Im PDF-Format (746 KB)
»Tat ist mehr als Wort - Beispiel mehr als Lehre« - Georg Schneider
Aus dem Denken Christoph Hoffmanns - Peter Lange
Andacht zur Weihnacht - Wolfgang Blaich
Weihnachten - Historisch und existenziell gedeutet - Werner Martin
Bibelworte - kurz betrachtet - Jörg Klingbeil
Freundeskreis für Flüchtlinge Degerloch - Karin Klingbeil
Flüchtlinge finden neue Heimat in Nhill - Christa Lingham
Zum Gedenken an den 200. Geburtstag von Christoph Gottlob Jonathan Hoffmann am 2. Dezember möchten wir die Würdigung seines Wirkens aus der Feder eines Außenstehenden an den Beginn dieser »Warte«-Ausgabe setzen, war doch unsere Zeitschrift - zuerst unter dem Titel »Süddeutsche Warte« - vor allem dem religiösen Streben Hoffmanns zu verdanken. Der Verfasser hatte die Würdigung im März 1970 im »Degerlocher Arbeitskreis freier christlicher Gemeinschaften« in einem Beilagenblatt unter der Überschrift »Die Tempelgesellschaft - ein Modell freien Christentums« veröffentlicht. Die Herausgeber der »Warte« sind der Ansicht, dass in der Würdigung die wichtigen, für Hoffmann charakteristischen Gedanken und Initiativen verständlich und prägnant zum Ausdruck gebracht werden und deshalb auch heute ein Anlass für Mitglieder und Leser sein können, die dort aufgeworfenen Lebens- und Glaubensfragen neu zu überdenken.
Der Gründer der Tempelgesellschaft, Christoph Hoffmann, 1815 geboren, ist in der Welt des schwäbischen Pietismus aufgewachsen. Sein Vater ist Mitbegründer des mit gutmütigem schwäbischem Spott so genannten »Heiligen Korntal«, einer staatsfreien Brüdergemeinschaft. Einer der Angelpunkte des Denkens auch von Chr. Hoffmann ist: die damals herrschende Staatskirche kann unmöglich mit der Kirche des Neuen Testaments in eins gesehen werden. Schon die Reformationszeit hatte dort, wo die Kirche nicht wie in der Schweiz oder in den Freien Reichsstädten eine gewisse Selbständigkeit und Unabhängigkeit von den staatlichen Instanzen erreicht hatte, zu der »Notlösung« des landesherrlichen Kirchentums geführt: d.h. der Fürst war zugleich Bischof, der Pfarrer Staatsbeamter; ein Abweichen von der Bekenntnislinie war Aufruhr gegen den Staat. Wo blieb da die lutherische »Freiheit eines Christenmenschen«?
Um diesem Bekenntniszwang zu entgehen, waren Tausende schwäbischer Pietisten nach Russland ausgewandert, in die Krim, an die Wolga, in den Kaukasus. (Erst ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts richteten sich die Auswandererströme nach Amerika). Den Auswanderern ging es nicht vorab um Bauernland, sondern sie waren beflügelt durch die Berechnungen des frommen Prälaten Bengel, der die »Wiederkunft Christi« auf das Jahr 1836 vorausgesagt hatte. In diese Zeit innerer Erregung müssen wir die Entstehung der TG rücken.
war auch als Theologe ein sehr kritischer Mann. So konnte es nicht ausbleiben, dass er den Kirchendienst verließ und im »Salon« bei Ludwigsburg eine Erzieherstelle übernahm. Aber bald wird ihm der beschauliche, nur auf die Missionstätigkeit unter den Heiden bedachte Pietismus zu eng. 1848 wird er, wohl einer der Jüngsten jener erlauchten Geister, in das Bundesparlament nach Frankfurt entsandt. Das Problem »Christ und Welt« stellt sich ihm in seiner ganzen Breite: politisch, sozial, gesellschaftlich, religiös und kulturell. Obwohl im Grunde ein konservativer, ja monarchistischer Deutscher, erkennt er, dass man die Dinge mit der Tat angehen muss. (Es ist die Zeit eines Joh. Hinr. Wichern, eines Gustav Werner u. a.)
An die Stelle der institutionellen Kirche soll ohne jede staatliche Bevormundung eine volksnahe Kirche treten, die ihre Synodalen wählt, in der das Bekenntnis nicht durch den Büttel geschützt wird, in der Diakonie aus verantwortlicher Liebe wichtiger ist als korrekte Rechtgläubigkeit. Die Laien sollen stärker engagiert werden, es soll keine (katholische) Priesterkirche und keine (evangelische) Pfarrerskirche geben; nach neutestamentlichem Vorbild sucht Hoffmann mit seinen »Ältesten« das allgemeine Priestertum aller Gläubigen zu verwirklichen. Der Unterschied Priester - Laie soll fallen; alle Gläubigen sind Mitarbeiter Gottes. Unserem Schwaben (in Schwaben sei, sagt man, »jedes Haupt mit einem Tropfen demokratischen Öls gesalbt«) geht es über die sich absolut setzenden Konfessionskirchen hinaus um die »Sammlung des Volkes Gottes«. Wenige vermochten damals dem Gedankenflug jenes »Avantgardisten« zu folgen.
Zwar hat Luther Dutzende von römischen Sakramentalien abgeschafft und die Zahl der Sakramente von sieben auf zwei reduziert; aber dann konnte er sich doch vom sakramentalen Denken nicht endgültig lösen. Er wusste so gut wie Zwingli, dass »die Täufer«, die vor allem im alemannischen Raum auftraten, seines Geistes Söhne waren, aber sie gingen der Wittenberger wie der Zürcher Obrigkeit einfach zu weit. So hielten auch die »Reformatoren« in der Frage der Kindertaufe starr am alten Brauch fest. Und in der Abendmahlsfrage hat Luther, der so scharf sich gegen die magische Transsubstantiationslehre (Lehre von der Wandlung der Elemente Brot und Wein in den realen Leib und das Blut Christi), vor allem gegen den »Greuel der Winkelmessen« wandte, sich selbst mit Zwingli überworfen. Seit jenen Tagen kommt die Frage um die Kindertaufe in der Kirche nicht mehr zur Ruhe, und aus dem »Gemeinschaftsmahl« der Christenheit ist ein Tisch der Zertrennung geworden.
