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Wie wahr ist die Weihnachtsgeschichte? - Jörg-Dieter Reuß
Der alte und der neue Mensch - Jörg Klingbeil
Die Luther-Bibel - neu - Peter Lange
Interview mit Pater Jacques Murad - Karin Klingbeil
Baustelle Giebelraum - Gridle Lange
Emmanuel Carrère: Das Reich Gottes - Karin Klingbeil
Jetzt sind es nur noch wenige Tage bis Weihnachten und Johannes weiß immer noch nicht so recht, was er mit diesem Fest eigentlich anfangen soll. Okay, das mit den Geschenken ist schon in Ordnung und der Christbaum bringt eine festliche Stimmung ins Wohnzimmer. Auch gegen Mamas Weihnachtsgebäck und einen schönen Becher Glühwein ist nichts einzuwenden. Aber wenn das alles ist...? Dafür müsste man das Ganze doch nicht so wahnsinnig feierlich aufziehen.
Johannes beschließt, seinen Großvater aufzusuchen. Mit dem kann man reden. Da wird man ernst genommen, auch dann, wenn man mit halbfertigen Fragen ankommt und unausgegorene Ideen mitbringt.
»Großvater, hast du mal ’ne halbe Stunde Zeit für mich?«, fragt Johannes am Telefon. Wenig später sitzt er im Studierzimmer des Großvaters, ein großes Glas duftenden Weihnachtstee vor sich, und knabbert an den Spekulatius-Keksen, die der Großvater auf den Tisch gestellt hat.
»Na, was führt dich denn diesmal zu mir?«, fragt der alte Mann. »Wenn du dich an so einem kalten Wintertag auf dein Rad schwingst, muss es schon etwas Wichtiges sein.«
Johannes blickt nachdenklich in die Kerzenflammen. »Großvater, glaubst du an die Weihnachtsgeschichte?«, fragt er unvermittelt. »Ich meine, dass das wahr ist, was da erzählt wird?«
»Hm. Warum interessiert dich das?«
»Weil manches in der Weihnachtsgeschichte so unwahrscheinlich klingt, zum Beispiel das mit den Engeln. Und unser Religionslehrer hat neulich gesagt, an der ganzen Weihnachtsgeschichte sei so gut wie nichts historisch. Das sei bloß eine Legende.«
»Soso, eine Legende.« Um die Augen des alten Mannes erscheinen amüsierte kleine Fältchen. »Also wenn du mich fragst - falsch ist das nicht gerade. Aber die ganze Wahrheit, die ist vielleicht doch ein bisschen komplizierter. Wie immer im Leben. Oder sagen wir: Wie fast immer.«
»Einfache Wahrheiten sind mir eigentlich lieber«, meint Johannes.
»Nun, das geht den meisten Menschen so. Auch unser Gehirn möchte es lieber bequem haben. Aber manchmal sind sie eben irreführend, die sogenannten einfachen Wahrheiten.«
»Und wie ist das nun bei der Weihnachtsgeschichte?«
Der Großvater lehnt sich zurück.
»Zunächst einmal ist einfach zuzugeben, dass viele Auskünfte, die wir da erhalten, historisch unzutreffend sind. Die Steuerveranlagung zum Beispiel, die Augustus durchführen ließ, war sicher nicht die erste ihrer Art, denn eine Regierung braucht Geld. Außerdem wurde die Festsetzung der Steuern damals nicht im ganzen römischen Weltreich vorgenommen, wie Lukas behauptet, sondern sie war auf Palästina begrenzt.«
»Woher weiß man das denn so genau?«, fragt Johannes skeptisch.
»Aus römischen Steuerakten, die sich aus jener Zeit erhalten haben. Und was die Durchführung dieser Steuerveranlagung angeht - davon hatte Lukas auch eine ziemlich abenteuerliche Vorstellung.«
»Wieso das?«, will Johannes wissen.
Der Großvater erhebt sich aus seinem Sessel und geht zu einem der Bücherregale, die sich an der Wand entlang ziehen. Als er zurückkommt, hat er eine Lutherbibel in der Hand. Bedächtig schlägt er das zweite Kapitel des Lukasevangeliums auf.
»Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Da machte sich auch auf Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war.
- Findest du das logisch, Johannes? Denk mal scharf nach.«
Johannes zögert ein wenig, doch dann schüttelt er den Kopf. »Nein, das leuchtet mir nicht ein«, sagt er. »Warum sollte sich das Finanzamt dafür interessieren, wo jemand geboren ist oder herstammt? Und was soll das bringen, wenn die Leute dort hinreisen müssen? Ich nehme mal an: Was die Zimmerei des Josef einbrachte, konnte man an Ort und Stelle, also in Nazareth, viel leichter feststellen als im meilenweit entfernten Bethlehem.«
»Genau so ist es«, bestätigt der Großvater. »Was einer an Steuern zahlen musste, wurde natürlich da festgelegt, wo er wohnte, wo er sein Geld verdiente, wo er sein Haus und vielleicht auch sein Vieh und seine Äcker hatte. Außerdem wären die Römer schön dumm gewesen, wenn sie ein ganzes Volk, in dem es sowieso schon gärte und brodelte, sozusagen von Amts wegen in Bewegung gesetzt hätten. - Kannst du dir vorstellen, Johannes, warum das eine unglaubliche Dummheit gewesen wäre?«
Johannes zupft sich am Ohrläppchen und nimmt einen Schluck Tee. »Da gab es doch diese Terroristen, na wie hießen sie gleich - ach ja, die Zeloten, die die Römer mit Gewalt aus dem Land jagen wollten. Für die wäre das ein gefundenes Fressen gewesen, eine tolle Gelegenheit, einen Aufstand anzuzetteln oder wenigstens ein paar Zollstationen zu überfallen. Wenn ein ganzes Volk auf den Beinen ist, muss die römische Polizei zwangsläufig den Überblick verlieren.«
Der Großvater nickt zustimmend. »Eine bessere Gelegenheit, um nach einem Terror-Anschlag spurlos unterzutauchen, hätten sich die Zeloten gar nicht wünschen können. Auch aus diesem Grund fiel es den Römern nicht im Traum ein, die Bevölkerung wegen dieser Steuergeschichte auf die Reise zu schicken. - Aber das ist noch nicht alles.«
Johannes sieht seinen Großvater fragend an.
