Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 172/2 - Februar 2016

 

 

Irrte Jesus? - Heiner Schwenke

Wie viel ist ein einzelner Mensch wert? - Hanna Thaler

Bibelworte - kurz betrachtet - Karin Klingbeil

Leserecho zu »Ein neues Gottesbild« - Peter Lange

Neues vom Denkmalschutz in Israel - Peter Lange

Über die Grenzen - Teil 2 - Navid Kermani

Irrte Jesus?

Beruht seine Botschaft von Auferstehung und Gottesreich auf einer Fehldeutung von Jenseits­erfahrungen?

 

Nach Albert Schweitzer übernahm Jesus von Nazareth den frühjüdischen Glauben an eine irdische Auferstehung und ein irdisches Gottesreich und ging vergeblich für deren Kommen in den Tod. Der Beitrag erklärt diesen für Schweitzer rätselhaften Glauben als nachvollziehbare Fehldeutung von Jenseitserlebnissen, wie sie vor allem aus Nahtoderfahrungen bekannt sind. Der Vorbildcharakter Jesu wird durch seinen Irrtum nicht berührt.

 

Transzendente Erfahrungen können einen nachhaltigen Einfluss auf das Leben und Denken der Betroffenen ausüben, wie das Damaskus-Erlebnis des Paulus zeigt. Unter transzendenten Erfahrungen verstehe ich Erfahrungen, die über die vertraute Realität und ihre Wirkmecha­nismen hinausgehen, wie etwa Jenseitserfahrungen oder Wunderheilungen. In jüngster Zeit sind besonders die Wirkungen von Nahtoderfahrungen näher untersucht worden. In Religions­wissenschaft und Theologie haben diese Forschungen bisher wenig Beachtung gefunden, obwohl gerade religiöse Gründerfiguren offensichtlich über intensive transzendente Erfah­rungen verfügten. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass man ihre Lehren im Licht transzen­denter Erfahrungen besser verstehen kann.

Religiöse Konzepte sind nämlich oft rätselhaft. Einen führenden Platz nimmt in dieser Hinsicht die Lehre von einer irdischen Auferstehung und einem irdischen Gottesreich ein. Danach werden die Auferstandenen mit ihrem wiederhergestellten Körper ein ewiges Leben auf Erden führen, ohne Krankheit und Alter, ohne Katastrophen und Unbill in einer herrlichen Natur, aus der ebenfalls alle Gewalt verschwunden ist. Diese Vorstellung widerspricht allem, was wir wissen. Alter und Tod sind essentielle Bestandteile des biologischen Lebens. Alle Tiere einschließlich des Menschen leben von der Zerstörung anderen Lebens, viele von der Vernichtung anderer Tiere. Löwen können sich nicht von Steppengras ernähren. Katastrophen wie Überschwemmungen, Dürren, Stürme, Feuersbrünste, Erdbeben, Vulkanausbrüche und Meteoriteneinschläge, die durch die Natur der Erde und des Kosmos bedingt sind, bringen den Lebewesen auf der Erde unweigerlich immer wieder Tod und Verderben. Ewig wird das Leben auf der Erde nicht bestehen, denn durch die Entwicklung der Sonne zum Roten Riesen wird in ferner, aber sicherer Zukunft alles Leben auf der Erde verlöschen.

Folgt man Albert Schweitzer, dann teilte auch Jesus von Nazareth diesen Auferstehungs- und Gottesreichglauben und stellte ihn sogar ins Zentrum seiner Botschaft. Er habe überdies geglaubt, die Gläubigen könnten Druck auf das Kommen des Reiches ausüben, insbesondere durch das Vaterunser, in dem das Reich Gottes auf Erden erfleht werde. Jesus sei sogar der Überzeugung gewesen, sein Leiden könne helfen, das Gottesreich herbeizuführen. Daher habe er sich der ihm in Jerusalem drohenden Gefahr nicht entzogen, sondern sei absichtlich in Leiden und Tod hineingegangen. Es ist aber ein Problem für Schweitzers Deutung, dass er nicht erklären kann, wie ein intelligenter und reflektierter Mensch, der Jesus von Nazareth ausweislich der Evangelien war, ganz ernsthaft an ein Gottesreich auf Erden und ein ewiges Leben darin glauben konnte.

Parallelen zwischen Gottesreichvorstellungen und Inhalten von Jenseitsreisen

Um dieses Problem Schweitzers zu lösen, möchte ich zunächst zeigen, dass die religiösen Beschreibungen des irdischen Gottesreiches und seiner Auferstandenen der Beschreibung jenseitiger Welten und Personen in Berichten über Jenseitsreisen ähneln. Unter Jenseitsreisen verstehe ich Erfahrungen, bei denen sich eine Person dem Erleben nach in einer Welt jenseits dieses Kosmos bewegt und die von der Realität des Erlebten überzeugt ist. Für meine Argumentation kommt es nicht darauf an, ob das Jenseits real ist, sondern nur, ob die Jenseitsreisenden ihre Umgebung für ­real halten, und zwar nicht nur während, sondern auch nach der Erfahrung. Einen wissenschaftlichen Beweis der Existenz eines Jenseits kann es ohnehin nicht geben. Jenseitsreisen sind ein universelles Merkmal der im heutigen Zeitalter der Reanimationsmedizin immer häufiger berichteten Nahtoderfahrungen, sie werden aber auch, wenngleich oft in abgeschwächter Klarheit, von Personen ohne Todesnähe erlebt.

Bei Jenseitsreisen im Rahmen von Nahtoderfahrungen bewegen sich viele ­Betroffene in paradiesischen, jenseitigen Landschaften, die irdischen Landschaften sehr ähneln. Der Neuro­chirurg Eben Alexander beschrieb seine Erfahrung wie folgt:

»[Ich] fand mich in einer völlig neuen Welt wieder. Die eigenartigste, schönste Welt, die ich je gesehen hatte. Strahlend, pulsierend, ekstatisch, atemberaubend ... . Unter mir war eine Land­schaft. Sie war grün, üppig und erdähnlich. Es war die Erde ... und war es gleichzeitig nicht. ...... Ich flog über Bäume und Felder, Flüsse und Wasserfälle und, da und dort, Leute dahin. Da waren auch Kinder, die lachten und spielten. Eine wunderbare, unglaubliche Traumwelt ...... Nur dass es kein Traum war. Obwohl ich nicht genau wusste, wo ...... ich war: hinsichtlich einer Sache war ich mir absolut sicher: dieser Ort, an dem ich mich plötzlich befand, war voll­kommen real. Das Wort real drückt etwas Abstraktes aus, und es ist frustrierend, wie schlecht es das vermitteln kann, was ich zu beschreiben versuche.«

Fast noch häufiger als jenseitige Landschaften werden jenseitige Personen erlebt, oft beides zusammen. Die jenseitigen Personen wirken körperlich, jedoch geht von ihnen häufig ein Leuchten aus. Außerdem gibt es keine Alten und Kranken. Dazu ein beispielhafter Bericht einer Frau, die ihren verstorbenen Verwandten in einer Jenseitsreise begegnete:

»Ich war beeindruckt von der Tatsache, dass diese Menschen fabelhaft aussahen. Meine Großmutter sah nicht aus, wie ich sie aus ihrem höheren Alter in Erinnerung hatte - sie war einfach wunderschön. Jeder sah jung und gesund und stark aus. Am ehesten könnte ich es so sagen: Sie waren Licht, sie sahen aus, als ob sie von Licht umgeben waren, als ob sie aus Licht gemacht wären.«