Für Hoffmann ist die Tauffrage rein von Jesus her zu entscheiden. Jesus hat weder getauft, noch geht der sogenannte »Taufbefehl« auf den geschichtlichen Jesus von Nazareth zurück. So gibt es im Kreis um Hoffmann keine Kindertaufe; an ihre Stelle tritt die »Darstellung«, eine Dankfeier, bei der Eltern und Gemeinde verpflichtet werden, dafür besorgt zu sein, dass dieses Kind aufwachsen möge in einer Umwelt, wo der Geist Jesu herrscht. Und im Abendmahl führt der Geist Gottes die Glieder des Gottesvolks zusammen zu einer Feier, wo unter Danksagung (Eucharistie) die lebendige Gemeinschaft (Koinonia) gepflegt und die Liebe zum Bruder (Agape) sichtbar wird. Wie sollten Jesu Jünger, denen er »Brot des Lebens« ist, nicht einen Tisch decken mit »Brot für die Welt«?
Früh wendet sich Hoffmann gegen den in den altkirchlichen Bekenntnissen niedergelegten Dreieinigkeitsgedanken, der griechischen Ursprungs ist, Ausdruck eines bestimmten philosophischen Denkens. Jesus glaubte an den einen Gott als »Vater unser«; Paulus war jüdischer Monotheist und vergottete Jesus nicht, so hohe Würdenamen er ihm auch beilegte. Die Niederlage der christlichen Kirche und den Verlust eines großen Teils der Mittelmeerländer an den Islam sieht Hoffmann in der Abkehr vom Eingottglauben hin zur Trinitätslehre. Ist es verwunderlich, dass ein Mann, der so denkt, Verbindung sucht mit den Christlichen Unitariern Englands und Amerikas wie den Quäkern, dass die TG an den Weltkongressen für Freies Christentum und religiöse Freiheit aktiv teilnimmt?
Wie zum Dreieinigkeitsdogma nimmt Hoffmann kritisch Stellung zur kirchlichen Sühnetheorie. So viele dem heutigen Menschen anstößige Kirchenlehren, sieht er, sind nicht im Neuen Testament verankert. Nirgends ist dort von Jesus als der zweiten Person der dreieinigen Gottheit die Rede. Und nirgends - das ist ungeheuerlich für pietistische Menschen mit Ihrem »Karfreitags-Christentum« - nirgends in der Bibel wird Jesus als der am Kreuz gestorbene Versöhner gefeiert, der mit seinem Blut- und Selbstopfer einen zürnenden Gott umgestimmt habe. Jesus kennt keinen Vater, der seinen Sohn sich selbst als Sühnopfer schlachtet! Fällt damit nicht das ganze Christentum? Nein. Hoffmann ist und bleibt »Jesuaner«; er glaubt mit Paulus, dass in Jesus das unsichtbare Bild Gottes anschaubar geworden ist, mit Johannes, dass »wer ihn sieht, den Vater sieht«.
Von Hoffmann wird »Gottessohnschaft« als allgemeine Bestimmung des Menschen erfasst; ihm ist Jesus »der erstgeborene unter vielen Brüdern«, nicht eine gestaltlose Idee, sondern persönlich verpflichtendes Leitbild.
Hoffmann erkennt angesichts der »historischen Kritik« jener Tage deutlich, dass man mit dem Pochen auf den Bibelbuchstaben nicht mehr überzeugen kann; zu sehr hat die Textkritik alle vordergründigen Sicherheiten zerschlagen! Wankt und fällt dann aber nicht alles? Hoffmann ist zutiefst überzeugt, dass die Botschaft vom »Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit« unumstößlich ist. Dabei geht es ihm weniger um Vorstellungen über das Reich Gottes, vor allem im Zusammenhang mit der Frage nach Jesus als dem Messias, als um den zentralen Sinn der Frohbotschaft: aus Liebe zu Gott erwächst die Liebe zum Leben, zum Menschen, zur ganzen Schöpfung. Diese verantwortliche Liebe muss »Priorität« erhalten (Matth. 6, 33).
Es gibt Höchstwerte in der Verkündung Jesu (Geschichte von Maria und Marta; die Gleichnisse vom Schatz im Acker und der köstlichen Perle). Und diesen inneren Dingen, der geistig-moralischen Existenz des Menschen, muss die führende Rolle zufallen. Dieser Ruf des Evangeliums fordert den Menschen zu einer Entscheidung heraus, die ihm nicht einfach »autoritär« abgefordert wird, sondern die sich an eine Einsicht, an seine Vernunft wendet.
Wenn wir das erste Wort Jesu mit Luther übersetzen: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen« - so mag es den mittelalterlichen Menschen mit ganz bestimmten Bußvorstellungen immer neu getroffen haben. Aber hat Luther dieses Jesuswort in seiner »Übersetzung« nicht bereits germanisch-mittelalterlich »interpretiert«? Mit einem »metanoeite«, mit seinem Ruf zur Sinnesänderung, forderte Jesus den Menschen auf, dass er seine Vernunft sozusagen »umpolen« (meta) solle. Sein Denken soll nicht mehr auf Geld, Genuss, Macht, Ansehen gerichtet sein, sondern aus verantwortlicher Liebe soll er mit seinen vernunftmäßigen Fähigkeiten darüber wachen, dass die ewigen Ordnungen beachtet würden. »So wird euch alles Übrige zufallen.«
Ganz im Bengelschen Denken von der Wiederkunft Jesu gefangen hat Hoffmann einst versucht, aus alttestamentlichen Weissagungen zu zeigen, wie dem »neutestamentlichen Volk Gottes« auch ein Land zugehören müsse. Unter schweren Opfern an Gut und Blut hat er mit seinen Glaubensgenossen die berühmt gewordenen Siedlungen der Palästinaschwaben aufgebaut, die nun vom »alttestamentlichen Gottesvolk« in Besitz genommen worden sind. Für die Templer in Australien wie in Europa erhebt sich nun die Frage: Gehört der Glaube an den »Tempel Gottes« in Palästina zum unveräußerlichen Bestandteil ihres Glaubensguts, oder ist überall Gottes Tempel, wo er »im Geist und in der Wahrheit angebetet wird«?