»Lukas behauptet, Josef habe sich aufgemacht mit Maria, seiner Verlobten. Doch warum hätte er die mitnehmen sollen? Wer zum Finanzamt zitiert wird, muss deshalb doch nicht gleich seine Verlobte mitbringen. Damals wäre das sogar ein handfester Skandal gewesen, wenn ein Mann es gewagt hätte, mit einer jungen Frau zu reisen, die nicht mit ihm verheiratet war. Und dass Maria hochschwanger war, machte die Sache noch zusätzlich kompliziert.«
»Also wenn ich der Josef gewesen wäre«, wirft Johannes ein, »dann hätte ich zu meiner Maria gesagt: Bleib du mal schön daheim und pass gut auf dich auf, während ich diese lästige Steuersache erledige.«
Dann stützt Johannes sein Kinn in die Hand, wie immer, wenn er angestrengt nachdenkt. »Warum behauptet der Lukas dann all dieses Zeug?«, fragt er und es klingt etwas ärgerlich. »Warum mutet er uns all diese Ungereimtheiten zu?«
»Weil er ein Problem hatte«, versetzt der Großvater. »Sieh mal, jeder wusste damals, dass Jesus aus Nazareth kam, aus diesem völlig unbedeutenden Bergnest in Galiläa. Und nun musste Lukas seinen Lesern irgendwie plausibel machen, dass Jesus nicht dort auf die Welt gekommen war, sondern eben in Bethlehem.«
»Hm. Warum war das denn so wichtig? Das mit Bethlehem, meine ich.«
»Das kann ich dir genau sagen«, meint der Großvater. »Beim Propheten Micha (5,1) gibt es eine alte Verheißung, dass der Messias aus Bethlehem kommen soll. Die frühen Christen waren überzeugt: Jesus war und ist der Messias, der lang ersehnte Retter, der endzeitlich-endgültige Heilbringer. Es hat keinen Sinn mehr, auf einen anderen zu warten. Und darum musste Jesus natürlich in Bethlehem auf die Welt gekommen sein. Verstehst du?«
Johannes schweigt. In seinen dunklen Augen spiegeln sich die Kerzen, die inzwischen ein Stück heruntergebrannt sind. Nach einer Weile fragt er: »Und was fange ich jetzt an mit der Weihnachtsgeschichte? Wie siehst du das? Hat sie uns heute noch etwas zu sagen?«
»Ich glaube schon«, schmunzelt der alte Mann. »Man kann nämlich auch mit erfundenen Geschichten die Wahrheit sagen.«
»Im Ernst?« Johannes macht große Augen«.
»Aber klar doch!«, beharrt der Großvater. »Denk nur mal an die großen Romane der Weltliteratur. Etwa "Die Buddenbrooks" von Thomas Mann. Die Geschichte ist frei erfunden. Und doch sagt sie die Wahrheit darüber, wie es damals in einer großbürgerlichen Familie zuging. Oder der Roman "Schuld und Sühne" von Dostojewski. Eine erfundene Geschichte, ganz klar - und doch sagt sie die Wahrheit darüber, wie es ist, wenn man Schuld auf sich lädt, wenn man Angst hat vor dem Entdecktwerden und schließlich für seinen Fehltritt bezahlen muss.«
»Ich hab die beiden Romane noch nicht gelesen«, gesteht Johannes. »Es sind ja auch entsetzlich dicke Bücher.«
»Aber den Film "Der Herr der Ringe"- den hast du doch sicher gesehen?« »Und ob!«, bestätigt Johannes. »Der Film ist einfach super!«
»Mich hat er ebenfalls beeindruckt«, sagt der Großvater. »Und siehst du - auch dieser Film erzählt doch eine Geschichte, die von A bis Z erfunden ist. Und trotzdem finde ich, dass der Film auf seine Weise die Wahrheit sagt. Die Wahrheit darüber, wie es ist, wenn das sorglos-gemütliche Leben plötzlich von einer dunklen, unberechenbaren Gefahr bedroht wird. Die Wahrheit über Machtgier und Verrat - doch zum Glück auch die Wahrheit darüber, was ein paar kleine Leute ausrichten können, wenn sie tapfer sind, fest zusammenhalten und dem Bösen die Stirn bieten. Der Film bringt Saiten in unserer Seele zum Klingen, die nur darauf warten, angeschlagen zu werden. Und genau so, finde ich, ist es auch mit der Weihnachtsgeschichte.«
In Johannes’ Gesicht ist ein hellwacher Ausdruck getreten. Aufmerksam sieht er seinen Großvater an. Der fährt fort:
»Die Weihnachtsgeschichte findet in unserer Seele eine so starke Resonanz, weil sie Erfahrungen anspricht, die auch unsere Erfahrungen sind oder werden können. Zum Beispiel das unfreiwillige Unterwegssein. Von den Mächtigen auf Trab gebracht werden und nichts dagegen machen können. Keinen Raum in der Herberge finden, keinen Platz, wo du wirklich geborgen und angenommen bist. Oder wie die Hirten einen Beruf ausüben, der nur wenig Abwechslung mit sich bringt, Nachtschicht machen müssen - und dann die große Überraschung, wenn plötzlich doch ein Licht in die Dunkelheit kommt.«
»Du meinst, die Weihnachtsgeschichte spricht uns deshalb an, weil sie irgendwie auch unsere Geschichte ist?«
»Genau, Johannes. Irgendwie ist das auch unsere Geschichte. Äußerlich oder auch innerlich. Vor allem natürlich die Geburt des Kindes. Mit einem Kind kommen ja neue Möglichkeiten auf die Welt. Eine neue Chance, dass etwas besser wird auf unserer Welt. Und so hat jede Geburt etwas von einem Wunder an sich.«
Johannes strahlt: »Jede Geburt ein kleines Weihnachten - meinst du das?«
»Wenn du es so ausdrücken willst, meinetwegen. Aber auch in uns drin kann so etwas geschehen. Das göttliche Kind will sozusagen in unserer Seele geboren werden. Und zwar nicht in den hellen Vorzeigeräumen, die wir immer wieder aufpolieren, weil wir einen guten Eindruck machen wollen. Nein, ausgerechnet da, wo unsere tierhaften Seiten sitzen und wo unsere Armseligkeit zu Hause ist, weißt du, all diese Schwächen und Macken, mit denen wir uns und anderen das Leben schwer machen. Gerade da, wo es in uns aussieht wie in einem Stall, da kann und soll das rettende Wunder geschehen. Da soll es hell und warm werden, bis wir von innen heraus zu leuchten anfangen.«
»Das klingt gut«, meint Johannes. »Aber was ist, wenn da nichts passiert - ich meine, in uns drin?«
Der Großvater macht ein ernstes Gesicht. »Dann nützt uns die ganze Weihnachtsgeschichte nichts, und wenn sie historisch noch so einwandfrei verbürgt wäre. Ein kluger Kopf - er nannte sich Angelus Silesius - hat es einmal so formuliert: Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren / und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.
