Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 172/1 - Januar 2016

 

 

Gruß zum Neuen Jahr

Epiphanias - Dreikönigstag - Brigitte Hoffmann

Wer ist mein Nächster? - Yanick und Jonathan Kloß

Über die Grenzen - Teil 1 - Navid Kermani

Gruß zum Neuen Jahr

 

Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen,

gib mir den Mut zum ersten Schritt.

Lass mich auf deine Brücken trauen,

und wenn ich gehe, geh du mit!

 

Ich möchte gerne Brücken bauen,

wo alle tiefe Gräben seh’n.

Ich möchte hinter Zäune schauen

und über hohe Mauern geh’n.

Ich möchte gern dort Hände reichen,

wo jemand harte Fäuste ballt.

Ich suche unablässig Zeichen

des Friedens zwischen Jung und Alt.

 

Ich möchte nicht zum Mond gelangen,

jedoch zu meines Feindes Tür.

Ich möchte keinen Streit anfangen;

ob Frieden wird, das liegt an mir.

 

Kurt Rommel

 

Teufelsbrücke (Quelle: Pixabay)

 

Die Menschen bauen zu viele Mauern
und zu wenig Brücken.

 

Isaac Newton

Dort, wo die Liebe Brücken spannt, öffnet
sich der Himmel auf Erden.

 

Diana Denk

 

Leitung und Verwaltung der Tempelgemeinde wünschen allen Lesern ein Neues Jahr in Ge­sundheit und Frieden.

 

Epiphanias - Dreikönigstag

Die Legende von den Weisen aus dem Morgenland und Josefs Flucht - ihr Gottvertrauen und das unsrige

Ich denke, die Erzählung als solche ist bekannt (Matthäus 2, 1-12). Für Matthäus - nur er bringt sie sehr ausführlich - ist sie ein Beweis für direktes göttliches Handeln und vor allem für die göttliche Sendung Jesu, belegt vor allem durch die Prophetenworte »auf dass erfüllet würde, was geschrieben steht«.

Aber was bedeutet diese Geschichte uns heute? Wir wissen, dass sie sich so nicht zuge­tragen hat, dass die Prophetenworte in andere Zusammenhänge gehören und sich nicht auf Jesus beziehen. Mich berührt sie. Wenn man die »heiligen« Überhöhungen abzieht, bleiben zwei grundlegende Aspekte, die eng zusammenhängen: es ist eine Geschichte der Wande­rungen ins Ungewisse und die eines unbedingten Vertrauens, und so kann sie durchaus ein Sinnbild für unser Leben sein, das immer eine Reise ins Ungewisse ist. Für den Einzelnen: ein Todesfall, eine Krankheit, eine Entlassung - und vieles Andere - können alles um uns herum grundlegend verändern. Für die Welt: noch alle längerfristigen Voraussagen haben sich als falsch erwiesen.

In unserem Gesangbuch steht das Gleichnis von einem Engel an der Pforte des Neuen Jahres: er verweigert das Licht, das ein Stück der Zukunft erleuchten könnte, und gibt statt dessen den Rat: Geh hinein in das Dunkel und lege Deine Hand in die Hand Gottes.

Genau das tun die Leitfiguren der Geschichte (Herodes zählt natürlich nicht dazu): Die Weisen gehen auf eine lange, beschwerliche Reise, auf der Suche nach einem König, von dem sie nichts wissen, als dass ein göttliches Zeichen ihn angekündigt hat. Dasselbe tut Josef, auf das Wort des Engels hin, in noch extremerer Form: eine Reise nach Ägypten - durch eine weite Strecke Wüste - mit nichts als einem Esel und der Verantwortung für eine Frau und ein Kleinkind war fast sicher eine Reise in den Tod.

Dieses absolute Vertrauen in Gottes Führung - auch gegen Vernunft und Wahrscheinlichkeit - ist ein Grundzug jüdischen und später christlichen Glaubens, in der Bibel immer neu geschil­dert: vom Auszug Abrahams oder dem Auszug Israels aus Ägypten bis zum Gang Jesu nach Jerusalem und die Missionsreisen der Apostel.

So sehr wir das bewundern und vielleicht uns danach sehnen - können wir uns mit einem solchen Glauben identifizieren? Sollten wir es? Meine Antwort heißt: ja und nein - und ich will mit dem »nein«, der Relativierung, beginnen. Alle Glaubenszeugen der Bibel, die Weisen und Josef so gut wie Abraham oder Paulus, waren, ohne jeden Zweifel, überzeugt, dass sie göttliche Botschaften empfangen hatten und sie ausführen mussten, und deshalb konnten sie das fast Unmögliche vollbringen.