Freilich, solche »Anbetung« wird nie »rein geistig« sein. Das hat Wichern in seinem »Rauhen Haus« gezeigt, Fliedner in Kaiserwerth und Bodelschwingh in Bethel, die Averdieck (Gründerin des Kranken- und Diakonissenmutterhauses Bethesda, Anm. der Redaktion) in Hamburg und Gustav Werner in seinem »Bruderhaus«. Was die Templer in Palästina geleistet haben an Aufbau von Schulen und Werkstätten, an gegenseitiger Hilfe durch Genossenschaften ist - ähnlich wie bei dem schwäbischen Pfarrerssohn Raiffeisen - eine aus dem Glauben und der Liebe und Vernunft fließende brüderliche Aktion. »Leiblichkeit« gehört nun einmal zu »den Wegen Gottes«.
Der Gedanke des »Tempels« scheint mir ein überaus fruchtbarer Gedanke für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft. In dem Pauluswort: »Wisset ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist, welchen ihr habt von Gott« (1. Kor. 6, 19) ist ein Ansatz für ein ganz neues Menschenbild gegeben. Wenn die Griechen in ihrer Spätzeit den Leib als Gefängnis der Seele werteten und das kirchliche Christentum solch spätgriechischen Gedanken folgend dazu neigt, leibfeindliche Askese als Höhe des Christenglaubens zu preisen (Zölibat); hier steht ein Menschenbild, das weder von der Biologie her das Erdzugewandte überbetont, noch in sublimem Spiritualismus sich als »schöne Seele« oder »reinen Geist« bewundert. Hier steht der ganze Mensch nach Leib, Seele und Geist, geschaffen »nach dem Bilde Gottes«, das »in Jesus ausgemacht ist«.
Der Gedanke des »Tempels« ist bedeutsam aber nicht allein im individuellen, sondern auch im sozialen Sinn. Hoffmann kannte keinen andern Glauben als den sich im Leben bewährten, keinen Lehr-, sondern einen Lebensglauben. In seinem Blatt »Die Warte« nahm er zu allen Zeitfragen Stellung, zu Krieg und Frieden, zur Eidfrage, zur Zwangsimpfung, vor allem zur sozialen Frage. Aber das Entscheidende ist: Obwohl die »Gottesdienste im Saal« weithin der brüderlichen Aussprache dienen, am Schluss geht es immer um die Betätigung des Glaubens. So wird die »Tempelgesellschaft« so etwas wie ein »offener Orden«, dem es im Sinne der Bergpredigt darum geht, »den Willen zu tun des Vaters im Himmel« in biblischem Realismus und schwäbischer Erdentreue, in heiliger Nüchternheit. Ein »Modell freien Christentums« war die Arbeit Sebastian Francks wie die Albert Schweitzers, die beide aus demselben alemannischen Raum stammen wie Christoph Hoffmann. Ein »Unternehmen Jesu Christi«, in dem »auf allerlei Weise« sein Glaube dargelebt wird, war die Tempelgesellschaft und soll ein Modell freien Christentums nicht nur im 19. Jahrhundert gewesen sein, sondern es unter den veränderten Verhältnissen des 20. Jahrhunderts neu werden.
Georg Schneider (1902-1986)
Hoffmanns Denken und Trachten kann am besten durch Zitate aus seinen zahlreichen schriftlichen Veröffentlichungen verdeutlicht werden, die ich hier seinem Lebens- und Schaffensbild folgen lassen möchte und die uns die Möglichkeit bieten, uns mit seinen Gedanken eingehender zu befassen.
Tat ist mehr als Wort, Beispiel mehr als Lehre. Sind uns die Worte Jesu und der Apostel wichtig und heilig, so muss uns ihr Tun und ihr Beispiel noch wichtiger sein, besonders da die Erfahrung zeigt, dass man, ohne ihrem Tun nachzufolgen, ihr Wort nicht recht versteht, geschweige denn die Kraft desselben erfährt. (Aus einem Aufsatz in: »Süddeutsche Warte«)
Die Gemeinde ist das wunderbare Werkzeug, durch welches Gott nicht bloß etwa das eine jüdische Volk zu seinem Volk herstellt, um dann später von diesem aus den anderen Völkern zu helfen, sondern sie ist das Werkzeug, durch welches Gott Menschen aus allen Stämmen der Erde in ein solches Leben einführt, wie er es den Menschen bestimmt hat, sie ist mit einem Wort die allgemeine menschliche Form, in der ohne Rücksicht auf Stammesunterschied die göttliche Bestimmung des Menschengeschlechts sich ausspricht. (Aus einem Aufsatz in: »Süddeutsche Warte«)
Christus wollte nicht eine Kirche gründen, die durch vorgeschriebene Glaubensbekenntnisse und gottesdienstliche Handlungen den Menschen die Anwartschaft auf ein seliges Leben nach dem Tod verschafft, sondern die Gemeinde, die er gegründet hat, beruht auf dem Glauben an das Reich Gottes auf Erden, welches er selbst in seiner Person verwirklicht hat und welches in einem Volk und endlich in der Menschheit zu verwirklichen die Aufgabe seiner echten Nachfolger ist. (Aus: »Wegweiser zum dauerhaften Glück«, 1877)
Nicht die Lehre von der Versöhnung, noch die von der Gottheit Christi, noch viel weniger die von der Dreieinigkeit, die in der Bibel gar nicht steht, ist die Fundamentallehre des Christentums, sondern die Lehre von dem Reich Gottes. (Aus: »Drittes Sendschreiben über die Versöhnung der Menschen mit Gott«, 1877)
Nach dem hohen Ziele richte aus dem Staub sich unser Blick! Unsre Seele sinn und dichte nur das ewig wahre Glück. So messen wir richtig die Güter der Erde, wir lernen zu scheiden das Glas von dem Gold; uns schreckt und uns lockt nicht die eitle Gebärde, wir fragen nach dem nur, was Jesus gewollt. (Aus: »Losung des Volkes Gottes«, 1855)
Die »neue Konfession« hat eine positive Lehre, die aber nicht bloß eine Lehre ist, sondern ein Ziel für die Bestrebungen der Menschen, eine Aufgabe fürs Leben aufstellt. Es ist die Lehre, welche Johannes der Täufer als Vorbereitung für das Wirken Christi verkündigt hat, die einzige Lehre, welche Jesus Christus selbst zu predigen sich berufen fühlte, die Lehre vom Reich Gottes. (Aus: »Über die Grundlagen eines dauerhaften Friedens«, 1870)
Es ist ja eigentlich verwunderlich und rational nicht uneingeschränkt erklärbar, was wir Jahr für Jahr denn tatsächlich feiern - dieses Weihnachten, Jahr für Jahr den Zauber erleben, welchen dieses Fest im Jahreskreis auslöst, Jahr für Jahr Tausende in die Christvespern der Kirche bringt, die sonst im Jahr eben dieser Kirche nicht wirklich nahe stehen, Jahr für Jahr wieder Menschen und Familien zusammenführt, wo oftmals Gräben sich aufgetan haben.