Verstehst du? Darauf kommt es an, was in dir und in mir geschieht - und nicht darauf, ob die Historiker noch irgendetwas Verlässliches über die näheren Umstände der Geburt Jesu herausfinden können.«
Johannes schließt die Augen. Man kann sehen, wie es in ihm arbeitet. »Ich glaube, mir ist jetzt klar, warum die Bilder der Weihnachtsgeschichte bis heute wirken und uns ansprechen«, sagt er schließlich. »Aber eines möchte ich doch noch gern wissen. Findest du, dass die Weihnachtsgeschichte darüber hinaus irgendetwas mit Jesus zu tun hat? Ich meine: mit dem richtigen Jesus, der wirklich gelebt hat?«
Wohlwollend und auch ein bisschen stolz ruhen die Augen des Großvaters auf Johannes, der vor Aufregung ganz rote Backen bekommen hat.
»Aber ja«, sagt er. »Die Weihnachtsgeschichte hat eine Menge damit zu tun, wie Jesus damals auf seine Umgebung gewirkt hat. Freilich nicht als Kind, sondern als erwachsener Mann. Wo er hinkam, haben Menschen erlebt, wie in ihre dunklen Lebensumstände ein warmes Licht hineinleuchtete. Wie sich der verschlossene Himmel öffnete. Angeschlagene wurden gesund, Ängstliche wurden mutig und Unterdrückte wurden frei. Verzweifelte fanden eine neue Hoffnung, Traurige lernten das Lachen, Arme fühlten sich endlich wahrgenommen und ernst genommen. Manchmal war es gerade so, als sängen die Engel.
Siehst du, Johannes - solche Erfahrungen wurden poetisch verdichtet und an den Anfang zurückverlegt. Und so entstand die Weihnachtsgeschichte. Sie ist zum Glück kein vordergründiger Tatsachenbericht. Sonst wäre sie für uns kaum noch interessant. Sondern sie ist eine dichterische Erzählung voller Schönheit und Tiefsinn. Und gerade so spricht sie uns an und sagt uns die Wahrheit. Die Wahrheit über Jesus - und die Wahrheit über uns.«
Johannes nickt nachdenklich. Dann wirft er einen Blick auf seine Uhr. »Ich würde gern noch länger mit dir reden«, sagt er, »aber es ist spät geworden und ich muss heim. Du weißt ja, wie meine Eltern sind.«
»Schon gut, Johannes. Komm gut heim! Und wenn es dir mal wieder danach ist, dann ruf einfach bei mir an.«
Johannes ist schon fast aus der Tür, als er sich noch einmal umdreht. »Übrigens - danke für alles!«, ruft er. Und schon ist er weg. Der alte Mann tritt ans Fenster und schaut seinem Enkel nach. Dann wandert sein Blick nach oben. Die Wolkendecke, die den Winterhimmel verdüsterte, ist aufgerissen und gibt den Blick frei auf ein Heer von Sternen. Irgendwie sieht es so aus, als funkelten sie an diesem Abend besonders hell.
Jörg-Dieter Reuß (aus seinem Buch »Glauben mit Herz und Verstand«, BoD-Verlag 2015) ist Pfarrer i.R. und wohnt in Blaubeuren
Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit (Eph. 4, 23-24).