Auferstehung und Gottesreich im ­Zoroastrismus und Frühjudentum

Der Glaube an eine irdische Auferstehung und ein irdisches Gottesreich scheint sich zuerst im Zoroastrismus entwickelt und von dort aus in das Judentum, das Christentum und den Islam ausgestrahlt zu haben. Im Zoroastrismus reicht diese Lehre möglicherweise bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend zurück. Eindeutig formuliert ist sie erst im Zamyâd Yasht aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus. Ein von Ahura Mazda gesandter Heilsbringer, der Saoshyant Astvat-ereta, werde kommen und das ganze körperhafte Leben herrlich und unsterblich machen, »nicht alternd, unvergänglich, nicht verwesend, nicht faulend, ewig lebend, ewig gedeihend«. In den mittelpersischen Schriften des Zoroastrismus finden sich weitere Details. Die Gerechten würden für immer in der Blüte ihres Lebens leben, ohne Alter und ohne Schwäche und zusammen mit Ahura Mazda und allen himmlischen Wesen auf der Erde wohnen. Auch das Vieh und die Pflanzen würden wiederhergestellt werden, es werde immer wie im Frühling sein, mit allen Pflanzen und Blumen. Die ganze Welt werde unsterblich werden bis in alle Ewigkeit. Die Auferstandenen würden so hell und klar sein wie die Sonne mit ihrem Licht. Ihr Körper werde aus »leuchtendem Ton« bestehen, ihre Knochen würden im Licht sein wie Kristall, und sie würden einen strahlenden Anzug tragen.

Im Alten Testament findet sich die Lehre einer individuellen Auferstehung wohl zuerst im Buch Daniel, das um 165 vor Christus verfasst wurde. Darin heißt es: »Viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. Und die Weisen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und diejenigen, die viele zur Gerechtigkeit führen, wie die Sterne immer und ewiglich.« Wir sehen auch hier das Motiv des Leuchtens der Auferstandenen. Nicht nur die Auferstehung, auch das dem Gericht folgende ewige Leben wird bei Daniel auf der Erde lokalisiert, in einem ewigen, unzerstörbaren Reich. Im einflussreichen ersten Henochbuch werden ausführlicher ganz ähnliche Dinge geweissagt. Das Leuchten der Auferstandenen wird ebenfalls erwähnt.

Glaubte Jesus an ein irdisches Gottesreich und eine irdische Auferstehung?

Wie Albert Schweitzer sehe ich Jesus von Nazareth in der Tradition Daniels und Henochs. Da er keine theoretischen Abhandlungen verfasst hat, muss man seine Lehre erschließen. Eine wichtige Rolle spielen sprachliche Indizien. Im Neuen Testament werden für die endzeitliche Totenauferstehung oder -erweckung, für heilerische Totenerweckungen, für das Aufwecken vom Schlaf und das Aufstehen vom Essen die gleichen Verben verwendet. Das spricht eindeutig für eine Auferstehung des physischen Körpers. Diese Vorstellung spricht auch aus den Erzählungen vom leeren Grab Jesu. Auf eine physisch-irdische Natur des nachtodlichen Lebens bei Jesus deuten ­zahlreiche weitere Indizien: Das Reich Gottes ist ein Land, das die Sanftmütigen erben werden. Die Auserwählten werden von Osten und Westen dorthin kommen. Die Jünger Jesu werden die zwölf Stämme Israels regieren. Im Reich Gottes wird gegessen und getrunken werden. Andererseits hat das Leben im Gottesreich Jenseits­qualitäten wie Ewigkeit, Leidfreiheit und Gottesschau. Auch das Leuchten der Auferstandenen kommt in den Worten Jesu vor: »Dann werden die Gerechten wie die Sonne leuchten im Reich ihres Vaters«. Der Glaube an eine körperliche Auferstehung wird im Christentum bis in die heutige Zeit gelehrt. Der Ort des ewigen Lebens verlagerte sich jedoch bald in den Himmel oder auf eine neue Erde am Ende der Zeiten, deren Beschreibungen meist sehr vage sind oder wenig irdisch wirken. Unzweideutig lehren noch die Zeugen Jehovas ein ewiges irdisches Leben.

Auferstehungsglaube und Reich-­Gottes-Erwartung als eine Projektion von Jenseitser­fahrungen in die irdische Sphäre

Ich vermute, dass Vorstellungen einer irdischen Auferstehung und eines ewigen, irdischen Gottesreichs auf einer Fehldeutung von Jenseitserfahrungen beruhen. Jenseitige Zustände werden zum Ideal für irdische Verhältnisse und in die Zukunft der irdischen Geschichte projiziert. Dabei wird die Jenseitigkeit des Erlebten verkannt, was aufgrund der Erdähnlichkeit der jenseitigen Landschaften und der vertrauten, wenn auch oft lichthaften Körperlichkeit jenseitiger Personen verständlich ist. Gerade das Leuchten der Auferstandenen ist aber ein sehr starkes Indiz dafür, dass Jenseitserfahrungen im Spiel sind. Auf der Erde kennen wir keine leuchtenden Personen, während sie bei Jenseitserfahrungen verbreitet sind.

Jenseitserfahrungen bewegen zum Glauben an ein kommendes Gottesreich auf Erden: Die Ghost-Dance-Bewegung der Lakota

Lässt sich denn tatsächlich eine genetische Verbindung zwischen Jenseitserfahrungen und Reich-Gottes-Erwartungen nachweisen? Werden Personen durch Jenseitserfahrungen zum Gottesreichglauben bewegt? Dies lässt sich nicht für den Ursprung des Gottesreichglaubens zeigen, der im Dunkel der Urgeschichte liegt, jedoch für die Übernahme dieses Glaubens, und zwar am Beispiel der Ghost-Dance-Bewegung der Lakota, einer Stammesgruppe der Sioux-Indianer. Sie erfuhren 1889 von der Weissagung des indianischen Propheten Wovoka. Er verkündete ein kommendes Gottesreich, in dem die Indianer mit allen ihren Verstorbenen auf einer heilen, wiederhergestellten Erde leben können. Was die Lakota vor allem überzeugte, waren Jenseitsreisen. Wovoka lehrte sie nämlich einen tranceinduzierenden Tanz, von den Weißen Ghost Dance genannt, der das Kommen der Neuen Welt begünstigen sollte. Viele Teilnehmer fielen während dieses Tanzes wie tot zu Boden. Manche erlebten dabei Jenseitsreisen, wie zum Beispiel der Lakota Little Wound. Er beschrieb wunderbar anzu­sehende fruchtbare Landschaften und traf Verstorbene seines Stammes: »Sie ritten auf den schönsten Pferden, die ich jemals sah, hatten herrliche, strahlende Kleider an und schienen sehr glücklich zu sein. Als sie sich näherten, erkannte ich die Spielkameraden meiner Kindheit, und ich rannte los, um sie zu umarmen, während Tränen der Freude mir die Wangen herunterliefen.« In den strahlenden Kleidern manifestiert sich wieder das Leuchten der jenseitigen Verstorbenen. Auch Black Elk, der bekannte Heiler und Visionär der Lakota, nahm am Ghost Dance teil und erlebte auf seinen Jenseitsreisen ganz Ähnliches. Er verkündete, das gelobte Land gesehen zu haben, und war fest überzeugt, dass es bald zu ihnen kommen würde. Die Ghost-Dance-Bewegung endete kurz darauf im Massaker an den Lakota durch die US-Armee bei Wounded Knee am 29. Dezember 1890.