Aber genau diesen unbedingten Glauben haben wir, oder die meisten von uns, nicht mehr. Es geht nicht nur darum, dass uns im Allgemeinen keine Engel im Traum erscheinen, die uns sagen, was wir tun sollen. Es geht darum, dass wir, auch wenn manche von uns in irgendeiner Form solche Eingebungen haben, ihnen nur bedingt vertrauen. Und das ist vielleicht gut so. Denn da wir Menschen mit unvollkommener Erkenntnis sind, ist auch das, was wir vielleicht als göttliche Eingebung erleben, gefärbt durch unsere subjektive Einstellung oder die unserer Umgebung. Ich denke, wir sollten prüfen, - manchmal auch durchaus mit unserem Verstand. Vielleicht sollten wir nicht, wie Josef in unserer Erzählung, ohne Planung und Proviant in die Wüste ziehen. Oder, um ein konkretes historisches Beispiel zu nehmen: nicht handeln wie die vielen pietistischen Auswanderer im 19. Jahrhundert, die im freudigen Vertrauen auf Gottes Auftrag und auf die unmittelbar bevorstehende Wiederkehr Christi aus dem Osten nach Russland zogen und zu einem großen Teil umkamen, weil sie zu wenig für ein solches Unternehmen vorausgeplant hatten. Und wir Heutigen haben unsere Zweifel, ob ein solcher Auswanderungszug einem direkten Willen oder gar Auftrag Gottes entsprach. Das gilt auch für unseren, den der Templer. Ob es spezieller göttlicher Wille war, dass unsere Vorfahren nach Palästina ausgewandert sind, können wir nicht wissen. Wir haben gelernt, dass wir Gottes Wirken nicht deuten können. Trotzdem bewundern wir das Gottvertrauen. Es hat ihnen die Kraft gegeben, unmöglich Erscheinendes in Angriff zu nehmen und, wichtiger noch, die Kraft, trotz schwerer Schicksalsschläge und der Gefahr des Scheiterns nicht zu verzweifeln.

Eine solche Glaubensgewissheit können wir nicht mehr haben, und vielleicht haben wir deshalb auch nicht mehr so viel Kraft. Trotzdem, oder gerade deshalb, sind ihre Haltung und ihre Erfahrung für uns wichtig. In »Okzident und Orient« spricht Christoph Hoffmann von der Möglichkeit des Scheiterns. Das war 1875, ehe es irgend eine Unterstützung aus Deutschland gab, und es war ein Jahr nach der Trennung von Hardegg und seinen Anhängern - ich denke, dass er da ein Scheitern als eine sehr reale Möglichkeit vor sich sah. Er sagt - sinngemäß zitiert - : »Auch wenn wir unsere Schritte nicht zu bereuen haben, weil sie im Hinblick auf das, was Gott will, getan wurden.« Das ist nicht mehr die unumstößliche Gewissheit des Gelingens wie in den früheren Jahren, sondern etwas, was mir wichtiger scheint und was auch für uns heute noch Gültigkeit haben kann: das, was im Hinblick auf Gott getan wird, ist nicht umsonst: es wirkt weiter, auch wenn es scheitert. Das ist ein ungeheures Vertrauen: ein Vertrauen, das auch wir haben können, das uns Trost und Halt sein kann, für unser persönliches Leben und für das unserer Gemeinschaft: das Vertrauen, dass Gott auch aus dem, was uns misslingt, was wir falsch machen oder falsch sehen, etwas Neues wachsen lässt. Und ich denke, dass wir unsere eigene Geschichte als ein Beispiel nehmen dürfen - auch wenn die Gründer das wohl anders gesehen hätten, wenn sie gewusst hätten, was kommt. In gewisser Weise sind sie gescheitert. Die Auswanderung beruhte z.T. auf einer falschen Grundlage: auf einem wörtlichen Bibelverständnis, das wir nicht mehr akzeptieren. Die Siedlungen, die sie mit so viel Glauben und Opfer aufgebaut haben, bestehen nicht mehr, und sie waren nie das, was sie nach dem Verständnis der Gründer hätten sein sollen, die Keimzelle des Reiches Gottes, der Beginn für die Erneuerung der Menschheit.

Und trotzdem waren sie nicht umsonst. Sie waren 70 Jahre lang ein unvollkommenes, aber doch ein lebendiges Beispiel christlichen Zusammenlebens. Sie haben einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet zu dem, was Hoffmann die Hebung des Orients nannte, wie uns auch diverse Ausstellungen aus der Sicht Dritter bestätigt haben. Der Verlust der Siedlungen, der die materielle und geistige Katastrophe zu sein schien, hat uns gezwungen, unsere Glaubensüberzeugung neu zu überdenken, sie neu und, wie wir glauben, besser zu definieren.