Was macht Weihnachten aus? Worin liegt das Geheimnis des Zaubers, der von ihm ausgeht? Was wir uneingeschränkt kennen, ist die emotionale Seite, welche den von den meisten Menschen erlebten Wert des Weihnachtsfestes erklärt und uns dem Zauber öffnet und uns hinein führt - die Erinnerungen der Kindheit an die Nähe in der Familie, an das Erleben von Wärme, Geborgenheit, Liebe und Freude, besonders auch an die mit Spannung und Neugierde verbundene Vorfreude, bis sich die Tür zur Weihnachtsstube endlich öffnete. Und wie gut kennen wir doch die Freude des Beschenktwerdens und des Schenkens.
Darüber hinaus aber, meine ich, gibt es noch einen tieferen Grund dessen, was Weihnachten wirklich ausmacht, gibt es einen größeren, aber nicht so bewussten Zusammenhang zwischen dem Christfest und der Zeit der winterlichen Sonnenwende. Nämlich der einer starken Sehnsucht nach Licht in einer dunklen Zeit, nach Hoffnung auf eine Zeitenwende und einen Sinneswandel.
Weihnachten ist die Geburtsstunde dessen, der von sich sagt: »Ich bin das Licht der Welt« - d.h. wer ihm nachfolgt, wer sein Leben an ihm orientiert, wird nicht im Ungewissen und Unklaren umherirren, sondern wird das Licht haben, das wahres und erfülltes Leben schenkt. In diesem Sinne feiern wir Jesu Geburt als Sieg über die Mächte der Finsternis, wie es der Prophet Jesaja lange vor der Geburt Jesu verheißen hat - die Geburt eines Lichtbringers, dessen Licht eine neue Ära, eine neue Zeit ankündigt. (Jesaja, Kap. 9: »Das Volk, das im Finstern wandelt, es sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.«)
Gerrit van Honthorst hat dieses Weihnachtsbild um 1620 geschaffen und in eindeutig gewollter Farbgebung und Betonung das Jesuskind wie eine einzige Lichtquelle gestaltet. Dieses Licht erfasst die Gestalten, welche die Krippe umgeben - Maria und Josef und die Hirten. Die Bildsprache des großen Meisters des 17. Jahrhunderts ist klar: wie eine Sonne in der Mitte der anbetenden Menschen ist Jesus die Lichtquelle, von welcher Licht und Wärme ausgehen. Sein Licht erhellt das ganze Geschehen, scheidet es von der Dunkelheit der Umgebung. Gesichter und Hände spiegeln etwas vom Lichtschein, der vom Kind ausgeht. Die Botschaft des Malers lässt sich so verstehen: Ein Mikrokosmos, eine Welt im Kleinen bildet ab, wie die Welt durch Jesus verwandelt wird. Wer sich so vom Licht anziehen und ergreifen lässt, tritt heraus aus dem Dunkel und setzt den ersten entschlossenen Schritt hinein ins Licht. Das Wort nimmt Gestalt an. Worte, die Licht verbreiten, verkörpern sich in Lichtgestalten im Weltgeschehen.
»Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht ...«
Licht ermöglicht Sehen, Wissen, wo es lang geht und um was es sich handelt. Ohne Sehen gäbe es kein wirkliches Menschsein. Licht führt den Lebewesen notwendige Strahlungsenergie zu, die als Wärme wirkt und organische Substanzen bildet. Licht ist Strahlung, hat Farben. Licht ist Energie, an der wir hängen, hängen wie an Brot, Wasser und Luft. Licht ist ein Element unseres Lebens, ja des Lebens überhaupt. Wir brauchen es, um zu leben und zu gedeihen, um uns zu bewegen, zu denken, zu fühlen und Kraft zum Handeln zu haben. Würde uns das Licht genommen, umgäbe uns Finsternis, so wäre es aus mit unserem Leben. Es ist darum kein Wunder, dass die Sprache - nicht nur die deutsche - mit dem Wort Licht alles bezeichnen kann, was Leben gibt, was Leben tiefer und voller macht; dass sie dagegen mit dem Wort Finsternis alles Todbringende bezeichnet. Denn wenn das Licht aufgeht und leuchtet, dann blüht das Leben auf. Wo sich aber Finsternis herabsenkt, da stirbt alles Lebendige.
»Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren.« So haben es vor 2000 Jahren die Botschafter Gottes für alle Menschen und alle Völker den Hirten in Bethlehem verkündet. Aber noch immer erleben und fühlen wir Dunkelheiten in unserem Leben und in unserer Welt. Und noch immer, und immer wieder neu, sehnen wir uns nach dem großen Licht, das diese Dunkelheit durchbricht. Diese Sehnsucht verdichtet sich heute gleichsam im Zugehen auf die Heilige Nacht. Diese eine Nacht soll anders sein als unsere anderen Nächte. Diese eine Nacht soll uns »heilig« sein, nicht alltäglich, und soll eben darin Kraft und Erleuchtung schenken für die alltäglichen Dunkelheiten. Unser Bild von Weihnachten sucht nach einem heilsamen Zusammenklang von himmlischer Wirklichkeit und Wirkmächtigkeit Gottes mit unserem oft recht heillosen Erdenleben. Heillose Verhältnisse gab es zu allen Zeiten, Krieg und Zerstörung, bittere Zeiten des Elends, des Hungers und Dürstens.