Die Wundererfahrungen Jesu könnten seinen tiefen Auferstehungs- und Gottesreich­glauben erklären

Vermutlich waren es auch transzendente Erfahrungen, die Jesus in seinem eschatologischen Glauben bestärkten. Die Hinweise auf Jenseitserfahrungen Jesu sind jedoch recht schwach. Ich glaube, dass Wundererfahrungen für ihn bedeutsamer waren. Die Zahl der ihm zuge­schriebenen Wunder war in der Antike ohne Parallele. Wichtig ist nicht, ob Jesu Wundertaten tatsächlich die Grenzen des Erklärbaren sprengten, sondern nur, ob sie es für ihn und sein Umfeld taten. Für Jesu Auferstehungsglauben könnten insbesondere seine heilerischen Totenerweckungen förderlich gewesen sein. Seine zahllosen Heilungen, seine Nahrungs­wunder und auch seine Naturwunder könnten seinen Glauben an ein irdisches Leben ohne Tod, Krankheit und Leid geprägt haben. In den Wundern Jesu erschien das Reich Gottes schon ein Stück weit vorweggenommen.

Der Irrtum Jesu in neuem Licht

Nach meiner Hypothese bestand der Irrtum des Jesu nicht in einer zu frühen Datierung des Kommens des Gottesreiches (Naherwartung), sondern darin, dass Jesus Merkmale von Jenseitserfahrungen in die Zukunft der Erde projizierte, also sozusagen den Himmel auf die Erde holen wollte. Das führte zu einer Erwartung, die weder in naher noch in ferner irdischer Zukunft erfüllt werden kann. Dieser Irrtum ist aber vor dem Hintergrund des Weltbilds seiner Zeit und angesichts der außergewöhnlichen Wundererfahrungen Jesu durchaus nachvollzieh­bar.

Ausblick auf das Christentum

Was würde es für ein an Jesus orientiertes Leben bedeuten, wenn man ihm den hier beschrie­benen Irrtum unterstellte? Dazu einige Überlegungen:

Albert Schweitzer transformierte Jesu unrealistische, kosmologisch-gegenständliche Idee vom Gottesreich für die heutige Zeit in eine geistig-ethische Größe. Ich glaube aber, dass dies unnötig stark von der Intention Jesu abweicht. Dessen Ethik sollte, wie Schweitzer selbst schreibt, zwar den Eintritt in das Gottesreich ermöglichen. Aber sie machte nicht dessen Wesen aus. Jesu Gottesreich bestand nicht in Werten, sondern in einem Leben ohne Leid, Hunger und Armut. Jesus strebte, wenn auch auf ungewöhnliche Weise, glückliche ­Verhältnisse auf der Erde an. Das ist ein auch für den modernen Menschen grundsätzlich verständliches und sinnvolles Ziel.

An dem Versuch Jesu, die Verhältnisse auf der Erde zu verbessern, beeindruckt mich erstens seine Tatkraft. Er strebte sein Ziel unter Einsatz seines Lebens an, weshalb Schweitzer auch das Heroische an ihm sehr hervorhebt. Tatkraft ist wesentlich für gutes Handeln. Die Kenntnis ethischer Lehren reicht nicht aus. Eine empirische Untersuchung stellte kürzlich fest, dass sich Ethikprofessoren nicht besser verhalten als Vertreter anderer Fachrichtungen.Die Kraft zum Handeln muss zum Wissen um das Gute hinzukommen, fehlt aber oft. Kierkegaard drückte es zugespitzt aus: »Wir wissen alle, welchen Weg man gehen soll…, aber niemand will gehen.« Zweitens scheint mir die Art des Handelns Jesu, sein Weg, bemerkenswert, denn er versuchte - in seiner ausgedehnten Heiltätigkeit und nach Schweitzer auch in dem Versuch, durch stellvertretendes Leiden das Kommen des Gottesreiches zu befördern - das Glück anderer durch aktive Leidensminderung und Lastenübernahme herbeizuführen.Sein Vorbild inspirierte eine Kultur der selbstlosen, tätigen Leidensminderung, für die Namen wie Franziskus, Maximilian Kolbe, Mutter Teresa oder eben Albert Schweitzer stehen. Die Utopisten der Moderne zogen es hingegen oft vor, anderen für ihre Vision einer besseren Welt Lasten aufzubürden und manchmal Millionen und Abermillionen zu opfern, aber nicht sich selbst. Der Weg Jesu hat sich noch nicht überlebt.

Der Irrtum Jesu führte nach der hier vorgetragenen Deutung zwar zu einer metaphysischen Tragödie, entwertet aber seinen Weg der tätigen Leidensminderung und Lastenübernahme nicht. Heute stützen wir unser Handeln zwar weniger auf mystisches als auf wissenschaft­lich-technisches Wissen. Aber auch da sind katastrophale Irrtümer und Fehler an der Tages­ordnung. Zum Beispiel führte Brunnenbau zur Desertifikation der Sahelzone; Biosprit­produktion, die das Weltklima schützen sollte, zog Urwaldabholzung, Landgrabbing, Hunger und sogar vermehrte CO2-Freisetzung nach sich.

Bei unserem Bemühen, die Leiden der Lebewesen auf der Erde zu mildern und ihr Glück zu vermehren, stimmen wir, so verstehe ich Schweitzer, mit dem Willen Jesu überein. Dadurch treten wir in eine mystische Gemeinschaft mit ihm, die unser Handeln inspirieren und unsere Tatkraft stärken kann. Vielleicht liegt in dieser mystischen, tatbezogenen Verbindung mit Jesus von Nazareth und seinen Geistesverwandten der lebendige Kern eines aufgeklärten Christentums der Zukunft.

Heiner Schwenke

 

Dr. rer. nat. Dr. phil. Heiner Schwenke ist Research Fellow an der Theologischen Fakultät Basel. Er studierte Forstwissenschaften und Philosophie. Seine Forschungsschwerpunkte sind mystische Erfahrungen, Personalismus sowie Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.

2009 wurde er Mitbegründer des Niklaus von Flüe-Instituts in Basel, das sich der Erforschung transzendenter Erfahrungen und ihres Niederschlags in Kultur, Kunst, Religion und Philoso­phie widmet.

 

Hier ein weiterer Text von dem kombinierten Jugend- und Konfirmationssaal im November zum Thema "Wer ist mein Nächster?".

Wie viel ist ein einzelner Mensch wert?

Und was macht den Wert eines Menschen aus?

Am geringsten taxiert der Chemiker den Wert eines Menschen. Er berechnet den Gehalt eines Erwachsenen an Zellulose, Eiweiß und Kalk mit ungefähr 15 Euro. Der Wert eines Künstlers errechnet sich aus den Einnahmen beim Verkauf seiner Werke.

Nach Ansicht amerikanischer Versicherungsgesellschaften ist ein US-amerikanischer Neugeborener ungefähr 20.000, ein Zehnjähriger 25.000 Euro wert. Der Wert eines Menschen steigt mit dem Alter. Wie viel ist ein einzelner Mensch wert? - Und was macht den Wert eines Menschen aus?Er summiert sich aus den Kosten der Berufsausbildung und dem Einkommen. Frauen sind nach dieser Rechnung nur halb so viel wert wie Männer, da sie in der Regel früher aus dem Beruf ausscheiden.

Der Wert eines Menschenlebens scheint wirt­schaftlich gesehen sehr relativ.