Ich denke, Ähnliches ließe sich über viele Aspekte der Geschichte von Christentum und Kirche sagen, - aber das würde hier zu weit führen. Sicher lässt sich Ähnliches über unseren heutigen Text sagen. Die Könige hat es nie gegeben, und die Magier, die es offenbar gegeben hat, haben sich doppelt getäuscht: in ihrem Glauben, dass der besondere Stern, vielleicht eine Sternen-Konjunktion, die sie gesehen haben, einen neuen, großen Kaiser ankündige, und darin, dass sie ihre Huldigung ausgerechnet Nero, dem Mörder auf dem Kaiserthron, darbrachten. Matthäus hat die Geschichte, die er wohl schon vorgefunden hat, benutzt als Zeichen, quasi als Beweis für das göttliche oder gottähnliche Wesen Jesu, das wir heute nicht mehr glauben. Und viele Generationen lang haben gläubige Menschen in dieser Legende eine historische Realität gesehen: eine lange Geschichte von Täuschungen. Die Geschichte blieb. Und heute lesen wir sie als Symbol für die lange, mühevolle Wanderung in das Dunkel einer ungewissen Zukunft, mit dem Stern als Zeichen für die Hoffnung und die Liebe, die Jesus uns gelehrt hat. Wir können ihn nie erreichen, aber er weist uns einen Weg. In diesen Wochen ziehen wieder, wie jedes Jahr, Tausende von Kindern als »Sternsinger« von Haus zu Haus, um an diese Geschichte zu erinnern und um Geld zu sammeln für hungernde und leidende Kinder in aller Welt. Und das ist ganz sicher etwas, was getan wird »im Hinblick auf das, was Gott will«.

Brigitte Hoffmann

Wer ist mein Nächster?

Am 8. November feierten wir im Gottesdienst den Abschluss der Konfirmandenzeit für Yanick und Jonathan Kloß. Geplant war in Kombination damit ein Jugendsaal; jedoch konnte nur Hanna Thaler persönlich anwesend sein. Aber es beteiligten sich noch Weitere mit Beiträgen, die wir nach und nach in der Warte abdrucken wollen. Die Konfirmanden hatten sich für das Thema »Wer ist mein Nächster?« entschieden und als biblischen Text dazu das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-37) zugrunde gelegt. Außerdem beschäftigten sie sich mit Überlegungen zum Nächsten in ihrem direkten Umfeld.

Betrachtung von Yanick

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist für mich in erster Linie einmal schockierend. Ein unschuldiger, wehrloser Mann wird ausgeraubt, niedergeschlagen und am Straßenrand liegen gelassen. Die Räuber scheinen dies ohne jegliche Skrupel zu tun, die Gesundheit des Mannes spielt für sie keine Rolle. Doch meiner Meinung nach geschieht das, was dieses Gleichnis tatsächlich so schockierend macht, erst nach dem Überfall. Sowohl Priester als auch Levit sehen diesen halbtoten Mann, wissen, dass er dem Tode nahe ist, und gehen vorüber. Zwei Menschen, die in ihrem Alltag von Nächstenliebe und Mitgefühl sprechen, die sogar schon von Beruf aus verpflichtet sind zu helfen, gehen an dem schwer verletzten Mann vorüber, als wäre er nicht ihre Angelegenheit. »Du sollst Gott, deinen HERRN, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten wie dich selbst.« Der Priester und der Levit, sie beide kennen dieses Gebot besser als jeder andere, und doch scheint es, als würden sie den nackten, verwundeten Mann am Straßenrand gar nicht für würdig halten, ihre Hilfe zu beanspruchen. Diesen Männern mit so wichtigen Ämtern ist er schlicht und einfach nicht der Nächste, nicht »nah« genug. Ihre Vorschriften von ritueller Reinheit sind ihnen wichtiger als das Leben dieses Menschen.

Am Ende ist es ein Samariter, von den meisten Juden dieser Zeit verachtet, der dem Mann das Leben rettet. Er, der eigentlich am allerwenigsten Grund hätte anzuhalten, kümmert sich um einen Mann, den er noch nie in seinem Leben gesehen hat, verbindet ihm die Wunden und bezahlt in einer Herberge für die Pflege des Mannes. Für den Samariter ist selbst dieser ge­schundene, sterbende Fremde der Nächste, und er zeigt ihm gegenüber Mitgefühl und Liebe.