Auch an Heiligabend leben wir nicht in einer heilen Welt. Krankheit, Sorgen, Einsamkeit kann auch Heiligabend nicht einfach wegfegen. Aus dieser Erfahrung heraus spricht der Prophet Jesaja: bittere Zeiten im Exil und verzweifeltes Fragen nach Gottes Gegenwart und Beistand stehen als Erfahrungen Israels im Hintergrund der alten Verheißungen. »Unheil« aber ist für diesen Propheten nicht das letzte Wort. Das letzte Wort behält Gott, der sich vor seinem Volk und vor seinen Menschen nicht für immer verbirgt: »Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht.« Der Weg durch Not und Tod, durch Krieg und Gewalt, durch gefühlte Gottesferne und Glaubenszweifel bekommt durch das große Licht neue Hoffnung, neue Ausrichtung und neues Gottvertrauen. »Denn euch ist heute der Heiland geboren«, d.h. der, der Heil bringt, Heilung an Leib und Seele, Heilung für das menschliche Miteinander, Heilung durch die Kraft seines Lebens und Wirkens - diese Botschaft gilt auch uns heute. Sie ist und bleibt wahr, auch wenn die Heilige Nacht damals das Leben und die Welt nicht von aller Dunkelheit befreit hat. Jesus hat uns Menschen nicht das Ende aller Dunkelheit versprochen, sondern mit seinem Leben und Sterben bezeugt, dass Gott Menschen nicht allein in der Dunkelheit ihres Lebens lässt. Gott schenkt uns Vergebung und den Frieden mit ihm, so dass wir - in seiner Nähe und Liebe geborgen - für Frieden, Recht und Gerechtigkeit auf unserer Welt eintreten können.
Was aber machen wir aus Weihnachten, aus dem »heiligen Abend«? Was liegt im heilen Abend, wo die Präsenz von Frieden und Liebe so nahe sein will. Wo die Kraft und Ausstrahlung von diesem Weihnachten oftmals Wunder bewirkt. Wie kann es dann sein, dass wenige Tage, vielleicht nur Stunden später, bereits wieder Zwist und Unfrieden ausbricht?
Bemühen wir uns doch, dass die Kraft und die Liebe ausstrahlen über Heiligabend hinaus, nutzen wir doch das große Potenzial, welches in diesem Fest liegt, nicht nur im engsten Umkreis, sondern überall dort, wo dieses Fest gefeiert wird. Lasst uns verstehen, welche Kraft das Licht hat, das Jesus in die Welt gebracht hat.
Jesaja verleiht in seiner Verheißung diesem Kind den Namen Friede-Fürst. Dieser Fürst, der göttlichen Frieden in die Welt bringen will, setzt nicht erst an bei der Verschrottung von Waffen, sondern bei der Erneuerung von Herzen. Wenn erst einmal die Erneuerung der Herzen erfolgt, dann kann alles verschrottet werden, wodurch Menschen einander verletzen und schaden können. Dann tritt an Stelle von Egoismus und Aggression die Kraft positiver Gedanken in Liebe, Toleranz und gegenseitiger Achtung. Lasst uns über Heiligabend hinaus uns daran erinnern und danach trachten. Das Licht der Krippe wird uns leiten und tragen.
Wolfgang Blaich in der Weihnachtsfeier der Tempelgesellschaft 2013
Wenn heute das Weihnachtsfest im Kreis der Familie gefeiert wird, so denken wir meist nicht darüber nach, wie die Menschen in den vergangenen Jahrhunderten diesen Tag begingen und welche Bedeutung er für sie hatte.
Die ersten Christen feierten noch kein Weihnachtsfest. Sie kannten nur das Passahfest, das der Erinnerung an Jesu Abendmahl gewidmet war und aus dem später das Osterfest hervorging. Noch im dritten Jahrhundert verwarfen die Kirchenväter den Gedanken, Jesu Geburtstag zu feiern, denn man hielt es für eine heidnische Sitte, den Geburtstag des Erlösers festlich zu begehen. Man berechnete zwar den Tag der Geburt Jesu, war aber der Ansicht, dass es sich um einen Frühlings- oder Herbsttag handeln müsse. Denn in Judäa konnten im Winter Menschen und Tiere kaum im Freien nächtigen, sodass die Geburtsgeschichte von den Hirten auf dem Felde einen winterlichen Termin unwahrscheinlich machte.
Von Persien ausgehend verbreitete sich die Verehrung des Lichtgottes Mithras. Als der Mithraskult dann um die Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert in Rom an Einfluss gewann, wurde der 25. Dezember mit Wagenrennen, Volksfesten und dem Abbrennen großer Feuer gefeiert. Um dieses heidnische Fest von christlicher Seite wirkungsvoll zu bekämpfen, musste zur gleichen Zeit ein ebenso bedeutsames christliches Fest stattfinden. Die Geburt Christi erschien als ebenbürtiger Anlass für ein solches Fest. Aber erst, als das Christentum Staatsreligion geworden war, erklärte der römische Bischof Liberius im Jahre 354 den 25. Dezember, den Tag des Mithras, zum Geburtstag Jesu. Doch nicht bei allen Christen stieß das »Christfest« auf Gegenliebe. In Ägypten und Palästina sträubte man sich, weil man der Meinung war, dass man den Ereignissen räumlich näher sei und es eigentlich besser wissen müsse. Die orthodoxe Ostkirche hält bis heute daran fest, den 6. Januar als das Tauf- und Geburtsfest Jesu zu feiern.
In Germanien blieb das Weihnachtsfest bis ins 8. Jahrhundert hinein unbekannt; die Germanen feierten das Fest der Wintersonnenwende lange vor der Christianisierung. Erst die Synode in Mainz erklärte im Jahr 813 den 25. Dezember zum Geburtsfest Christi und zum allgemeinen kirchlichen Feiertag. Der Name Weihnachten (vom althochdeutschen »wihe naht« = heilige Nacht) hingegen stammt aus noch späterer Zeit, aus dem 12. Jahrhundert.