In unserem Losungskalender ist diese Bibelstelle aus dem Brief des Apostels Paulus an die junge Christengemeinde in der aufblühenden Handelsmetropole Ephesus, der Hauptstadt der römischen Provinz Asien, für den 1. Advent und damit für den Beginn des Kirchenjahres vorgesehen. Auch wenn wir die in den vorangehenden Versen zum Ausdruck kommende Christologie des Apostels Paulus nicht teilen mögen, so können wir doch den Appell zur Umkehr und zum Neubeginn auch für uns nachvollziehen. Schließlich hat auch Jesus immer wieder zur Umkehr und zur Neubesinnung aufgerufen. Paulus fordert nun die Christen der jungen Gemeinde auf, das alte heidnische Leben, das durch Verblendung und Begierde geprägt gewesen sei, abzulegen. Der »neue Mensch« ist für ihn hingegen das Ebenbild Gottes und in und durch Christus Wirklichkeit geworden. Paulus erinnert seine Leser an das, was sie über Jesus im Taufunterricht erfahren haben, und erteilt in den folgenden Versen Weisungen für das »neue Leben«, zu dem Christen berufen seien. In seinen Mahnworten stellt er dabei Warnungen vor einer negativen Handlungsweise jeweils ein praktisches Beispiel für positives Verhalten gegenüber. So solle der, der bisher gelogen habe, zu seinem Nächsten die Wahrheit reden, weil »wir untereinander Glieder« - gemeint ist offenbar: einer Gemeinde - seien. Und der, der bisher gestohlen habe, solle künftig nicht mehr stehlen, sondern mit seiner Hände Arbeit auch für die Bedürftigen sorgen. Und schließlich solle der, der zornig werde, nicht sündigen. Paulus hält also nicht bereits den Zorn an sich für sündhaft; er weiß wohl, dass Menschen im Affekt schon mal wütend und aufbrausend werden können. Der Apostel verurteilt jedoch das Festhalten am Zorn und fordert auch insoweit Innehalten und Neubesinnung. In diesem Zusammenhang gibt er den Christen eine Mahnung mit auf den Weg, wie sie nicht nur (Ehe-)Paaren gelegentlich ans Herz gelegt wird, sondern Richtschnur für jedes mitmenschliche Verhalten in einer Gemeinschaft sein kann: Lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen! Soll heißen: Versöhnt euch am Ende des Tages miteinander, auch wenn ihr zuvor - vielleicht sogar aus gutem Grund - wütend gewesen seid, auch wenn ihr euch über einen anderen geärgert habt. Nehmt euren Groll nicht mit in die Nacht hinein, damit er sich nicht in euch festfrisst, und belastet nicht den neuen Tag mit dem alten Ärger. Wir sollten nicht erst den bevorstehenden Jahreswechsel mit den üblichen guten Vorsätzen abwarten, um diesen Ratschlag des Paulus in unserem Alltag zu beherzigen.
33 Jahre nach der letzten kirchenamtlichen Revision der Übersetzung des Neuen Testaments durch Martin Luther von 1984 hat es für das Jubiläumsjahr der Reformation 2017 eine erneute Durchsicht gegeben. Am 31. Oktober, dem Reformationstag, ist sie vom Rat der EKD zusammen mit dem ebenfalls revidierten Text des Alten Testaments und der Apokryphen als »neue Luther-Bibel« der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Die Akzeptanz der neuen Ausgabe hatte man dabei offenbar unterschätzt, denn die erste Auflage war in der Jubiläums-Ausführung (mit Bildern) nach kurzer Zeit bereits vergriffen.
Es stellt sich dem Leser, der von der etwa zehn Jahre dauernden Vorbereitung der neuen Ausgabe nichts gewusst hat, die Frage, welche Notwendigkeit für eine solche Überarbeitung und Neuausgabe denn vorliege. Die Deutsche Bibelgesellschaft hatte offenbar in Untersuchungen einiger Bücher des Alten Testaments festgestellt, dass der bisherige Text an einer beachtlichen Reihe von Stellen nicht mehr dem aktuellen Stand der Forschung gerecht werde. Auch wurde die Frage gestellt, ob die Textfassung des Alten Testaments von 1964 mit der Revision des Neuen Testaments von 1984 ausreichend harmoniere. Eine daraufhin gebildete Experten-Kommission kam jedenfalls zum Ergebnis, dass definitiv Handlungsbedarf bestünde.
Eine Neubearbeitung des Alten Testaments rund alle 50 Jahre mag vielleicht ihre Berechtigung haben, bei einem Abstand von nur 30 Jahren seit der letzten Revision des Neuen Testaments mag eine neuerliche Bearbeitung nicht dringend geboten gewesen sein. Zumindest ergeben sich dort verhältnismäßig wenige Textstellen, die dem Leser gewichtig genug für eine Revision erscheinen. So gibt es in der Neubearbeitung eine Reihe von Berichtigungen kleineren Ausmaßes, z.B. im Sämann-Gleichnis die Stelle: »fiel etliches auf den Weg« anstelle von bisher »einiges« oder in Joh. 3,16: »Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden« statt »damit alle, die an ihn glauben«. Die Sprachkundler fanden, dass das ehemalige von Luther gebrauchte Wort »desto« inzwischen mit »umso« ersetzt worden war, was aber keiner zwingenden Logik geschuldet war, sodass es zukünftig wieder »desto« lauten wird. Bei »das ganze Volk« ging man jetzt wieder auf »alles Volk« zurück.
Ziel der neuen Revision sei es gewesen, heißt es, »Luthers Sprachempfinden so gut wie möglich nachzuspüren«. So ist man jetzt von der bisher gebrauchten Wendung bei Matth. 13,42: »da wird Heulen und Zähneklappern sein« zurückgegangen zu Luthers ursprünglicher Satzstellung »da wird sein Heulen und Zähneklappern«. Ein anderes Beispiel: Im Hohen Lied der Liebe im 1. Kor. 13 lautet bei Luther die mehrmalige Wiederholung: »… und hätte der Liebe nicht …«, was seit 1984 geändert worden war in: »… und hätte die Liebe nicht …«. Hier kehrt die neue Revision auf das ursprüngliche »… und hätte der Liebe nicht …« zurück, was auch dem Unterschied im Sinngehalt entspricht.
Umgekehrt haben die Bearbeiter auch gefragt, was Luther beim Übersetzen der Originalsprache nach unserem heutigen Wissen falsch oder verändert formuliert hat. So heißt es in der hebräischen Originalsprache »Prediger in der Wüste« und müsste doch »Rufer in der Wüste« heißen. Luther sprach häufig vom »Heiland«, wo wir heute eher »Retter« sagen würden. Oder das hebräische schub (= umkehren), was Luther mit »sich bekehren« übersetzt. Das hebräische »gojim« müsste man besser mit »Völker« statt mit »Heiden« übersetzen. Bei Micha 6,8 steht bei Luther: »Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben«. »Gottes Wort« steht aber im Hebräischen gar nicht da; stattdessen geht es um mishpat, das heißt »Recht«, also »Recht tun«.