Ich denke nicht, dass wir heutzutage noch oft in Situationen kommen, in denen wir Men­schen im Sterben liegend am Straßenrand finden, aber ich glaube dennoch, dass es in unserem Alltag oft genug Situationen gibt, in denen Mitgefühl und Liebe von großer Bedeutung sein können. Denn genau das kann meiner Meinung nach als erste Antwort dienen auf die Frage, wer unser Nächster ist: Nämlich ganz einfach jeder, der unsere Hilfe wirklich dringend benötigt.

Aber wer braucht denn heutzutage wirklich dringend unsere Hilfe? Als wir uns Gedanken über die Antwort auf diese Frage machten, kam uns eine Gruppe von Menschen in den Sinn, die jedem von uns im Alltag zwar oft begegnet, der von den meisten von uns aber doch ziemlich wenig Beachtung geschenkt wird. Wenn man auf der Königsstraße hier in Stuttgart entlangläuft, sitzen dort alle 20 Meter Straßenbettler in zerschlissenen Kleidern, schlechtem körperlichen Zustand und mit einem Becher für Kleingeld vor sich. Ich bin einfach mal ganz ehrlich: ich gebe diesen Bettlern meistens kein Geld. Ich schaue weg und laufe weiter, fast wie der Priester und der Levit am ausgeraubten Mann vorbeilaufen. Sind diese Bettler also auch meine Nächsten, und müsste ich ihnen nicht eigentlich alle Hilfe zukommen lassen, die ich aufbringen kann? Ich denke nicht, dass es realistisch ist, einen Bettler in eine Herberge mitzunehmen und dort für seine Unterkunft zu bezahlen, ich glaube auch nicht, dass das ist, was diese Menschen wollen und brauchen… Also doch nur eine Münze in den Pappbecher werfen und weitergehen? Eigentlich ist dies ja nun wirklich für jeden von uns machbar, einen Euro kann jeder hier entbehren. Wieso fällt es dann doch so vielen von uns schwer, diesen Menschen zu helfen? Ich denke hierfür gibt es zweierlei Antworten: Zum einen ist das Problem, dass wir diese Menschen nicht kennen. Wir wissen nichts über die Vergangenheit dieser Menschen, ob sie viel Pech hatten in ihrem Leben, und wir wissen auch nicht, ob sie sich mit dem Geld, das wir ihnen geben, etwas zu Essen kaufen oder etwa Alkohol oder Zigaretten. Zum anderen frage ich mich, ob ihnen der Euro, den ich ihnen gebe, wirklich weiterhilft. Wäre diesen Menschen nicht etwa mehr geholfen, wenn man einfach auf sie zu geht und mit ihnen spricht, sie kennenlernt, versucht, ihre Erfahrungen nachzuvollziehen? Und dazu braucht es nicht viel mehr als etwas Zeit und ein kleines bisschen Mut, den jeder von uns ab und an einmal versuchen sollte aufzubringen.

Überlegungen von Jonathan

Ich habe mich damit beschäftigt, wer mein Nächster im Fußballverein ist. Da ich Torwart bin, war mein erster Gedanke an die Innenverteidiger aus meiner Mannschaft, die halt immer 15 Meter vor mir stehen, aber natürlich steckt da mehr dahinter. Vielmehr geht es darum, wie sich Spieler, Trainer und Eltern auf und neben dem Sportplatz verhalten. Natürlich geht es während der Spiele manchmal etwas rustikaler zu, und dann muss der Schiedsrichter halt mal ein­greifen. Oder die Eltern und Zuschauer sind mit einer Entscheidung mal nicht zufrieden und sagen sich dann mal etwas lautstark ihre Meinung.

Aber am Ende sieht die Welt dann doch wieder ein bisschen freundlicher aus. Die Spieler beglückwünschen sich gegenseitig, die Zuschauer beruhigen sich, und alles ist wieder im Lot. Auch spielt dabei Respekt eine große Rolle. Ein gutes Beispiel dafür finde ich das Einlaufen. Die Spieler laufen ein, bedanken sich mit Applaus für die gekommenen Zuschauer und geben sich danach gegenseitig die Hand und wünschen sich ein gutes und faires Spiel. Und das, obwohl es manchmal um ziemlich viel geht, und man die gegnerischen Spieler vielleicht auch gar nicht kennt oder sogar nicht mag. Aber gerade deswegen finde ich es umso wichtiger, dass man diese wichtigen Dinge nicht vergisst. Somit wäre dann die Frage beantwortet, wer mein Nächster im Verein - oder besser überhaupt im Sport - ist: nämlich jeder, dem ich Respekt entgegenzubringen habe, damit der Fußball ein erfreuliches Ereignis bleibt. Außer­dem ist er eine notwendige Voraussetzung für das, was am Wichtigsten beim Fußball ist: dass man Spaß hat.