 

Die französische Schriftstellerin Fatou Diome, die im Senegal geboren ist, empört sich in der aktuellen Debatte um die Flüchtlingskrise darüber, wie wenig das Leben von Schwarzen oder Arabern wert sei. Würden auf dem Mittelmeer Weiße ertrinken, »dann würde die ganze Erde erbeben«, sagt sie. Tatsächlich werden die Mittel der EU für die Seenotrettung momentan verknappt. Nachdem der italienische Rettungsdienst »Mare nostrum« eingestellt wurde, gibt die EU monatlich weniger Geld für die militärische Grenzschutzagentur »Frontex« aus, die vor allem auf die Grenzsicherung abzielt. Flüchtlinge zu integrieren kostet den Staat viel. Andererseits wird von Wirtschaftsforschern darauf hingewiesen, dass sie für den Staat nach ca. sieben Jahren einen »Mehrwert« bringen könnten, zumal Deutschland sonst überaltere. Inhaltlich kann ich nachvoll­ziehen, dass Menschen, die in Deutschland eine schützende Bleibe finden, vielleicht einmal ihre wertvollen Fähigkeiten in die deutsche Gesellschaft einbringen werden. Aber mir ist bei diesen Berechnungen und dem Abwägen des »Mehrwerts« von Menschen nicht ganz wohl.

In der Bibel findet sich eine ganz andere Antwort auf die Frage, was ein Mensch wert sei. Gemäß der ­Bibel hat der Mensch einen sehr hohen Wert und eine unermessliche Würde, was unsere christlich-abendländische Kultur ­zumindest ideell geprägt hat. In Genesis 1 wird der Mensch als Abbild Gottes gesehen. Im Psalm 8 heißt es:

 

Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst, / des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, / hast ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Du hast ihn als Herrscher eingesetzt über das Werk deiner Hände, / hast ihm alles zu Füßen gelegt. (…)

 

Im Johannes-Evangelium steht, Gott habe die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingegeben habe, damit jeder, der an ihn glaube, nicht zugrunde gehe, sondern das ewige Leben habe. Der einzige, hier implizierte Maßstab, der dem Wert des Menschen gerecht wird, ist die Liebe Gottes. Und Gottes Liebe gilt allen Menschen. Als Kind habe ich meine Mutter einmal herausfordernd gefragt, wie viel ich wert sei und wollte eine Geldsumme genannt bekommen. Ihre Antwort war, ich sei mehr wert als alles Geld und alle Schätze der Welt, man könne mich nicht in Geld aufwiegen. Ich war gewissermaßen erleichtert und konnte so erfahren, dass Liebe nicht messbar ist. Liebe unter Menschen lässt sich nicht erzwingen und nicht gesetzlich festlegen. Seit 1949 ist zumindest die Achtung vor dem menschlichen Leben in unserem Grundgesetz festgeschrieben: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

Was hilft so ein abstrakter Satz, wenn man ihn nicht mit konkreten Taten verbindet! Wie viele andere, hilft mein 15-jähriges Patenkind in einem Flüchtlingsheim und bringt Kindern Deutsch bei. Gerade in ihrem Alter ist das eine prägende Erfahrung, bringt ihr offenbar viel »Mehrwert« und auch Selbstwertgefühl. Ihr Idealismus und ihre Freude zu helfen sind so ansteckend, dass ich fast ein schlechtes Gewissen bekomme. Meine Zeit erscheint mir für Arbeit, Familie und Freunde schon so ausgefüllt. Wenn ich mit meinen Schülern über ihre Erfahrungen mit Flüchtlings- und Fremdenfeindlichkeit spreche, höre ich sehr unterschiedliche, zum Teil sehr unkritische und populistische Meinungen. Es erscheint mir sehr wichtig, dass rechtsextreme Gewalttaten und Populismus nicht verharmlost werden und durch die Zuständigen in Politik und Staat kompetent und konsequent verfolgt werden. 535 Angriffe gegen Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte in diesem Jahr bis Anfang November gab es bisher, bei denen eine fremdenfeindliche Motivation der Täter nachgewiesen werden konnte. Das ist erschreckend, nicht nur für die Menschen, die vor Krieg, Gewalt und Verfolgung nach Deutschland fliehen, und hier eigentlich erfahren sollten, dass ihnen ein Stück ihrer Würde wieder zurückgegeben wird. Auch für Menschen, die zwar »ausländisch« aussehen, aber gar keine Flüchtlinge sind und vielleicht schon lange in Deutschland leben.

Letztendlich kann ein Gefühl für den Wert anderer Menschen nur aus Achtsamkeit anderen gegenüber und dem Gefühl des eigenen Wertes, also der Selbstliebe erwachsen.

Hanna Thaler

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Herr, lass ihn noch dies Jahr…

(Lukas 13, 6-9)

Der Feigenbaum ist der älteste, häufigste und wichtigste Obstbaum in Palästina und typisch für den Ackerbau ohne Bewässerung. Im milden Klima wie beispielsweise am See Genezareth trägt er das ganze Jahr über Früchte, daher ist seine Fruchtbarkeit sprichwörtlich - ein Feigenbaum, der drei Jahre lang keine Frucht trägt, ist daher ein Ärgernis und der Befehl, ihn zu fällen, verständlich. Aber der Gärtner in unserem Gleichnis möchte dieses letzte Wort noch nicht gesprochen wissen und bittet den Eigentümer des Weinbergs, in dem der Feigenbaum steht, sich noch ein Jahr lang um den Baum kümmern zu dürfen: den Boden aufzugraben, ihn zu düngen - und wenn er dann immer noch keine Früchte trägt, dann mag es geschehen.

Dieses Gleichnis, das auf Judäa oder auch auf Israel hin gedeutet worden ist, können wir ebenso gut auf uns und unser Leben übertragen. Vielleicht haben wir Kinder, die in der einen oder anderen Weise "Spätentwickler" sind, und ein wenig mehr Fürsorge, Unterstützung und Zuwendung brauchen - wenn sie diese bekommen, blühen sie auf ganz besondere Art auf.

Auch im eigenen Leben kommen wir immer wieder in Situationen, in denen es nicht so läuft, wie wir es geplant oder uns das vorgestellt haben - selbst verschuldet oder auch nicht. Dann haben wir die Wahl: entweder wir geben auf oder aber wir bemühen uns noch einmal vermehrt - vielleicht gelingt dann ja doch, was bislang unergiebig war. Mit etwas mehr Mühe und Einsatz ist oft doch noch das erwünschte Ziel erreichbar - sind wir bereit, dies zu investieren? Aufgeben ist frustrierend, aber gute Absichten allein helfen nicht - wenn etwas wachsen soll, braucht es Unterstützung, das richtige Umfeld, man muss die Verhältnisse verbessern.

Aber zu unserem Leben gehört eben auch dieses Zu-spät und das Ich-habe-nicht-genügt - und dann müssen wir erkennen, dass der Weg, den wir eingeschlagen hatten, nicht weiterführt und abgebrochen werden muss. Das ist immer bitter, manchmal auch beängstigend - wenn es sich um die Berufswahl oder den Erhalt des Arbeitsplatzes handelt; ganz besonders depri­mierend ist es aber, wenn es um menschliche Beziehungen geht: wenn eine Freundschaft auseinandergeht oder eine Ehe, wenn sich jemand unwiderruflich von uns abwendet und "nein" zu uns sagt. Oft ist da trotz intensiver Bemühungen nichts zu machen.