In Psalm 46,5 heißt der bekannte Vers: »Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind«. Vom hebräischen Grundtext ist das relativ weit entfernt. Aus Respekt vor Luthers eigener Entscheidung für die verwendeten Wortbilder ist der ursprüngliche Luther-Text auch bei der aktuellen Revision unverändert geblieben. Man hat dann jeweils eine entsprechende Anmerkung hinzugesetzt. In Matth. 8,24 übersetzte Luther 1522 ursprünglich: »Und siehe, da erhob sich ein großes Ungestüm auf dem See«. Dieses »Ungestüm« wurde in der Revision von 1984 mit »gewaltiger Sturm« wiedergegeben. Im griechischen Urtext steht allerdings das Wort für »Erdbeben«. So ist man jetzt zurückgekehrt zur Wendung »Und siehe, da war ein großes Beben im Meer…« Bei Psalm 23 war man der Ansicht, den bisherigen Wortlaut beizubehalten: »Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser«, obwohl Luther ursprünglich noch 1524 übersetzt hat: »Er lässt mich weiden, da viel Gras steht, und führet mich zum Wasser, das mich erkühlet«. Daran wird sichtbar, wie einerseits die ausdrucksstarke Luther-Sprache, andererseits aber der Wohlklang und das über lange Zeit Gewohnte maßgebend für die heutigen Übersetzer war.
Einen Trend des modernen Sprachgebrauchs haben die Bearbeiter des neuen Bibel-Wortlauts hinsichtlich der Inklusion von »Männer und Frauen« übernommen, indem sie z.B. in 1. Kor. 15,1 das »Ich erinnere euch aber, liebe Brüder« in »Ich erinnere euch aber, Brüder und Schwestern« änderten. Sie haben in allen Fällen beide Geschlechter benannt, wo es im Text um »die Gemeinde« geht.
Dem Leser der revidierten Bibel von 2017 wird überdies auffallen, dass die Hervorhebungen im Text (bisher kursiv) nunmehr in halbfetter Schrift ausgeführt sind.
Der Vorsitzende des Rates der EKD bezeichnet die Bibel-Übersetzung Luthers als »Kraftquelle« für den Glauben der evangelischen Christen in Deutschland und Margot Käßmann, Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017, urteilt über die neue Revision: »Martin Luther hat unsere Sprache und Kultur geprägt«. Das können Gründe dafür sein, auch weiterhin in der Tempelgemeinde Texte aus der Luther-Bibel für die geistliche Arbeit zu verwenden. Es bleibt ja nicht ausgeschlossen, dass moderne Übersetzungen, wie die »Gute Nachricht Bibel« oder Übertragungen, z.B. durch Jörg Zink, von Fall zu Fall ebenfalls als Hilfen für unser religiöses Leben herangezogen werden.
Wer die Rede Navid Kermanis anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (im vollen Wortlaut abgedruckt in den »Warte«-Ausgaben Januar bis März 2016) gelesen hat, erinnert sich sicherlich an die Versöhnungsbotschaft des vom IS verschleppten syrischen Paters Jacques Murad, der sich mit seiner katholischen Gemeinde von Qaryatein der Begegnung mit dem Islam und den Muslimen verschrieben hat. Nach fünfmonatiger Geiselhaft konnten er und seine Gemeinde fliehen. Heute betreut er im kurdischen Teil des Irak Flüchtlinge. Der folgende Beitrag ist die Zusammenfassung eines Interviews mit ihm in der FAZ vom 20. Oktober 2016.
Muslime aus Qaryatein befreiten den Pater und alle 250 mit ihm entführten Christen seiner Gemeinde. Auch wenn diese Zeit der Geiselhaft in der Gewalt von Terroristen für ihn eine leidvolle Zeit war, betrachtet er sie mittlerweile als Gnade - und zwar, weil er erkennen konnte, dass dieselben Menschen, die foltern und töten, auch Menschlichkeit in sich tragen.
Zweifelsohne konnte er diese Erfahrung machen, weil er sich selbst durch den Glauben an das Gute davor bewahrte, in Angst zu verfallen, und er sich darauf zu konzentrieren versuchte, den Terroristen in die Augen zu sehen und den Menschen dahinter zu erkennen. Wann immer sie in seine Zelle kamen, begegnete er ihnen mit einem Lächeln und nach etwa acht Tagen stellte er eine Veränderung ihres Verhaltens ihm gegenüber fest. Der Mann, der ihm immer das Essen brachte, fragte ihn, ob er etwas benötige, und als er krank wurde, ließ dieser einen Dschihadisten kommen, der medizinische Kenntnisse hatte und ihn pflegte.
Nach der Tatsache befragt, dass die Extremisten trotz der Stellung Jesu als Prophet im Islam und der Erwähnung Marias im Koran keinen Respekt vor seiner, der christlichen, Religion gehabt hätten, meinte Pater Murad, dass die Unterscheidung zwischen dem Islam an sich und dem extremistischen Islam sehr wichtig sei. Dann führte er aus, dass er und alle 250 Christen von Muslimen befreit worden seien, und zwar, nachdem die Entführten zunächst an verschiedenen Orten untergebracht und schließlich wieder nach Qaryatein zurückgebracht worden waren. Dort brachten ihnen muslimische Freunde Essen und Wasser, obwohl ihnen drastische Strafen vom IS drohten. Mit Hilfe von Beduinen gelang ihnen die Befreiung aller christlichen Geiseln. Dass einige dieser Menschen inzwischen tot sind, ist für ihn äußerst leidvoll und er wünschte sich manchmal, dass man lieber ihm den Kopf abgeschnitten hätte - so quälend ist ihm immer wieder das Überlebt-Haben.