Dagegen ist ein ernstes Thema, dass immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen, Menschen, die Schutz vor Krieg, Armut, Hunger oder Verfolgung suchen, das wissen wir alle. Natürlich gibt es viele Menschen, die sich darum Sorgen machen, ob wir dieses Problem bewältigen können und ob wir die nötigen Mittel dazu haben. Doch genauso wichtig wie die Frage, ob wir so viele Menschen aufnehmen können, finde ich die Frage, auf welche Weise wir diese Menschen, die so oder so kommen, weil es ihnen in ihrem Heimatland einfach nicht möglich ist zu leben, aufnehmen und bei uns integrieren. Dass man ihnen nicht mit Hass und Abneigung entgegenkommt, sondern sie freundlich und wie seinesgleichen aufnimmt. So, wie man sich selber wünschen würde, irgendwo aufgenommen zu werden, wenn die eigene Hei­mat einem kein Zuhause mehr bieten kann.

Dabei fällt mir ein, was Jesus vermitteln wollte: Nächstenliebe. Den Nächsten lieben wie sich selbst. Und ich finde, das kann man perfekt auf unsere Situation übertragen. Jeder einzel­ne kann den Menschen Freundlichkeit, Herzensgüte und Nächstenliebe entgegenbringen, weil diese Menschen es brauchen. Zwar ist das nicht immer einfach, doch wenn man sich mal umschaut, gibt es viele Möglichkeiten dazu. Ein gutes Beispiel ist die Mannschaft bei uns im Verein ein Jahrgang höher. Denn sie hat drei Flüchtlinge ins Team aufgenommen, lässt sie mittrainieren und gibt ihnen ein bisschen Ablenkung von ihrem schweren Schicksal. Denn sie wissen nicht, wie es bei ihnen weitergeht oder wie lange sie noch bleiben können. Doch auf eines können sie sich verlassen, und zwar dass sie in der Mannschaft Freunde haben, die hinter ihnen stehen, egal was passiert. Und ich finde, das ist ein sehr gutes Beispiel für Nächstenliebe zwischen Menschen, die sich zuvor nicht kannten, die eine andere Sprache sprechen, aber eine gemeinsame Leidenschaft teilen und sich deswegen unterstützen.

Yanick

Auch ich habe mir darüber Gedanken gemacht: Im Jahr 2015 sind fast eine Million Menschen aus Syrien, Serbien oder dem Irak nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen fliehen vor Krieg, politischer oder religiöser Verfolgung oder Krankheit und suchen bei uns Schutz und Sicherheit. Sind sie auch meine Nächsten?

Für mich persönlich steht es außer Frage, alles zu tun, um diesen Menschen zu helfen und ihnen ein neues Leben hier in Deutschland zu ermöglichen. Zwar haben die meisten von uns nicht die Möglichkeit, etwa ein Flüchtlingsheim zu bauen - doch gibt es andere Dinge, die wir tun können, um diesen Menschen den Einstieg hier zu erleichtern. An meiner Schule planen wir im Moment ein Fußballspiel mit jungen Männern aus einem Flüchtlingsheim in der Nähe, und ich denke, dass das genau der richtige Ansatz ist. Denn meiner Meinung nach ist der Grund für viele Deutsche, die sich Sorgen machen, die Flüchtlinge könnten Probleme haben sich zu integrieren, die Tatsache, wie sehr sich diese Menschen in ihrer Sprache und ihrer Kultur von uns unterscheiden. Doch glaube ich, dass wir hierbei nicht nach Unterschieden suchen sollten, sondern vielmehr nach Gemeinsamkeiten. Diese mögen vielleicht schwerer zu finden sein, doch gibt es sie ganz sicher, und sei es nur die Lust am Fußballspielen. Ich denke, wenn so ein Schritt erst einmal getan ist, wird es für uns alle leichter, diese Menschen als unsere Nächsten zu betrachten.

 

Anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hielt der deutsch-iranische Schriftsteller, Publizist und Orientalist Navid Kermani eine bewegende Dankesrede. Wir halten sie für so beeindruckend, dass wir sie in dieser und den folgenden Ausgaben abdrucken.