Ebenso gibt es die Momente, in denen wir uns eingestehen müssen, dass uns etwas gründlich misslungen ist, vielleicht auch, dass unser Verhalten Mitschuld trägt an der Verlet­zung anderer und die Folgen dieses Verhaltens nicht rückgängig gemacht werden können.

Die Hoffnung, mit besonderem Bemühen etwas ändern zu können, bleibt. Auch unser Gleich­nis lässt das endgültige Ergebnis offen, wir erfahren nicht, ob die gärtnerischen Maßnahmen etwas geholfen haben und der Baum doch wieder Früchte brachte. Für mich ist es tröstlich, dieses: Herr, lass ihn noch dies Jahr...

Karin Klingbeil

LESERECHO

zu »Ein neues Gottesbild« von Anselm Grün (in »Warte« 11/2015)

Der Glaube an einen persönlichen Gott wird von vielen Christen damit begründet, dass dieser Gott den Menschen das Person-Sein gegeben hat, weil er selbst Urgrund des Person-Seins ist und wir von ihm ein Abbild sind (»Er schuf den Menschen, ihm zum Bilde«, Genesis 1,27). Doch diese Begründung befriedigt mich nicht so recht, denn wir Menschen suchen dann, wenn wir so glauben, bei unseren Fragen nach Gott immer nach einem Wesen mit menschlichen Zügen und Merkmalen, so wie wir sie von uns gewohnt sind, nach einem Übermenschen sozusagen. Halten wir dann bei unserer Gottsuche nicht dauernd Ausschau nach etwas, das Gestalt besitzt? Der Benediktiner-Pater Anselm Grün meint in seinem Beitrag deshalb, Gott könne auf keinen Fall eine Super-Person sein. Er formuliert im Unterschied dazu ein »unend­liches Meer der Gottheit«, so wie es sich auch Augustinus vorgestellt hat.

Die Naturwissenschaft unserer Tage führt uns dieses große Meer der Gottheit beispielhaft vor Augen, wenn sie die unvorstellbaren Weiten des Makrokosmos oder die unabsehbaren Tiefen des Mikrokosmos beschreibt. In diesem Verständnis gibt es im Grunde keine andere Möglichkeit, an Gott zu glauben, als ihn in allem zu sehen, in den größten und in den kleinsten Dimensionen. Er ist nicht irgendwo zu finden, sondern überall, auch in den explodierenden Super-Novae, im Sternenstaub und in den Schwarzen Löchern wie auch in den ­Milliarden von Bakterien und Viren oder in den radioaktiven Strahlungspartikeln. Überall ist er. (Nebenbei bemerkt: Liegt in diesem »er« nicht vielleicht die unbewusste Gefahr, dass wir Gott stets mit männlichen Wesensmerkmalen in Verbindung bringen, und müssten wir nicht lieber »es« sagen, »das Heilige«?)

Ist es nicht müßig, frage ich, nach immer neuen Beschreibungen des Weltgeheimnisses zu suchen? Nach immer neuen Orten in dieser Welt? Und ist es weiterhin nicht überheblich von uns, Gott mit so zahlreichen Attributen zu versehen, wie das meist getan wird? Kann man das Heilige so verobjektivieren? Sollten wir, wenn wir von Gott sprechen, nicht viel zurückhaltender sein mit Eigenschaften, die wir ihm beilegen? Müssen wir uns nicht bei aller Beschreibung immer sofort eingestehen: »Gott ist anders«?

Der Naturwissenschaftler Michael Grün gibt etwas Interessantes zu bedenken: Er spricht in seinem Parallelbeitrag in der November-»Warte« davon, dass nach heutigen wissenschaft­lichen Erkenntnissen kein Materieteilchen von anderen Teilchen isoliert sei, sondern dass ein jedes Ahnung von der ganzen Umgebung, letztlich von der ganzen Welt habe. Ist uns das Heilige damit nicht viel, viel näher gerückt, als wenn wir es jenseits unserer Welt vermuten würden? Sind Gottes segnende Strahlen, so gesehen, rings um uns herum?

Der Theologe und Publizist Kurt Bangert, den wir als Mitglied und Schriftleiter des »Bundes für Freies Christentum« kennen, stellt in seinem neu erschienenen Buch »Und sie dreht sich doch!« die interessante Frage, wo denn wohl die Mitte des Universums liege. In natur­wissenschaftlicher Sicht, schreibt er, sei das unvorstellbar große Weltall mit all seinen bisher entdeckten Erscheinungen eine Folge des so genannten »Urknalls«. Alles, was wir kennen, verdanke sich einem Anfang, dessen Beschaffenheit wissenschaftlich nicht beschrieben werden könne, in religiöser Sprache aber als Urgrund allen Seins aufzufassen wäre. Wenn der Urkern aller Erscheinungen im Universum sich diesem Urgrund verdanke, folgert Bangert, dann sei jedes Teilchen in dem auseinander stiebenden Universum »göttlichen Ursprungs«. Für Bangert gibt es in diesem Universum keine Mitte, sondern an jeglichem Punkt dieser Welt seien wir »dem Göttlichen« nahe, denn jeder Punkt der Welt sei aus dieser Sicht ein Teil des Urkerns.

Das kann damit zum festen Glauben führen, dass Gott uns immer nahe ist, und zum Vertrauen, dass wir Menschen angesichts des unendlich großen Weltalls kein verlorenes und völlig unbedeutendes Sandkorn darstellen. Wir können dann Gott als ein »Alles in allem« erkennen, so wie es Paulus in 1 Kor 15,28 ausgedrückt hat.

Peter Lange

AUS DEM TAGEBUCH DES ARCHIVLEITERS

Neues vom Denkmalschutz deutscher Bauten in Israel

Nicht nur in den Tempelsiedlungen von Sarona und Jaffa gibt es Bemühungen von Seiten israelischer Denkmalschützer, alte Gebäude vor dem Abriss zu schützen und für eine zukünftige Nutzung zu restaurieren - jetzt hören wir solche Aktivitäten auch aus Galiläa. »Milchauto« in WaldheimVon der Nachbarsiedlung von Betlehem (Galiläa), Waldheim (heutiger Name: Alonei-Aba), schreibt uns eine Studentin der Fachrichtung »Denkmal­schutz von Gebäuden«, dass sie für eine Disser­tation nähere Auskünfte über die damaligen Bewohner eines früher deutschen Hauses haben möchte. Mit Hilfe von Annemarie Bitzer, die dort geboren und aufgewachsen ist, konnte ich der jungen Frau den früheren Charakter dieser evan­gelischen Gemeinde beschreiben. Von vorran­giger wirtschaftliche Bedeutung war dort die Milchwirtschaft gewesen, man hatte gemein­sam mit der Tempelsiedlung Betlehem eine Molkerei eingerichtet und Milch und Milch­produkte durch tägliche Transporte ins städtische Haifa vermarktet (siehe Foto des späteren »Milchautos«, zuerst erfolgte der Transport durch ein Pferdefuhrwerk).