So wie das Christfest heute von den Kirchen begangen wird, wirkt es für viele Menschen irreführend. Im Zentrum des Gottesdienstes am Heiligen Abend steht die Weihnachtsgeschichte (Lk 2,1-20). Sie erzählt vom in Windeln gewickelten und in einer Krippe liegenden Kinde, von Hirten auf dem Felde, von einem Engel Gottes, von einem in Licht getauchten Himmel und von himmlischen Heerscharen. Für die Menschen zu biblischer Zeit waren es vertraute Ausdrucksformen. Doch wenn sie in heutiger Zeit eher auf Unverständnis stoßen und die Weihnachtsbotschaft als unglaubwürdig erscheinen lassen, ist es wohl ratsamer, sich von diesen Ausdrucksformen zu lösen. Geburtslegenden Jesu finden sich in den Evangelien von Matthäus und Lukas. Ihre Erzählungen stimmen in den Einzelheiten nicht überein: Nach Matthäus fällt die Geburt Jesu in die Zeit Herodes des Großen, der im Jahre 4 v.Chr. gestorben ist. Die erste Schätzung in Judäa erfolgte jedoch erst 6 bzw. 7 n. Chr. Und Quirinius wurde erst im Jahre 6 n.Chr. Statthalter von Syrien. Hiervon spricht das Lukasevangelium. Während Matthäus von einer Engelsbotschaft an Joseph zu berichten weiß, richtet sich die Engelsbotschaft bei Lukas an Maria. Matthäus berichtet von Magiern aus dem Orient, die sich von einem Stern zur Geburtsstätte Jesu leiten lassen, um ihm zu huldigen. Er berichtet des Weiteren von der Flucht der Familie Josephs nach Ägypten, dem Kindermord des Herodes sowie der Rückkehr der Familie Josephs von Ägypten nach Galiläa. Von diesen legendarischen Berichten weiß Lukas nichts. Dafür findet sich bei ihm die Erzählung von den Hirten auf dem Felde. Hiervon erfährt man bei Matthäus nichts. Nur die Tatsache der jungfräulichen Geburt in Bethlehem und die Namen Joseph und Maria stimmen bei Matthäus und Lukas überein. Der Geburtsort Jesu ist aber mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht Bethlehem, sondern Nazareth. Bethlehem als Geburtsort des künftigen Messias und die jungfräuliche Geburt beziehen sich auf alttestamentliche Schriftstellen (Mi 5,2 bzw. Jes 7,14). Diese Schriftstellen gehören zu den sogenannten Erfüllungsworten oder Reflexionszitaten. Weitere Reflexionszitate betreffen die Flucht nach Ägypten (Hos 11,1), den Kindermord in Bethlehem (Jer 31,15) und die Rückkehr aus Ägypten (Jes 11,1). Es hieße, den wirklichen Hergang auf den Kopf zu stellen, wollte man diese Prophetenworte als den Anlass und Ausgangspunkt der Jesusgeschichten betrachten. Alle Evangelien sind von Ostern her geschrieben. Jesusgeschichten wurden mit alttestamentlichen Schriftstellen verknüpft, um Jesus als wahren Messias zu erweisen. Während der hebräische Text von Jes 7,14 von der Geburt durch eine junge Frau spricht, ist in der griechischen Bibel wie in Mt 1,23 von einer Jungfrauengeburt die Rede. Der Einfluss der griechisch sprechenden Gemeinde ist hier unverkennbar. Festzuhalten bleibt:
(1) die Zeitangaben der Geburt Jesu sind widersprüchlich; (2) die Ortsangabe entspricht nicht der historischen Wahrheit; (3) nachträgliche Verknüpfungen mit alttestamentlichen Schriftstellen sollen Jesus als den wahren Messias legitimieren.
Die »Weihnachtsgeschichte« entspricht also nicht der historischen Wahrheit. So hat es sich sicherlich nicht zugetragen! Nun will die Weihnachtsgeschichte« aber auch keinen historischen Bericht geben, vielmehr handelt es sich um eine Legende. Legenden sind nicht einfach »fromme Lügen«, es handelt sich um eine literarische Gattung, die Wahrheit in verdichteter Sprache zum Ausdruck bringen will. Nach hebräischer Auffassung meint Wahrheit eine immer wieder aufs Neue erfahrene Verlässlichkeit, eine haltgebende und tragfähige Wirklichkeit. Wenn nach der Wahrheit einer Legende gefragt wird, geht es um diese Art von Wahrheit. Die Wahrheit der Weihnachtslegende besteht darin, dass im Lichte des Glaubens der Evangelisten in Jesus von Nazareth sich eine letzte Wirklichkeit offenbart hat, sodass die Evangelisten Jesus als den Messias (griech. = Christos) bekennen. Nun muss aber der Redlichkeit halber eingestanden werden, dass Jesus nicht den jüdischen Vorstellungen vom erwarteten Messias entsprochen hat. In der Gestalt des Messias sahen die Juden einen idealen Herrscher, der das jüdische Volk aus der Unterdrückung durch andere Völker befreien werde. Mit seiner Gestalt verknüpfte sich die Erwartung einer politischen Wiederherstellung des Königreiches Davids. Um diese Missverständnisse zu vermeiden, ist es vielleicht ratsamer zu sagen, dass Jesus für die ersten Christen in überwältigender Weise vom »Geist Gottes« erfüllt gewesen sein musste, so dass sie ihn als »Sohn Gottes« ansahen. Das hebräische Verständnis kennt nur eine werdende Gottessohnschaft, die dadurch gestiftet wird, dass der Mensch vom »Geist Gottes« bewegt wird. Der »Geist Gottes« oder der »heilige Geist« ist ein heilbringender, erlösender, lebensspendender, lebensermöglichender Geist. Nach griechischem Sprachverständnis beginnt die Gottessohnschaft aber mit der leiblichen Geburt. Die Vorstellung, dass Jesus ein von einer Jungfrau geborener Sohn Gottes gewesen sei, stellt für den griechischen Sprachgebrauch nichts Unmögliches dar. Auch Platon, Alexander und andere bedeutende Persönlichkeiten wurden mit Jungfrauengeburten in Verbindung gebracht. Man glaubte, dass bedeutende Persönlichkeiten nicht auf natürlichem Wege in diese Welt eingetreten sein konnten. Ganz dem jüdischen Geist entsprechend heißt es in Röm 8,14: »Welche der Geist Gottes bewegt, die sind Kinder (Söhne) Gottes.« Luther hat bei seiner Übertragung ins Deutsche überall dort, wo im Neuen Testament von Jesus die Rede ist, »Sohn Gottes« eingesetzt. In allen anderen Fällen, so auch in Röm 8,14, steht bei ihm »Kinder Gottes«. Er wollte damit die Einzigartigkeit Jesu hervorheben. Sachlich gerechtfertigt scheint dies jedoch nicht, denn im griechischen Text wird an allen Stellen unterschiedslos vom »Sohn Gottes« (hyios theou) bzw. von »Söhnen Gottes« (hyioi theou) gesprochen.