Über die Grenzen - Teil 1

Jacques Mourad und die Liebe in Syrien

Ich habe Pater Jacques im Herbst 2012 kennengelernt, als ich für eine Reportage durch das bereits kriegsgeschüttelte Syrien reiste. Er betreute die katholische Gemeinde von Qaryatein und gehörte zugleich dem Orden von Mar Musa an, der sich Anfang der achtziger Jahre in einem verfallenen frühchristlichen Kloster gegründet hat. Das ist eine besondere, eine wohl einzigartige christliche Gemeinschaft, denn sie hat sich der Begegnung mit dem Islam und der Liebe zu den Muslimen verschrieben. So gewissenhaft die Nonnen und Mönche die Gebote und Rituale ihrer eigenen, katholischen Kirche befolgen, so ernsthaft beschäftigen sie sich mit dem Islam und nehmen bis hin zum Ramadan teil an der muslimischen Tradition. Das klingt verrückt, ja, aberwitzig: Christen, die sich nach ihren eigenen Worten in den Islam verliebt haben. Und doch war diese christlich-muslimische Liebe noch vor kurzem Wirklichkeit in Syrien und ist es in den Herzen vieler Syrer noch immer. Mit ihrer Hände Arbeit, ihrer Herzen Güte und ihrer Seelen Gebete schufen die Nonnen und Mönche von Mar Musa einen Ort, der mir utopisch anmutete und für sie selbst nichts Geringeres als die endzeitliche Versöhnung - sie würden nicht sagen: vorwegnahm, aber doch vorausfühlte, die kommende Versöhnung voraussetzte: ein Steinkloster aus dem siebten Jahrhundert mitten in der überwältigenden Einsamkeit des syrischen Wüstengebirges, das von Christen aus aller Welt besucht wurde, an dem jedoch zahlreicher noch Tag für Tag Dutzende, Hunderte arabische Muslime anklopften, um ihren christlichen Geschwistern zu begegnen, um mit ihnen zu reden, zu singen, zu schweigen und auch, um in einer bilderlosen Ecke der Kirche nach ihrem eigenen, islamischen Ritus zu beten.

Als ich Pater Jacques 2012 besuchte, war der Gründer der Gemeinschaft, der italienische Jesuit Paolo Dall"Oglio, kurz zuvor des Landes verwiesen worden. Zu laut hatte Pater Paolo die Regierung Assad kritisiert, die den Ruf des syrischen Volkes nach Freiheit und Demokratie, der neun Monate lang friedlich geblieben war, mit Verhaftungen und Folter beantwortete, mit Knüppeln und Sturmgewehren und schließlich auch mit ungeheuren Massakern und sogar Giftgas, bis das Land schließlich im Bürgerkrieg versank. Aber Pater Paolo hatte sich auch gegen die Führung der syrischen Amtskirchen gestellt, die zu der Gewalt der Regierung schwiegen. Vergeblich hatte er in Europa um Unterstützung für die syrische Demokratiebewe­gung geworben, vergeblich die Vereinten Nationen aufgefordert, eine Flugverbotszone einzurichten oder wenigstens Beobachter zu schicken. Vergeblich hatte er vor einem Krieg der Konfessionen gewarnt, wenn die säkularen und gemäßigten Gruppen im Stich gelassen und aus dem Ausland ausschließlich die Dschihadisten unterstützt würden. Vergeblich hatte er die Mauer unserer Apathie zu durchbrechen versucht. Im Sommer 2013 kehrte der Gründer der Gemeinschaft von Mar Musa noch einmal heimlich nach Syrien zurück, um sich für einige muslimische Freunde einzusetzen, die in den Händen des »Islamischen Staat« waren, und wurde selbst vom »Islamischen Staat« entführt. Seit dem 28. Juli 2013 fehlt von Pater Paolo Dall’Oglio jede Spur.

Pater Jacques, der nun allein die Verantwortung für das Kloster Mar Elian trug, ist seinem Wesen nach ein ganz anderer Mensch, kein begnadeter Redner, kein Charismatiker, kein temperamentvoller Italiener, sondern wie so viele Syrer, die ich kennenlernte, ein stolzer, bedächtiger, äußerst höflicher Mann, recht hochgewachsen, ein breites Gesicht, die kurzen Haare noch schwarz. Natürlich habe ich ihn nicht gut kennengelernt, nahm an der Messe teil, die wie in allen östlichen Kirchen aus berückend schönem Gesang bestand, und beobachtete, wie zugewandt er beim anschließenden Mittagessen mit den Gläubigen und örtlichen Honora­tioren plauderte. Als alle Gäste verabschiedet waren, nahm er mich für eine halbe Stunde mit in sein winziges Zimmer und rückte für das Interview einen Stuhl neben das schmale Bett, auf dem er selbst Platz nahm.