Lippmann-HausDer bei den Wiederinstandsetzungsarbeiten im früheren Sarona tätige Restaurator Shay Farkash teilte uns mit, dass das frühere Grundstück der Familie Lippmann durch Bürotürme der Rund­funk- und Fernsehgesellschaft von Tel-Aviv über­baut werden soll. Das Lippmann-Haus (hier ein Foto vom Besuch des bekannten Romanschrift­stellers Karl May dort) war ein landwirtschaft­licher Großbetrieb mit weiten Anbauflächen, vor allem von Zitrusfrüchten, gewesen. Die für die Förderung von Grundwasser notwendige Pump­anlage dürfte zu den ersten ihrer Art gezählt haben, die von den deutschen Siedlern im 19. Jahrhundert für die Bewässerung der Oran­genplantagen eingesetzt wurden. Sarona PoolDas Wasser-Auffangbecken der Pumpanlage diente in der Internierungszeit, als für die Saroner Bevölkerung keine Möglichkeit mehr bestand, an den Süd­strand von ­Jaffa zu kommen, als willkommenes Freibad (das Foto hat uns freundlicherweise Theo Weller aus Südaustralien zur Verfügung gestellt). Gegen die Überbauungspläne des Lipp­mann-Areals haben zahlreiche ehemalige Palä­stina-Deutsche Einspruch erhoben. Ob dem Denkmalschutz-Gedanken von Seiten des Inves­tors hier Gehör geschenkt wird, ist noch fraglich.

Unser Templerfreund Martin Seeger aus Zwerenberg im Schwarzwald hat uns von seiner jüngsten Reise durch Galiläa in Israel über den heutigen Zustand des von der Zwerenberger Templerfamilie Heselschwerdt Hotel Galileeerbauten Hotels »Germania« in Nazareth berichtet und ein Bild davon übermittelt. Die seit der britischen Man­datszeit »Hotel Galilee« benannte Reiseunter­kunft gehört heute einer muslimisch-arabischen Familie und ist inzwischen von einstigen 27 auf über 100 Zimmer erweitert und mit neuzeitlichen Einrichtungen versehen worden (siehe Foto von Martin Seeger). Der ehemalige Speisesaal mit einer Arkade besteht bis heute noch. Einige historische Fotos aus der Gründerzeit hängen in der Empfangshalle. Offensichtlich ist man sich der historischen Bedeutung des Gebäudes wohl bewusst.

Es ist einer Erwähnung wert, dass unser Internet-Fachmann Jörg Struve inzwischen die Dokumentation über die erste Tempelgemeinde auch zum Herunterladen von unserer Internetseite ermöglicht hat (Umfang: 25 MB). Die Dokumentation, die mit zahlreichen Abbildungen versehen ist, trägt den Titel »Dietrich Lange, Kirschenhardthof - Das Wagnis der ersten Tempelgemeinde« und ist hier abzurufen.

Peter Lange

 

Fortsetzung des Textes von Navid Kermani

Über die Grenzen - Teil 2

Jacques Mourad und die Liebe in Syrien

Gewiss lehnen die allermeisten Muslime Terror, Gewalt und Unterdrückung ab. Das ist nicht nur eine Floskel, sondern das habe ich auf meinen Reisen genau so erlebt: Wem die Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist, der ermisst erst recht ihren Wert. Alle Massenaufstände der letzten Jahre in der islamischen Welt waren Aufstände für Demokratie und Menschenrechte, nicht nur die versuchten, wenn auch meist gescheiterten Revolutionen in fast allen arabischen Ländern, ebenso die Protestbewegungen in der Türkei, in Iran, in Pakistan und nicht zuletzt der Aufstand an den Wahlurnen der letzten indonesischen Präsidentschaftswahl. Ebenso zeigen die Flüchtlingsströme an, wo sich viele Muslime ein besseres Leben erhoffen als in ihrer Heimat: jedenfalls nicht in religiösen Diktaturen. Auch die Berichte, die uns aus Mossul oder Rakka selbst erreichen, künden nicht von Begeisterung, sondern von Panik und Verzweiflung der Bevölkerung. Alle maßgeblichen theologischen Autoritäten der islamischen Welt haben den Anspruch des IS verworfen, für den Islam zu sprechen, und im Detail herausgearbeitet, inwiefern dessen Praxis und Ideologie dem Koran und den Grundlehren der islamischen Theologie widersprechen. Und vergessen wir nicht, dass es an vorderster Front Muslime selbst sind, die gegen den »Islamischen Staat« kämpfen, Kurden, Schiiten, auch sunnitische Stämme und die Angehörigen der irakischen Armee.

Das muss man alles sagen, will man nicht dem Trugbild aufsitzen, das Islamisten und Islamkritiker wortgleich entwerfen: Dass der Islam einen Krieg gegen den Westen führt. Eher führt der Islam einen Krieg gegen sich selbst, will sagen: wird die islamische Welt von einer inneren Auseinandersetzung erschüttert, deren Auswirkungen auf die politische und ethnische Kartographie an die Verwerfungen des Ersten Weltkriegs heranreichen dürften. Den multieth­nischen, multireligiösen und multikulturellen Orient, den ich in seinen großartigen literarischen Zeugnissen aus dem Mittelalter studiert und während langer Aufenthalte in Kairo und Beirut, als Kind während der Sommerferien in Isfahan und als Berichterstatter im Kloster von Mar Musa als eine zwar bedrohte, niemals heile, aber doch quicklebendige Wirklichkeit lieben gelernt habe, diesen Orient wird es so wenig mehr geben wie die Welt von gestern, auf die Stefan Zweig in den Zwanzigerjahren voller Wehmut und Trauer zurückblickte.

Was ist geschehen? Der »Islamische Staat« hat nicht erst heute begonnen und auch nicht erst mit den Bürgerkriegen im Irak und in Syrien. Seine Methoden mögen auf Ablehnung stoßen, aber seine Ideologie ist der Wahhabismus, der heute bis in die hintersten Winkel der islamischen Welt wirkt und als Salafismus gerade auch für Jugendliche in Europa attraktiv geworden ist. Wenn man weiß, dass die Schulbücher und Lehrpläne im »Islamischen Staat« zu 95 Prozent identisch mit den Schulbüchern und Lehrplänen Saudi-Arabiens sind, dann weiß man auch, dass die Welt nicht nur im Irak und in Syrien strikt in verboten und erlaubt eingeteilt wird - und die Menschheit in gläubig und ungläubig. Gesponsert mit Milliardenbeträgen aus dem Öl, hat sich über Jahrzehnte in Moscheen, in Büchern, im Fernsehen ein Denken ausgebreitet, das ausnahmslos alle Andersgläubigen zu Ketzern erklärt, beschimpft, terrori­siert, verächtlich macht und beleidigt. Wenn man andere Menschen systematisch, Tag für Tag, öffentlich herabsetzt, ist es nur folgerichtig - wie gut kennen wir das aus unserer eigenen, der deutschen Geschichte -, dass man schließlich auch ihr Leben für unwert erklärt. Dass ein solcher religiöser Faschismus überhaupt denkmöglich wurde, dass der IS so viele Kämpfer und noch mehr Sympathisanten finden, dass er ganze Länder überrennen und Millionenstädte weitgehend kampflos einnehmen konnte, das ist nicht der Beginn, sondern der vorläufige Endpunkt eines langen Niedergangs, eines Niedergangs auch und gerade des religiösen Denkens.