Ich hatte bereits erwähnt, dass die orthodoxe Ostkirche bis heute daran festhält, am 6. Januar das Tauf- und Geburtsfest Jesu zu feiern. Bei der Taufe Jesu wird er zum »Sohn Gottes« erwählt, indem der »Geist Gottes« sich auf ihn niederlässt. Mit der Taufe am Jordan beginnt sogar das älteste Evangelium, das Markusevangelium. Auch das Matthäusevangelium (Mt 3,13-17) und das Lukasevangelium (Lk 3,21-22) berichten hiervon. Nach anderen alten Textzeugen des Lukasevangeliums heißt es: »Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt.« Das entspricht dem Text des judenchristlichen Ebionäer-Evangeliums:
»Als das Volk getauft war, kam auch Jesus und wurde von Johannes getauft. Und wie er aus dem Wasser emporstieg, öffneten sich die Himmel, und er sah den heiligen Geist in Gestalt einer Taube, die herabkam und in ihn einging. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden. Und wiederum: Heute habe ich dich gezeugt. Und sogleich umstrahlte den Ort ein großes Licht.«
Auch wenn dieses Ereignis am Jordan legendäre Züge trägt und somit auch nicht auf einen konkreten Zeitpunkt festgelegt werden darf, zeigt es deutlicher als die Weihnachtslegende: Wichtiger als die leibliche Geburt Jesu ist die geistige Geburt, indem Jesus ganz vom »Geist Gottes« erfüllt wurde. Bereits van der Leeuw stellte hierzu fest, dass Geburt und Epiphanie eigentlich dasselbe seien.
Auch wenn die Weihnachtsgeschichte nicht als historischer Bericht anzusehen ist, kann sie für uns auch heute noch eine wichtige Bedeutung haben. Den Evangelisten ging es ja auch nicht in erster Linie um historische Berichterstattung, sondern um eine lebensverändernde Botschaft. Es ist im Hinblick auf Weihnachten ja nicht damit getan, dass wir vor einem geschehenen Ereignis ehrfürchtig verharren. Die Weihnachtslegende zeigt in Bildern, was der Kern des christlichen Glaubens ist. Anstelle von herrschaftlicher Macht sollen Frieden und Barmherzigkeit Lebenswirklichkeit werden - als Verheißung und Auftrag. Eine Gefährdung aber bleibt: Dadurch, dass die leibliche Geburt Jesu so sehr betont wird, werden die Menschen vom einzig Wichtigen abgelenkt. Darauf wollte wohl Angelus Silesius aufmerksam machen, indem er formulierte: »Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.« Der Sinn der Weihnachtsbotschaft liegt darin, dass wir selber uns vom »Geist Gottes«, von seiner heilenden, lebensermöglichenden Kraft erfüllen lassen. Und: Dieses »Weihnachten« ist orts- und zeitunabhängig.
Dr. Werner Martin, Pädagoge, Oldenburg
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn...
So beginnt der 121. Psalm mit der Überschrift »Ein Wallfahrtslied«; darin geht es um die Pilgerreise frommer Juden zum Tempel in Jerusalem. Dort war für sie der Wohnsitz Gottes, dorthin zogen zu den großen jüdischen Feiertagen zahlreiche Pilger. Wenn ich diese Zeilen lese, höre ich die unvergängliche Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy aus der Vertonung dieses Psalms in seinem Oratorium »Elias«. Ich denke unwillkürlich aber auch an Christoph Hoffmann und seine »Jerusalemsfreunde«, für die Jerusalem stets der Sehnsuchtsort und das eigentliche Ziel ihrer Bewegung blieb. Hoffmann war aufgrund der Weissagungen des Alten Testaments davon überzeugt, dass »dieser neue Standort ... wesentlich dazu mitwirken könnte, aus Jerusalem das zu machen, was es nach den Aussprüchen der Propheten werden müsste, nämlich der geistige Mittelpunkt für die Völker«. Andererseits hatte er schon 1858 die Verbindung des geographischen Ortes Jerusalem mit dem Ziel der Sammlung des Volkes Gottes relativiert: »Was aber ist Jerusalem? Nicht auf den Ort, sondern auf das Wesen, das an diesem Ort seine Stätte finden soll, nicht auf die steinernen Gebäude, sondern auf das Leben, das diese Gebäude schafft, erfüllt und erhält, kommt es an.« Wir wissen heute, dass sich der schwärmerische Traum einer Sammlung des Volkes Gottes in Jerusalem nicht erfüllt hat.
Doch die erhaltenen Templerbauten legen immer noch Zeugnis ab von der hohen Willens- und Glaubenskraft der ehemaligen Bewohner. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass auch unsere Gemeinde auf dem Fundament der Gemeinden in Palästina steht und bis heute von deren Leistungen profitiert. Wir mögen heute die Vorstellungen der früheren Jerusalemsfreunde manchmal belächeln, aber geht es uns denn so viel anders? Wo liegt denn unser Jerusalem, wo ist unser Sehnsuchtsort? An welcher Stätte verwirklicht sich unser Wesen? Worin finden wir Sinn, sowohl als Einzelne wie auch als Gemeinschaft? Misstrauisch gegenüber allem Irrationalen, erwarten wir von Wallfahrten eigentlich keine Heilung und Erlösung. Und dennoch suchen selbst zahlreiche aufgeklärte Zeitgenossen nach Möglichkeiten der Selbsterfahrung, nach einem spirituellen Weg in ihrem Leben, belegen Meditationskurse, machen Exerzitien in Klöstern oder wandern Hunderte von Kilometern nach Santiago de Compostela - und wissen vielfach selbst nicht warum. Für nicht wenige von ihnen wird der Weg zum Ziel. Aber auch unser Weg und unser Suchen hören niemals auf. Auch wir sind Suchende auf unserem Lebensweg, mit seinen lichten Höhen, aber auch mit seinen Untiefen und Unwägbarkeiten, verbunden mit der Gefahr des Scheiterns ebenso wie mit der nicht auslöschbaren Hoffnung auf Heilung und Bewahrung. Und auch wir dürfen dabei auf die Zusagen Gottes vertrauen, wie sie uns der 121. Psalm vermittelt.
Die Bezirksvorsteherin von Degerloch, Frau Kunath-Scheffold, hatte am 20. Oktober zu einem Informationsabend zur Gründung eines Freundeskreises für Flüchtlinge in Degerloch eingeladen. Jörg und ich waren dieser Einladung gefolgt und fanden uns in einem hoffnungslos von Menschen überfüllten Bezirksrathaus wieder. Mit Hilfe des Pfarrers der benachbarten Michaelskirche wurde die Veranstaltung dorthin verlegt - auch hier füllte sich schnell jeder Platz, um die 500 Menschen sollen es gewesen sein. »Ist denn schon Weihnachten?« fragte Pfarrer Albrecht Conrad angesichts von so viel Hilfsbereitschaft.