Nicht nur seine Worte erstaunten mich - wie furchtlos er die Regierung kritisierte, wie offen er auch über die Verhärtung in der eigenen, christlichen Gemeinde sprach. Tiefer noch hat sich mir seine Erscheinung eingeprägt: ein stiller, sehr gewissenhafter, in sich gekehrter, auch asketischer Diener Gottes, so nahm ich ihn wahr, der aber nun, da ihm Gott die Seelsorge der bedrängten Christen in Qaryatein und die Führung der klösterlichen Gemeinschaft auferlegt hatte, auch diese öffentliche Aufgabe mit all seiner Kraft ausübte. Er sprach leise und so langsam, die Augen meist geschlossen, als würde er bewusst den Puls verlangsamen und das Interview als Atempause zwischen zwei anstrengenderen Verpflichtungen nutzen. Zugleich sprach er sehr überlegt, in druckreifen Sätzen, und was er sagte, war von einer Klarheit und auch politischen Schärfe, dass ich immer wieder nachfragte, ob es nicht zu gefährlich sei, ihn wörtlich zu zitieren. Dann öffnete er die warmen, dunklen Augen und nickte müde, ja, das könne ich alles drucken, sonst hätte er es doch nicht gesagt; die Welt müsse erfahren, was in Syrien geschieht.

Diese Müdigkeit, das war auch ein starker, vielleicht mein stärkster Eindruck von Pater Jacques - es war die Müdigkeit eines Menschen, der mehr als nur eingesehen, nämlich bejaht hatte, dass es Erholung vielleicht erst im nächsten Leben gibt, die Müdigkeit eines Arztes und Feuerwehrmannes auch, der sich seine Kräfte einteilt, wenn die Not überhandnimmt. Und ein Arzt und Feuerwehrmann war Pater Jacques als Priester inmitten des Krieges ja auch, nicht nur für die Seelen der ­Verängstigten, ebenso für die Leiber der Bedürftigen, denen er in seiner Kirche ungeachtet ihres Glaubens Essen, Schutz, Kleidung, Wohnstatt und vor allem Zuwendung bot. Viele hundert, wenn nicht Tausende von Flüchtlingen hat die Gemeinschaft von Mar Musa bis zuletzt in ihrem Kloster beherbergt und versorgt, die allermeisten von ihnen Muslime. Und nicht nur das - Pater Jacques gelang es, wenigstens in Qaryatein den Frieden, auch den konfessionellen Frieden, zu bewahren. Maßgeblich ihm ist es zu verdanken, dem stillen, ernsten Pater Jacques, dass sich die verschiedenen Gruppen und Milizen, manche regierungsnah, manche oppositionell, darauf einigten, aus dem Städtchen alle schweren Waffen zu verbannen. Und ihm gelang es, dem kirchenkritischen Priester, fast alle Christen seiner Gemeinde zum Bleiben zu bewegen. »Wir Christen gehören zu diesem Land, auch wenn das die Fundamentalisten weder bei uns noch in Europa gern hören«, sagte Pater Jacques mir: »Die arabische Kultur ist unsere Kultur!«

Bitter stießen ihm die Aufrufe mancher westlicher Politiker auf, gezielt arabische Christen aufzunehmen. Derselbe Westen, der sich nicht um die Millionen Syrer schere, die quer durch alle Konfessionen friedlich für Demokratie und Menschenrechte demonstrierten, derselbe Westen, der den Irak zugrunde gerichtet und Assad sein Giftgas geliefert habe, derselbe Westen, der mit Saudi-Arabien im Bunde stehe und damit dem Hauptsponsor des Dschi­hadismus - dieser gleiche Westen sorge sich nun um die arabischen Christen? Da könne er nur lachen, sagte ­Pater Jacques, ohne eine Miene zu verziehen. Und fuhr mit geschlossenen Augen fort: »Diese Politiker befördern mit ihren unverantwortlichen Äußerungen genau jenen Konfessionalismus, der uns Christen bedroht.«