Ich habe 1988 angefangen, Orientalistik zu studieren, meine Themen waren der Koran und die Poesie. Ich glaube, jeder, der dieses Fach in seiner klassischen Ausprägung studiert, gelangt an den Punkt, an dem er die Vergangenheit und die Gegenwart nicht mehr zusam­menbringen kann. Und er wird hoffnungslos, hoffnungslos sentimental. Natürlich war die Vergangenheit nicht einfach nur friedlich und kunterbunt. Aber als Philologe hatte ich vor allem mit den Schriften der Mystiker, der Philosophen, der Rhetoriker und ebenso der Theologen zu tun. Und ich, nein: wir Studenten konnten und können nur staunen über die Originalität, die geistige Weite, die ästhetische Kraft und auch humane Größe, die uns in der Spiritualität Ibn Arabis, der Poesie Rumis, der Geschichtsschreibung Ibn Khalduns, der poetischen Theologie Abdulqaher al-Dschurdschanis, der Philosophie des Averroes, den Reisebeschreibungen Ibn Battutas und noch in den Geschichten von Tausendundeiner Nacht begegnen, die weltlich sind, ja, weltlich und erotisch und übrigens auch feministisch und zugleich auf jeder Seite durchdrungen vom Geist und den Versen des Korans. Das waren keine Zeitungsberichte, nein, die soziale Wirklichkeit dieser Hochkultur sah wie jede Wirklichkeit grauer und gewalttätiger aus. Und doch sagen diese Zeugnisse etwas darüber aus, was einmal denkmöglich oder sogar selbstverständlich war innerhalb des Islams. Nichts, absolut nichts findet sich innerhalb der religiösen Kultur des modernen Islams, das auch nur annähernd vergleichbar wäre, eine ähnliche Faszination ausübte, von ebensolcher Tiefe wäre wie die Schriften, auf die ich in meinem Studium stieß. Und da spreche ich noch gar nicht von der islamischen Architektur, der islamischen Kunst, der islamischen Musikwissenschaft - es gibt sie nicht mehr.

Ich möchte Ihnen den Verlust an Kreativität und Freiheit an meinem eigenen Fachgebiet illustrieren: Es war einmal denkmöglich und sogar selbstverständlich, dass der Koran ein poetischer Text ist, der nur mit den Mitteln und Methoden der Poetologie begriffen werden kann, nicht anders als ein Gedicht. Es war denkmöglich und sogar selbstverständlich, dass ein Theologe zugleich ein Literaturwissenschaftler und Kenner der Poesie war, in vielen Fällen auch selbst ein Dichter. In der heutigen Zeit wurde mein eigener Lehrer Nasr Hamid Abu Zaid in Kairo der Ketzerei angeklagt, von seinem Lehrstuhl vertrieben und sogar zwangsge­schieden, weil er die Koranwissenschaft als eine Literaturwissenschaft begriff. Das heißt, ein Zugang zum Koran, der selbstverständlich war und für den Nasr Abu Zaid die bedeutendsten Gelehrten der klassischen islamischen Theologie heranziehen konnte, wird heute nicht einmal mehr als denkmöglich anerkannt. Ein solcher Zugang zum Koran, obwohl er der traditionelle ist, wird verfolgt und bestraft und verketzert. Dabei ist der Koran ein Text, der sich nicht etwa nur reimt, sondern in verstörenden, vieldeutigen, geheimnisvollen Bildern spricht, er ist auch kein Buch, sondern eine Rezitation, die Partitur eines Gesangs, der seine arabischen Hörer durch seine Rhythmik, Lautmalerei und Melodik bewegt. Die islamische Theologie hat die ästhetischen Eigenheiten des Korans nicht nur berücksichtigt, sie hat die Schönheit der Sprache zum Beglaubigungswunder des Islams erklärt. Was aber geschieht, wenn man die sprachliche Struktur eines Textes missachtet, sie nicht einmal mehr angemessen versteht oder auch nur zur Kenntnis nimmt, das lässt sich heute überall in der islamischen Welt beobachten. Der Koran sinkt herab zu einem Vademekum, das man mit der Suchmaschine nach diesem oder jenem Schlagwort abfragt. Die Sprachgewalt des Korans wird zum politischen Dynamit.

Oft ist zu lesen, dass der Islam durch das Feuer der Aufklärung gehen oder die Moderne sich gegen die Tradition durchsetzen müsse. Aber das ist vielleicht etwas zu einfach gedacht, wenn die Vergangenheit des Islams so viel aufklärerischer war und das traditionelle Schrifttum bisweilen moderner anmutet als der theologische Gegenwartsdiskurs. Goethe und Proust, Lessing und Joyce haben schließlich nicht unter geistiger Umnachtung gelitten, dass sie fasziniert waren von der islamischen Kultur. Sie haben in den Büchern und Monumenten etwas gesehen, was wir, die wir oft genug brutal mit der Gegenwart des Islams konfrontiert sind, nicht mehr so leicht wahrnehmen. Vielleicht ist das Problem des Islams weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie.

Alle Völker des Orients haben durch den Kolonialismus und durch laizistische Diktaturen eine brutale, von oben verordnete Modernisierung erlebt. Das Kopftuch, um es an einem Beispiel zu illustrieren, das Kopftuch haben die iranischen Frauen nicht allmählich abgelegt - Soldaten schwärmten auf Anordnung des Schahs 1936 in den Straßen aus, um es ihnen mit Gewalt vom Kopf zu reißen. Anders als in Europa, wo die Moderne bei allen Rückschlägen und Verbrechen doch als ein Prozess der Emanzipation erlebt werden konnte und sich über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte vollzog, war sie im Nahen Osten wesentlich eine Gewalt­erfahrung. Die Moderne wurde nicht mit Freiheit, sondern mit Ausbeutung und Despotie assoziiert. Stellen Sie sich einen italienischen Präsidenten vor, der mit dem Auto in den Petersdom fährt, mit seinen schmutzigen Stiefeln auf den Altar springt und dem Papst seine Peitsche ins Gesicht schlägt - dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was es bedeutete, als Reza Schah 1928 mit seinen Reitstiefeln durch den Heiligen Schrein von Ghom marschierte und auf die Bitte des Imams, wie jeder Gläubige die Schuhe auszuziehen, dem Imam mit der Peitsche ins Gesicht schlug. Und Sie fänden vergleichbare Vorgänge und Schlüsselmomente in vielen anderen Ländern des Nahen Ostens, die sich nicht langsam von der Vergangenheit lösten, sondern diese Vergangenheit zertrümmerten und aus dem Gedächtnis zu radieren versuchten.

Man hätte annehmen können, dass wenigstens die religiösen Fundamentalisten, die nach dem Scheitern des Nationalismus überall in der islamischen Welt an Einfluss gewannen, die eigene Kultur wertschätzen. Indes taten sie das Gegenteil: Indem sie zu einem vermeintlichen Uranfang zurückkehren wollten, vernachlässigten sie die Tradition nicht bloß, sondern bekämpften sie dezidiert. Wir wundern uns nur deshalb über den Bildersturm des »Islamischen Staates«, weil wir nicht mitbekommen haben, dass in Saudi-Arabien praktisch überhaupt keine Altertümer mehr stehen. In Mekka haben die Wahhabiten die Gräber und Moscheen der engsten Prophetenangehörigen, ja selbst das Geburtshaus des Propheten zerstört. Die historische Moschee des Propheten in Medina wurde durch einen gigantischen Neubau ersetzt, und wo bis vor wenigen Jahren noch das Haus stand, in dem Mohammed mit seiner Frau Khadija wohnte, steht heute ein öffentliches Klo.