Auch die Rathauschefin hatte mit einem solchen Andrang nicht gerechnet, dankte allen für ihr Kommen. Im Frühjahr 2016 werden die ersten Flüchtlinge erwartet. Seit 2008 das ehemalige "Asylantendorf" an der Hohen Eiche wegen zurückgehender Asylantenzahlen geschlossen worden war, nutzt die Freie Aktive Schule Stuttgart die Gebäude. Daher soll nun auf der Waldau ein Container-Dorf für Flüchtlinge entstehen. Zu deren Unterstützung wurde jetzt auch in Degerloch ein Freundeskreis gegründet, nicht als Verein, sondern als freie Initiative. Als Lenkungsgruppe fungieren neben der Bezirksvorsteherin fünf weitere Personen aus dem öffentlichen Leben des Stadtteils.
Zunächst riet Frau Kunath-Scheffold allen Hilfswilligen, sich folgende Fragen zu beantworten: Was ist die Motivation für mein Engagement? Wie viel Zeit möchte ich investieren? Wie lange/regelmäßig möchte ich mich engagieren? Wo liegen meine Interessen und Kenntnisse? Wo liegen meine seelischen, psychischen und körperlichen Grenzen? Es sei wichtig, sich derlei vorher klarzumachen, um nicht von den Geschehnissen überfordert zu werden.
Der Freundeskreis soll in zwölf Teams gegliedert werden: Willkommensteam, Team für Übersetzer- und Dolmetscherhilfe, Sprachförderung, Schülerbetreuung und Hausaufgabenhilfe, Behördengänge, Arztbesuche, Frauencafé, Kindertreffpunkt, Integration durch Teilhabe, Integration durch Arbeit, Sachspenden, Kunst und Werken (Fahrradwerkstatt?) sowie für Wohnungssuche. Im Bezirksrathaus waren Listen ausgelegt, in die man sich nach der Veranstaltung je nach Interesse und Kompetenz eintragen sollte. Die Teams werden ihren Bereich selber organisieren, für Hilfestellung und Fragen wird das Sozialamt zur Verfügung stehen.
Sodann berichtete der Bezirkschef von Möhringen von seinen Erfahrungen nach der überraschenden Zuweisung von Asylbewerbern 2013. Die anderen Sprecher benannten die Motive für ihr Engagement - Dank für das eigene gute Leben, Hilfestellung für traumatisierte Menschen und Unterstützung bei der Integration in unsere Gesellschaft - Beweggründe, die auch alle Anwesenden zum Kommen motiviert haben mögen. Alle warben für Offenheit anderen Kulturen gegenüber, ohne die Probleme, die auf die Ehrenamtlichen zukommen werden, zu beschönigen. Dennoch trugen sich viele in die Listen ein und bekräftigten so ihre Bereitschaft, sich für das Gemeinwesen einzusetzen.
Viele Länder werden derzeit durch den Zustrom von Flüchtlingen erheblich belastet und kein Land mehr als Deutschland. Doch auch Australien ist Ziel vieler Asylanten, wenngleich deren Anzahl durch unbeliebte, wenn nicht gar unmenschliche Maßnahmen aktuell etwas abgenommen hat.
Dies ist eine Erfolgsstory der Umsiedlung einer Kareni-Gruppe aus Myanmar. Nhill liegt auf halbem Wege zwischen Melbourne und Adelaide, rund 450 km von beiden Städten entfernt. Wie so viele Landstädte verliert auch Nhill einen großen Teil seiner jungen Leute, die zum Studium oder zur Arbeitssuche wegziehen. Nun hat die Stadt aber auch eine Entenschlächterei (Luv a Duck), die angesichts der abnehmenden Bevölkerungszahl Schwierigkeiten hat, genügend Arbeitskräfte zu finden.
Gleichzeitig war es auch für die Kareni schwierig, in Melbourne Arbeit zu finden. Die Entenfirma hörte davon im Jahre 2010 und gewann die Regierung, ihr bei der Umsiedlung der Flüchtlinge nach Nhill und deren Anstellung in der Entenverarbeitung zu helfen. Es war weder für die Stadt noch für die Neuankömmlinge eine leichte Aufgabe. Nhill war schon immer eine sehr konservative Farmergemeinde und die Kareni passten sich nur mühsam an und brauchten dabei viel Unterstützung.
Es gelang, Mittel bereitzustellen für Hilfskräfte, die für die Kareni-Familien Heimarbeitsgruppen, Frühstücks-Clubs, Ferienprogramme, Jugendlager und Spielgruppen organisierten, und vor allem kulturelle Gemeindeveranstaltungen für alle Teilnehmer. Es brauchte Zeit, eine solche Gemeinde aufzubauen. Zehn Leute machten den Anfang. Fünf davon fanden Arbeit bei Luv a Duck und drei weitere gingen zur Schule. In diesem Jahr (2015) zählten die Kareni 170 Personen bei einer Gesamtbevölkerung von 2300. Unter dem Strich wird ihr Beitrag zur Wertschöpfung der lokalen Wirtschaft auf 41 Mio. Dollar geschätzt.
Viele Geschäfte in der Stadt berichten von Umsatzwachstum durch den Zustrom der neuen Siedler. Nicht alle Kareni arbeiten bei Luv a Duck, manche auch bei anderen Arbeitgebern, wie der Lehrling bei einem Automechaniker, der sich jetzt etlicher neuer Kunden erfreut, weil die Kareni ihre Autos dorthin zur Wartung bringen, manche sogar von Melbourne. Der Bevölkerungszuwachs hat zugleich zu einer besseren Finanzausstattung des ganzen Städtchens geführt; auch die Schule hat es nun leichter, neue Lehrkräfte anzuziehen.
Das Programm war so erfolgreich, dass die Stadtverwaltung in den nächsten zwei Jahren weitere 50 Stellen zu besetzen hat. Vor fünf Jahren standen Häuser leer in Nhill, jetzt herrscht Wohnungsnot.
Ein erfolgreiches Neuansiedlungsprojekt beruht auf mehreren wichtigen Voraussetzungen: Arbeitsplätze und Unterkunft, starke Führung seitens der Gastgemeinde, Unterstützung der neuen Familien, Leitung und Management der komplexen kulturellen Anpassung auf beiden Seiten und Bereitschaft der Neuankömmlinge, sich der neuen Umwelt anzupassen.
Quellennachweis: Economic and social impact of the Karen resettlement in Nhill; A joint Ames and Deloitte Access Economic Report, March 2015
Christa Lingham, Deutsch: Peter Hornung