Nach dem gegenwärtigen Ergehen der Christen in Syrien befragt, antwortete er, dass er keinerlei Unterschied zwischen Muslimen und Christen mache - alle seien in derselben furchtbaren Situation. Pater Murad klagt an: »Was derzeit in Aleppo passiert, ist eine Katastrophe, die alles Bisherige übertrifft. Die Welt schaut einfach nur zu und verliert mit jeder Minute, die verstreicht, ohne dass die Bombardements gestoppt werden, ein wenig mehr von ihrer Moral. Der Mensch besitzt keinerlei Wert mehr. Die Regierungen, die etwas tun könnten, sind gefangen in eigenen Interessen. Was ich nicht verstehe ist, warum die Menschen, die diese Regierungen gewählt haben, sich nicht dagegen erheben. Sie führen ein Leben in Freiheit und Wohlstand, worauf warten sie also noch? Warum schreien sie nicht auf, dass dieser Krieg endlich beendet werden muss?«
Dabei geht es ihm nicht nur um die Rettung der Christen, denn dort leben Muslime und Christen seit dem 15. Jahrhundert zusammen und gegenseitige Hilfsbereitschaft ist ganz selbstverständlich. So ist es in Qaryatein Tradition, dass bei einer Beerdigung die Nachbarn - einerlei ob christlich oder muslimisch - für die Familie des Verstorbenen Essen kochen. Auch die syrische Kirche konnte aufgrund der christlichen Organisationen in Europa, vor allem Deutschland, allen gegenüber gleichermaßen barmherzig sein. Trotz der politischen Konflikte, die es wegen des Glaubens gibt, wurde geteilt. Pater Murad hält nichts davon, anstelle von Muslimen gezielt syrische Christen in Europa aufzunehmen, denn »alle Syrer haben es verdient, gerettet zu werden. Ihr Los ist ansonsten der Tod.«
Ob aus dieser Erfahrung auch wir in Europa lernen könnten? Ja, zuallererst sollten die Christen in Europa keine Angst vor den Muslimen haben, sondern zwischen gläubigen Muslimen und Extremisten differenzieren. Außerdem sollten sich die Europäer bewusst machen, dass die Muslime nicht in erster Linie hierher kommen wollen, weil hier Wohlstand, sondern weil Frieden herrscht. Sie haben eine Bewunderung dafür, dass sich die Europäer nach 1945 und dem Fall der Mauer gegen kriegerische Gewalt entschieden haben - nicht zuletzt ist dieses Beispiel die Grundlage für vieles, was sich in den letzten Jahren in den arabischen Ländern ereignet hat. Sie sehnen sich danach, den gegenseitigen Respekt und die Freiheit, die wir hier leben können, selbst zu erfahren. Davor, dass die vielen muslimischen Flüchtlinge die christlichen Traditionen Europas in Gefahr bringen könnten, hat Pater Murad keine Angst. Weil das Christentum nicht nur ein Etikett sei, sondern von Mitmenschlichkeit geprägte Lebensform, seien Christen dazu aufgerufen, ihre Mitmenschen unabhängig von ihrer Religion die Liebe Jesu spüren zu lassen: »Es geht nicht, dass man den Leidenden dieser Welt den Rücken zukehrt.«
Dem Einwurf, dass die Angst auch darin bestehe, dass Muslime viel mehr Kinder bekämen, begegnete Pater Murad mit der Antwort, dass das meist soziale Gründe habe - und »das Problem der Kirche in Europa ist doch eher, dass viele Menschen sich von ihr abwenden - nicht, weil Muslime unter uns sind, sondern weil die Kirche ihrer Ansicht nach kein gutes Bild abgibt.«
Pater Murad ist der Meinung, dass die syrischen Flüchtlinge in Deutschland weitaus besser aufgehoben sind als in anderen Ländern, die Flüchtlinge aufgenommen haben. Von denjenigen, die er getroffen hat, weiß er, dass sie viel Güte und Unterstützung auf allen Ebenen erfahren. Dennoch leiden sie, weil es nicht einfach ist, ein Flüchtling zu sein und alles verloren zu haben. Jeder kennt jemanden, der die Fahrt über das Meer nicht überlebt hat, und obwohl sie selbst es geschafft haben, leiden sie unter dem Bewusstsein, dass ihre Familienangehörigen noch in Syrien sind, Hunger leiden und von IS-Bomben bedroht sind. Pater Murad bittet nicht darum, dass Deutschland noch mehr Flüchtlinge aufnimmt, er weiß, dass Deutschland viele aufgenommen hat, und kann verstehen, dass es manchen Deutschen reicht. Aber, meint er, dieses Werk, das in der Geschichte einzigartig sei, müsse auch bestmöglich zu Ende gebracht werden, und deshalb verlange es die Menschlichkeit, dass es denjenigen, die schon da seien, ermöglicht werden solle, dass ihre Familien nachkommen können.
Danach gefragt, ob die Aufforderung Navid Kermanis am Ende seiner Rede, für die Gemeinde von Qaryatein zu beten oder mit guten Wünschen bei ihnen zu sein, wohl geholfen habe, schließt Pater Murad: »Natürlich. Gebete können Wunder vollbringen. Nicht nur unsere Rettung war ein Wunder, sondern auch, dass wir alle trotz des Drucks, der auf uns ausgeübt wurde, unseren Glauben behalten haben. Niemand hat sich vom Glauben abgewendet oder ist zum Islam konvertiert. Auch in anderen Ländern wurde für uns gebetet. Die Kirche ist eine Familie, darin liegt ihre Schönheit.«
Schon einige Male hatten wir in der »Warte« auf ein Erinnerungsheft hingewiesen, in dem wir zurückschauen auf unser Gemeindeleben der letzten 70 Jahre und für das unser Ältestenkreis noch weitere Berichte dieser Art sucht. Als Beispiel der Erzählweise bringen wir im Folgenden eine Beschreibung des seinerzeitigen Ausbaus unseres Gemeindehaus-Giebelraums in der Erwartung, doch noch weitere Berichteschreiber unter unseren Lesern dazu motivieren zu können.
