirchen nicht betreten. Die Christen dürfen keine Waffen tragen und müssen bedingungslos den Anweisungen des »Islamischen Staats« gehorchen. Sie müssen sich ducken, müssen klaglos jede Ungerechtigkeit ertragen und außerdem eine Kopfsteuer zahlen, die Dschizya, damit sie leben dürfen. Es wird einem schlecht, wenn man diesen Vertrag liest. Er teilt die Geschöpfe Gottes ganz offensichtlich in Menschen erster und zweiter Klasse auf und lässt keinen Zweifel, dass es außerdem Menschen dritter Klasse gibt, deren Leben noch weniger gilt.
Es ist ein ruhiger, aber ganz und gar deprimierter, hilfloser Blick, den uns Pater Jacques auf dem Foto zuwirft, während er die Hand vor den Mund hält. Mit dem eigenen Martyrium hatte er gerechnet. Aber dass seine Gemeinde in Gefangenschaft geriet, die Kinder, die er getauft, die Liebenden, die er miteinander vermählt, die Alten, denen er die letzte Ölung versprochen hat, das muss ihn um den Verstand bringen, selbst den bedächtigen, innerlich so starken, gottergebenen Pater Jacques um den Verstand. Seinetwegen waren die Entführten schließlich in Qaryatein geblieben, statt wie so viele andere Christen aus Syrien zu fliehen. Pater Jacques wird denken, dass er Schuld auf sich geladen hat. Aber Gott, das weiß ich, Gott wird anders über ihn urteilen.
Gibt es Hoffnung? Ja, es gibt Hoffnung, es gibt immer Hoffnung. Ich hatte diese Rede bereits geschrieben, als mich vor fünf Tagen, am Dienstag, die Nachricht erreichte: Pater Jacques Mourad ist frei. Bewohner des Städtchens Qaryatein haben ihm zur Flucht aus seiner Zelle verholfen, sie haben ihn verkleidet und mit Hilfe von Beduinen aus dem Gebiet des »Islamischen Staates« geschafft. Inzwischen ist er zu seinen Brüdern und Schwestern der Gemeinschaft von Mar Musa zurückgekehrt. Offenbar waren zahlreiche Menschen an der Befreiung beteiligt, sie alle Muslime, und jeder einzelne von ihnen hat sein Leben für einen christlichen Priester riskiert. Die Liebe hat über die Grenzen der Religionen, Ethnien und Kulturen hinaus gewirkt. So herrlich, ja, im Wortsinn wunderbar diese Nachricht ist, so überwiegt dennoch die Sorge, am brennendsten bei Pater Jacques selbst. Denn das Leben der zweihundert anderen Christen von Qaryatein dürfte nach seiner Befreiung erst recht in Gefahr sein. Und auch von seinem Lehrer Pater Paolo, dem Gründer der christlichen Gemeinschaft, die den Islam liebt, fehlt weiterhin jede Spur. Es gibt bis zum letzten Atemzug Hoffnung.
Ein Friedenspreisträger soll nicht zum Krieg aufrufen. Doch darf er zum Gebet aufrufen. Meine Damen und Herren, ich möchte Sie um etwas Ungewöhnliches bitten - obwohl es so ungewöhnlich in einer Kirche dann auch wieder nicht ist. Ich möchte Sie bitten, zum Schluss meiner Rede nicht zu applaudieren, sondern für Pater Paolo und die zweihundert entführten Christen von Qaryatein zu beten, die Kinder, die Pater Jacques getauft, die Liebenden, die er miteinander vermählt, die Alten, denen er die Letzte Ölung versprochen hat. Und wenn Sie nicht religiös sind, dann seien Sie doch mit Ihren Wünschen bei den Entführten und auch bei Pater Jacques, der mit sich hadert, weil nur er befreit worden ist. Was sind denn Gebete anderes als Wünsche, die an Gott gerichtet sind? Ich glaube an Wünsche und dass sie mit oder ohne Gott in unserer Welt wirken. Ohne Wünsche hätte die Menschheit keinen der Steine auf den anderen gelegt, die sie in Kriegen so leichtfertig zertrümmert. Und so bitte ich Sie, meine Damen und Herren, beten Sie für Jacques Mourad, beten Sie für Paolo Dall’Oglio, beten Sie für die Christen von Qaryatein, beten Sie oder wünschen Sie sich die Befreiung aller Geiseln und die Freiheit Syriens und des Iraks. Gern können Sie sich dafür auch erheben, damit wir den Snuffvideos der Terroristen ein Bild unserer Brüderlichkeit entgegenhalten.
Ich danke Ihnen.
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