Immer größer wurde die Verantwortung, die Pater Jacques so klaglos wie immer trug. Die ausländischen Mitglieder der Gemeinschaft mussten Syrien verlassen und fanden Zuflucht im Nordirak. Zurück blieben nur die sieben syrischen Mönche und Nonnen, die sich auf die beiden Klöster Mar Musa und Mar Elian verteilten. Ständig verschoben sich die Fronten, so dass in Qaryatein mal der Staat, mal oppositionelle Milizen herrschten. Mit beiden Seiten mussten sich die Mönche und Nonnen arrangieren und dazu wie alle Bewohner die Luftangriffe überleben, wenn die Kleinstadt gerade in den Händen der Opposition war. Dann aber drang der »Islamische Staat« immer weiter ins syrische Kerngebiet vor. »Die Bedrohung durch den IS, dieser Sekte von Terroristen, die ein fürchterliches Bild des Islams abgeben, ist in unserer Gegend angekommen«, schrieb Pater Jacques wenige Tage vor seiner Entführung an eine französische Freundin. Und weiter: »Es ist schwierig zu entscheiden, was wir tun sollen. Sollen wir unsere Häuser verlassen? Das fällt uns schwer. Einzusehen, dass wir verlassen sind, ist fürchterlich - verlassen zumal von der christlichen Welt, die beschlossen hat, auf Distanz zu gehen, um die Gefahr von sich fern zu halten. Wir bedeuten ihnen nichts.«

Allein in diesen wenigen Zeilen einer bloßen, sicher eilig geschriebenen Mail fallen zwei Formulierungen auf, die charakteristisch sind für Pater Jacques und zugleich ein Maßstab für jede Intellektualität. In dem ersten Satz heißt es: »Die Bedrohung durch den IS, dieser Sekte von Terroristen, die ein fürchterliches Bild des Islams abgeben...« Der andere Satz, über die christliche Welt: »Wir bedeuten ihnen nichts.« Er verteidigte die fremde Gemeinschaft und kritisierte die eigene. Als die Gruppe, die sich auf den Islam beruft und vorgibt, das Gesetz des Korans anzuwenden, ihn und seine Gemeinde bereits unmittelbar physisch bedrohte, wenige Tage vor seiner eigenen Entführung, betonte Pater Jacques noch, dass diese Terroristen das wahre Gesicht des Islams entstellten. Ich würde jedem Muslim widersprechen, dem angesichts des »Islamischen Staates« nur die Floskel einfällt, dass die Gewalt nichts mit dem Islam zu tun habe. Aber ein Christ, ein christlicher Priester, der damit rechnen muss, von Andersgläubigen vertrieben, gedemütigt, verschleppt oder getötet zu werden, und dennoch darauf beharrt, diesen anderen Glauben zu rechtfertigen - ein solcher Gottesdiener legt eine Größe an den Tag, die ich sonst nur aus den Viten der Heiligen kenne.

Jemand wie ich kann den Islam nicht auf diese Weise verteidigen. Er darf es nicht. Die Liebe zum Eigenen - zur eigenen Kultur wie zum eigenen Land und genauso zur eigenen Person - erweist sich in der Selbstkritik. Die Liebe zum anderen - zu einer anderen Person, einer anderen Kultur und selbst zu einer anderen Religion - kann viel schwärmerischer, sie kann vorbehaltlos sein. Richtig, die Liebe zum anderen setzt die Liebe zu sich selbst voraus. Aber verliebt, wie es Pater Paolo und Pater Jacques in den Islam sind, verliebt kann man nur in den anderen sein. Die Selbstliebe hingegen muss, damit sie nicht der Gefahr des Narzissmus, des Selbstlobs, der Selbstgefälligkeit unterliegt, eine hadernde, zweifelnde, stets fragende sein. Wie sehr gilt das für den Islam heute! Wer als Muslim nicht mit ihm hadert, nicht an ihm zweifelt, nicht ihn kritisch befragt, der liebt den Islam nicht.

Es sind nicht nur die schrecklichen Nachrichten und noch schrecklicheren Bilder aus Syrien und dem Irak, wo der Koran noch bei jeder Schweinetat hochgehalten und bei jeder Enthauptung „Allahu akbar“ gerufen wird. Auch in so vielen anderen, wenn nicht den meisten Ländern der muslimischen Welt berufen sich staatliche Autoritäten, staatsnahe Institutionen, theologische Schulen oder aufständische Gruppen auf den Islam, wenn sie das eigene Volk unterdrücken, Frauen benachteiligen, Andersdenkende, Andersgläubige, anders Lebende ver­folgen, vertreiben, massakrieren. Unter Berufung auf den Islam werden in Afghanistan Frauen gesteinigt, in Pakistan ganze Schulklassen ermordet, in Nigeria Hunderte Mädchen versklavt, in Libyen Christen geköpft, in Bangladesch Blogger erschossen, in Somalia Bomben auf Marktplätzen gezündet, in Mali Sufis und Musiker umgebracht, in Saudi-Arabien Regimekritiker gekreuzigt, in Iran die bedeutendsten Werke der Gegenwartsliteratur verboten, in Bahrein Schiiten unterdrückt, im Jemen Sunniten und Schiiten aufeinander gehetzt.

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe

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