Außer mit dem Koran beschäftigte ich mich während des Studiums hauptsächlich mit der islamischen Mystik, dem Sufismus. Mystik, das klingt nach etwas Randseitigem, nach Esoterik, nach einer Art Untergrundkultur. Nichts könnte mit Bezug auf den Islam falscher sein. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Sufismus fast überall in der islamischen Welt die Grundlage der Volksfrömmigkeit. Im asiatischen Islam ist er es bis heute. Zugleich war die islamische Hochkultur, insbesondere die Dichtung, die bildende Kunst und die Architektur, durchdrungen vom Geist der Mystik. Als die geläufigste Form der Religiosität bildete der Sufismus das ethische und ästhetische Gegengewicht zur Orthodoxie der Rechtsgelehrten. Indem er an Gott vor allem die Barmherzigkeit hervorhob, im Koran hinter jeden Buchstaben sah, in der Religion stets die Schönheit suchte, die Wahrheit auch in anderen Glaubensformen erkannte und ausdrücklich vom Christentum das Gebot der Feindesliebe übernahm, durch­drang der Sufismus die islamischen Gesellschaften mit Werten, Geschichten und Klängen, die aus einer Buchstabenfrömmigkeit allein nicht abzuleiten gewesen wären. Der Sufismus als der gelebte Islam setzte den Gesetzesislam nicht etwa außer Kraft, aber er ergänzte ihn, machte ihn im Alltag weicher, ambivalenter, durchlässiger, toleranter und durch die Musik, den Tanz, die Poesie vor allem auch sinnlich erlebbar.

Kaum etwas davon ist übrig geblieben. Wo immer die Islamisten Fuß fassten, angefangen schon im 19. Jahrhundert im heutigen Saudi-Arabien bis zuletzt in Mali, machten sie zuerst den sufischen Festen ein Ende, verboten die mystischen Schriften, zerstörten die Gräber der Heiligen, schnitten den sufischen Führern die langen Haare ab oder töteten sie gleich. Aber nicht nur die Islamisten. Auch den Reformern und religiösen Aufklärern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts galten die Traditionen und Sitten des Volksislams als rückständig und veraltet. Nicht etwa sie haben das sufische Schrifttum ernst genommen, sondern es waren westliche Gelehrte, Orientalisten wie die Friedenspreisträgerin von 1995, Annemarie Schimmel, die die Handschriften ediert und damit vor der Vernichtung bewahrt haben. Und selbst heute noch beschäftigen sich nur sehr wenige muslimische Intellektuelle mit dem Reichtum, der in ihrer eigenen Tradition liegt. Die zerstörten, missachteten, vermüllten Altstädte mit ihren ruinierten Baudenkmälern überall in der islamischen Welt stellen den Verfall des islamischen Geistes ebenso sinnbildlich dar wie die größte Shopping-Mall der Welt, die in Mekka direkt neben der Kaaba gebaut wurde. Das muss man sich vor Augen halten, das kann man auf Bildern auch sehen: Das eigentliche Heiligtum des Islams, dieses so schlichte und herrliche Bauwerk, in dem der Prophet selbst betete, wird buchstäblich von Gucci und Apple überragt. Vielleicht hätten wir weniger auf den Islam unserer Großdenker als auf den Islam unserer Großmütter hören sollen.

Sicher, in manchen Ländern hat man begonnen, Häuser und Moscheen zu restaurieren, allerdings mussten erst westliche Kunsthistoriker oder auch verwestlichte Muslime wie ich kommen, die den Wert der Tradition erkannten. Und leider kamen wir ein Jahrhundert zu spät, als die Gebäude bereits zerfallen, die Bautechniken vergessen und die Bücher aus dem Gedächtnis radiert waren. Aber immerhin glaubten wir, Zeit zu haben, um die Dinge gründlich zu studieren. Inzwischen komme ich mir als Leser fast schon wie ein Archäologe in einem Kriegsgebiet vor, der eilig und keineswegs immer durchdacht die Relikte aufsammelt, auf dass spätere Generationen sie wenigstens noch museal betrachten können. Wohl bringen musli­mische Länder immer noch überragende Werke hervor, wie sich auf Biennalen, Filmfestivals und ebenso auf der diesjährigen Buchmesse wieder zeigt. Aber mit dem Islam hat diese Kultur kaum noch etwas zu tun. Es gibt keine islamische Kultur mehr, jedenfalls keine von Rang. Was uns jetzt um die Ohren und auf die Köpfe fliegt, sind die Trümmer einer gewaltigen geistigen Implosion.

Gibt es Hoffnung? Es gibt bis zum letzten Atemzug Hoffnung, lehrt uns Pater Paolo, der Gründer der Gemeinschaft von Mar Musa. Hoffnung ist das zentrale Motiv seiner Schriften. Am Tag nach der Entführung seines Schülers und Vertreters strömten die Muslime von Qaryatein ungefragt in die Kirche und beteten für ihren Pater Jacques. Das muss auch uns Hoffnung geben, dass die Liebe über die Grenzen der Religionen, Ethnien und Kulturen hinaus wirkt. Der Schock, den die Nachrichten und Bilder des »Islamischen Staats« erzeugt haben, ist gewaltig, und er hat Gegenkräfte freigesetzt. Endlich formiert sich auch innerhalb der islamischen Orthodoxie ein Widerstand gegen die Gewalt im Namen der Religion. Und schon seit einigen Jahren sehen wir, vielleicht weniger im arabischen Kernland des Islams als vielmehr an den Peripherien, in Asien, in Südafrika, in Iran, der Türkei und nicht zuletzt unter den Muslimen im Westen, wie sich ein neues religiöses Denken entwickelt. Auch Europa hat sich nach den beiden Weltkriegen neu geschaffen. Und vielleicht sollte ich angesichts der Leichtfertigkeit, der Geringschätzung und offenen Missachtung, die nicht nur unsere Politiker, nein, die wir als Gesellschaft seit einigen Jahren dem europäischen Projekt der Einigung entgegenbringen, dem politisch Wertvollsten, was dieser Kontinent je hervorgebracht hat - vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, wie oft ich bei meinem Reisen auf Europa angesprochen werde: als Modell, ja beinah schon als Utopie. Wer vergessen hat, warum es Europa braucht, muss in die ausgemergelten, erschöpften, verängstigten Gesichter der Flüchtlinge blicken, die alles hinter sich gelassen, alles aufgegeben, ihr Leben riskiert haben für die Verheißung, die Europa immer noch ist.

Das bringt mich zurück zur zweiten Formulierung Pater Jacques’, die ich bemerkenswert fand, zu seinem Satz über die christliche Welt: »Wir bedeuten ihnen nichts.« Als Muslim ist es nicht an mir, den Christen in der Welt vorzuwerfen, sich - wenn schon nicht um das syrische oder irakische Volk - nicht einmal um ihre eigenen Glaubensgeschwister zu bekümmern. Und doch ist es, was auch ich oft denke, wenn ich das Desinteresse unserer Öffentlichkeit an der schon endzeitlich anmutenden Katastrophe in jenem Osten erlebe, den wir uns durch Stachel­drahtzäune, Kriegsschiffe, Feindbilder und geistige Sichtblenden fernzuhalten versuchen. Nur drei Flugstunden von Frankfurt entfernt werden ganze Volksgruppen ausgerottet oder vertrie­ben, Mädchen versklavt, viele der wichtigsten Kulturdenkmäler der Menschheit in die Luft gesprengt, gehen Kulturen und mit den Kulturen auch eine uralte ethnische, religiöse und sprachliche Vielfalt unter, die sich anders als in Europa noch bis ins 21. Jahrhundert einiger­maßen bewahrt hatte - aber wir versammeln uns und stehen erst auf, wenn eine der Bomben dieses Krieges uns selbst trifft wie am 7. und 8. Januar in Paris, oder wenn die Menschen, die vor diesem Krieg fliehen, an unsere Tore klopfen.

Fortsetzung und Ende in der nächsten Ausgabe

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