Kaum hatten wir unser neu erbautes Gemeindehaus mit seinem großzügigen Saal, der bleiverglasten Fensterfront, dem honigfarbenen Parkettboden sowie dem gemütlichen Clubraum, mit schwedischen Polstermöbeln ausgestattet, in Besitz genommen, träumten wir schon wieder, wie schön es wäre, wenn wir noch einen »Hobbyraum« hätten.
Gesagt, getan, und so wurden bald in großer Runde über das Wie und Wann und Wo Pläne geschmiedet, über finanzielle Mittel und Material entschieden und diskutiert. Der noch nicht vollständig ausgebaute Giebelraum über dem Clubraum war das Thema. Ein Kunststoffplatten-Boden war zwar vorhanden, aber durch die noch unverkleideten Dachpfannen pfiff der Wind und wirbelte Staub ungehindert herein. Eine breite, schon vorhandene Fensterfront mit Blick auf die darunter liegende L-förmige Terrasse des Clubraums sorgte für genügend Licht und Helligkeit. Also alles beste Voraussetzungen! Schnell war unter Gemeinde-Mitgliedern ein lockeres Bau-Komitee gebildet, die nötige Genehmigung eingeholt worden, und man schritt zur Tat, beschaffte nicht wenig Baumaterial und ging frohen Mutes ans Werk.
Wochenende für Wochenende wurde bei meist hochsommerlichen Temperaturen geschnitten, gesägt, geklopft, gehämmert und natürlich ordentlich geschwitzt, dicke Glaswoll-Dämmmatten zugeschnitten und zwischen den isolierten Ziegeln und den inzwischen angebrachten Nut-Feder-Brettern eingeschoben. Dabei entstand ein hässlicher »Glaswollstaub«, der sich in Mund, Augen, Nase und auf der verschwitzten Haut niederließ und so richtig zum Fluchen Anlass gab. Jede der noch so vielen Holzlatten wurde vor dem Haus auf zwei Holzböcke gelegt, um dann nach gründlich aufgebrachter Lasur zum Trocknen an die Hauswand gestellt zu werden. Diese ganze Prozedur musste bei jeder Latte zweimal wiederholt werden, um dann nach Beendigung wieder all die vielen Treppen nach oben in den Giebelraum transportiert zu werden. Langeweile kam da nicht auf, eher der Wunsch nach einem Aufzug.
Irgendwann war dann der ersehnte Moment der Fertigstellung und die Zeit für eine zünftige Einweihung der »Aktion Giebelraum« gekommen, und es wurden keine Mühen gescheut, das nötige Mobiliar zum gemütlichen Beisammensein nach oben zu transportieren. Es sollte ein ganz gelungener und ausgesprochen fröhlicher Abend werden. Von einer extra aufgestellten roten Bockleiter herunter wurden lobende Reden geschwungen, selbst erdachte Geschichten und Gedichte vorgelesen, und tiefes Bedauern über die (sehr harmlosen) Verletzungen und anderen Vorkommnisse ausgedrückt.
Helga hatte dann die freudige Aufgabe, unter großem Applaus jedem »Giebel-Bauarbeiter« als Anerkennung seines Einsatzes ein buntes Halstuch umzubinden. Auf einem an der Wand angebrachtem großen Plakat waren alle unsere Wunden und Verletzungen, die wir erlitten hatten, groß und deutlich zum Spaß aller Anwesenden aufgemalt und dokumentiert. Mutter Grete hatte fürs leibliche Wohl einen großen Topf mit »Krautwickele« gemacht, und so wurde nach den Ansprachen und Auszeichnungen ordentlich gegessen und geprostet. Wie so oft klang der fröhliche Abend mit Gesang und Gitarrenbegleitung und großer Zufriedenheit aus.
Der Ausbau des Raumes hat sich bis heute sehr gelohnt, es wurde und wird viel darin unternommen. Nachdem der Tischtennistisch angeschafft worden war, verlockte es Groß und Klein den Schläger zu schwingen, ob zu zweit oder in großer Runde beim »Mäxle« rotierend den kleinen weißen Ball zu bewegen - ping pong. Ebenso wurden oft, während im Saal Gottesdienst stattfand, die Kinder im Giebelraum mit Basteln und Spielen beschäftigt. Hatte man einen Kindergeburtstag oder den Kinderfasching zu feiern, so war der Giebel ein idealer Ort dafür. Auch heute noch ist dies unser Raum, in dem alle Bastelarbeiten für den jährlichen Basar entstehen und den wir nicht missen möchten.
Was erwartet man von einem Buch mit diesem Titel? Mich jedenfalls machte er neugierig und gab Anlass zur Lektüre, zumal das Buch in Frankreich ein Bestseller geworden war und Claudia Hamm für ihre Übersetzung den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse 2016 erhalten hatte.
In seinem Buch vermischt der Autor (geboren 1957, Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur) - wohl für ihn typisch - zwei Gattungen, nämlich die Autobiographie und das Sachbuch, und das auf unterhaltsame, spannende und zugleich informative Weise. Über gut 500 Seiten breitet er die Geschichte des Urchristentums aus - untersucht sie mit den Instrumenten des Historikers, des Theologen, des Psychologen, des Philologen, und wo ihm all das nicht ausreicht, weil die Quellenlage zu dünn ist, greift er zur Fiktion, stellt sich ganz plastisch vor, wie es gewesen sein könnte. Da ist der Leser manches Mal unsicher, wo das eine aufhört und das andre anfängt… Gleichzeitig stellt er seine ganz persönliche Auseinandersetzung mit dem Glauben dar, und von Anfang an macht er keinen Hehl daraus, dass er Agnostiker ist. Bis zum Ende hat man das Gefühl, dass ihn diese Geschichte des Urchristentums fesselt, dass ihn die rasante Verbreitung dieses neuen Glaubens fasziniert und er den Grundlagen des Glaubens nachspüren will.
Aber der Leser erfährt auch, dass Carrère nicht immer Agnostiker war. In einem formal-katholischen Elternhaus aufgewachsen, geraten Glaubensdinge zunächst aus dem Blick. Dabei erlebt er seine tief gläubige Patentante Jacqueline, eine glühende Katholikin, deren Persönlichkeit ihn tief beeindruckt und sehr beeinflusst. Zwar teilt er ihren Zugang zum Glauben nicht, aber als er um die 30 Jahre alt ist, gerät er in eine Schaffenskrise, in der er nicht mehr schreiben kann, sich als nicht liebenswert empfindet und auch selber nicht lieben kann. In dieser Zeit schenkt sie ihm eine Ausgabe der Bible de Jérusalem und macht ihn mit ihrem anderen Patensohn, Hervé, bekannt. Ihn bezeichnet Carrère als »einen wahren Freund Gottes, der sich angesichts seiner fast fundamentalistischen Überschwänglichkeiten in der Rolle des Skeptikers wiederfindet.« Die beiden verbindet bald eine enge, dauerhafte Freundschaft, sie verbringen jedes Jahr eine gemeinsame Zeit in den Bergen und können intensiv über Glaubensdinge reden. An seine Tante schreibt Carrère: »Und plötzlich sind für mich bei Hervé in den Bergen die Worte des Evangeliums lebendig geworden! Ich weiß jetzt, wo die Wahrheit und das Leben zu finden sind!« Er beginnt, jeden Tag einen Vers aus dem Johannesevangelium zu lesen und diesen zu kommentieren, geht jeden Tag in die Messe, verteidigt das Dogma und gibt sich dem christlichen Glauben fast uneingeschränkt hin - nur zum Empfang der Kommunion fühlt er sich zunächst nicht bereit.
Über nahezu drei Jahre notiert er seine Kommentare zum Johannesevangelium und theologische Reflexionen in fast 20 dicken Heften, die er nun für sein Buch über das Reich Gottes wieder durchliest und teilweise zitiert, nicht ohne immer wieder zu versichern, wie peinlich ihm der salbungsvolle, religiös-verklärte Stil im Rückblick ist. In diesem Zusammenhang beginnt Carrère immer wieder Bibeltexte zu zitieren - nach eigener Lesart. Das ist für unsere - an Luther-Formulierungen gewöhnte - Ohren äußerst ungewohnt, und der Leser erfährt (im sehr lesenswerten Nachwort der Übersetzerin), dass es in Frankreich keine kanonische Bibelübersetzung gibt, die mit der Luthers vergleichbar wäre. Carrère benutzt verschiedene Ausgaben, die in ihren Perspektiven wechseln, und aus ihnen setzt er nach Drehbuchmanier "seinen" Text zusammen. Da kann es schon zu sehr unterschiedlichen Interpretationen kommen. Dennoch: beim Reflektieren über verschiedene Themen werden im ganzen Buch viele zentrale Bibelstellen zitiert und diskutiert - später auch vor allem aus dem Lukasevangelium, der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen. Außerdem bezieht Carrère in seiner Auseinandersetzung mit Glaubensdingen die Aussagen vieler anderer Autoren mit ein und liefert passende Zitate dazu. Dann beschreibt er, wie er sich nach etwa drei Jahren wieder wie am Ende einer Illusion fühlt: »Genau dann muss man beten, sagen die Mystiker. Ans Licht, das man gesehen hat, muss man sich in der Nacht erinnern. Aber genau jetzt kommen mir selbst die Ratschläge der Mystiker wie Gehirnwäsche vor, und der Mut scheint mir genau darin zu bestehen, ihnen nicht mehr zu folgen, sondern mich stattdessen der Wirklichkeit zu stellen. Ist die Wirklichkeit, dass Christus nicht auferstanden ist? … Ich werde in der Ostermesse sagen "Christus ist auferstanden", aber ich werde nicht mehr daran glauben. Herr, ich gebe dich auf. Gib du mich nicht auf.«
Auch wenn Carrère konstatiert, dass es ihm seither mit dem Agnostizismus gut gehe, macht er sich auf den folgenden 370 Seiten an die Beschreibung und Kommentierung der Zeit zwischen 50-90 nach Christus, wofür er ein enormes Quellenstudium betrieben hat. Ausgehend von der Stelle in der Apostelgeschichte, in der die Erzählform plötzlich von der dritten in die erste Person wechselt, weil Lukas Paulus begleitet, beschreibt Carrère die Erlebnisse von Paulus und Lukas, als wäre er selbst dabei gewesen, und setzt sie in historische Zusammenhänge und literarische Beziehungen, zieht auch zum besseren Verständnis häufig einen Vergleich zu aktuellen politischen Phänomenen.
Am Ende schlägt Carrère im Epilog den Bogen wieder zu seinem eigenen Leben. Nach Überlegungen über die Entwicklung der Kirche und ihrer Entfernung von ihrem Ursprung, der gleichzeitig ihr Ideal darstellt, schildert er einen letzten Versuch, sich durch die Teilnahme an sogenannten Einkehrtagen in einer Arche-Gemeinschaft religiös anrühren zu lassen. In diesen Gemeinschaften wollen Menschen verwirklichen, wovon Jesus bei seiner Einladung zum gemeinsamen Mahl spricht: nicht die Freunde und Gleichgesinnten einzuladen, sondern die Ausgegrenzten, Bettler und Geisteskranken. Fast fürchtet er, von diesem Erlebnis bekehrt zurückzukehren, aber »zum Glück passiert nichts dergleichen«; dennoch muss er zugeben, »dass ich an diesem Tag einen Augenblick lang flüchtig erahnt habe, was das Reich Gottes ist.«
Nach meinem Empfinden ein gut konzipiertes, sehr persönliches und glänzend geschriebenes Buch, das ich nur ungern aus der Hand gelegt habe.