Die Warte des Tempels

Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 169/10 - Oktober 2013

 

 

Dankfest am Kaukasus vor 133 Jahren - Johannes Lange

Glaube und Kirche - Helmut Hölder

Ist alle Religion relativ? - Brigitte Hoffmann

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst - Hermann Uhlherr

100 Jahre Albert-Schweitzer-Spital - Karin Klingbeil

»Mitumba« aus Deutschland - Jörg Klingbeil

Die Jerusalemsfreunde vom Heuberg - Peter Lange

Dankfest am Kaukasus vor 133 Jahren

Rückblick auf eine lange Templer-Tradition

Am 19. September 1880 wurde in Tempel­hof an der Kuma ein Tempelfest gefeiert. Es war dies nicht bloß ein Erntedankfest - obgleich die in diesem Jahr so reich gesegnete Ernte uns auch alle Ursache bot, ein Dankfest zu feiern - der eigentliche und höhere Zweck des Festes - denn die Güter der Erde sind doch bloß vergängliche - lag in dem Zusammentreffen mit den Gesinnungsgenossen von nah und fern, in dem gegenseitigen Austausch der geistigen Erkenntnis und Erfahrung und in der Ermunterung, die eine solche gegenseitige Berührung für jeden mit sich bringen muss, der mit Ernst nach dem richtigen Weg trachtet.

Ein Hauptwert des Festes lag also in den Personen, welche da zusammengekommen waren. Da erwähnen wir in erster Linie den Besuch eines der Vorsteher des Tempels in Palästina, des Herrn Christoph Paulus in Jerusalem, seines Sohnes Dr. Franz Paulus aus Jaffa und des Lehrers Friedrich Lange aus Haifa. Sodann waren anwesend: Brüder aus der Krim, von der Molotschna, vom oberen und unteren Kuban, aus Tiflis und aus anderen Gegenden des Kaukasus. Die meisten Festgäste kamen erst am Tage vor dem Fest mit der Eisenbahn von Norden und Süden, und es war ein imposanter Anblick, als von der kleinen, sonst wenig frequentierten nächstgelegenen Eisenbahnstation (Suworowskaja) eine Reihe von 16-18 vollbesetzter Wagen die Gäste abholte.

Die Festversammlung begann um 9 Uhr morgens unter dem Vorsitz des ­Ältesten Johannes Lange aus Pjatigorsk. ­Derselbe begrüßte zuerst die von nah und fern herzugekommenen Festgäste und bezeichnete als Zweck des Festes die gegenseitige Berührung und den festen geistigen Zusammenschluss mit den Gesinnungsgenossen. In einer Zeit, wo sich die Kräfte des Abfalls so rücksichtslos geltend machen und so energisch zusammenschließen, wie wir das im Lauf des letzten Jahres in unserem Vaterland in Russland gesehen haben, ist es umso nötiger, dass alle, die im Geiste Christi leben und nach seinem Reiche trachten wollen, sich auch fest aneinanderschließen. Und so diene uns dieses Fest zur Ermunterung und Ermutigung, den im Tempel erkannten Weg der Wahrheit fest und treu zu verfolgen. Hierauf erhielten die Festredner nacheinander das Wort.

Christoph Paulus entwarf, gestützt auf 1. Kor. 12, ein klares und anschauliches Bild von der Gemeinde Christi als einem aus vielen Gliedern bestehenden und durch den Geist Christi beseelten und regierten Leib. Der Geist Christi, der der Geist der Liebe ist, verbindet alle Glieder seines Leibes zu einer Gemeinschaft, deren fortwährendes Wirken und Ziel darin besteht, das leibliche und geistige Wohl der Gemeinde zu fördern, so dass jeder, der zu dieser Gemeinde gehört, sich geborgen fühlt.

Lehrer Friedrich Lange zeigte an Beispielen aus dem Leben Jesu, wie dieser bei sich den Geist zur Wirkung kommen ließ, wie er in seiner Kindheit und Jugend nach der Erkenntnis seines himmlischen Vaters trachtete, so dass er sich ganz in seinen Gedanken, Wünschen und Absichten eins mit seinem Vater wusste. Später, bei seiner öffentlichen Tätigkeit, führte er dann diese Erkenntnis aus und hatte dabei eine solch völlige Hingabe an seine Aufgabe, dass er vor keinen Schwierigkeiten zurückschreckte und standhaft blieb, selbst als er in den Tod ging. So ist uns Christus ein Vorbild geworden, wie auch wir zum Sieg hindurchdringen können.

Ältester Johann Schmidt sprach über den großen Nutzen, den wir aus dem persönlichen Verkehr mit den Gästen aus dem Heiligen Lande ziehen können, indem wir von ihnen über manche Punkte, die uns in der Ferne zu Fragen veranlassen können, Aufschluss erhalten. Die gewonnene Klarheit über die Organisation der Gemeinde Christi könne uns zu sicheren Schritten führen.

Lehrer David Hausknecht betonte, dass bei dem Bestreben nach Herstellung einer richtigen Gesinnung nicht aus dem Auge gelassen werden dürfe, dass wir ein Licht für unser Vaterland werden müssen und dass wir bei einem lässigen und oberflächlichen Betrieb die erkannten Wahrheiten wieder verlieren und uns in verschiedene Meinungen und Sekten zerspalten können.

Ältester Abraham Schmidt sprach über die soziale Frage und über die vergeblichen Versuche, dieselbe zu lösen. Gott hat zwar stets zu Zeiten, wenn es schien, als ob das ganze Menschengeschlecht versinken und versumpfen wolle, immer wieder Hilfe gesandt durch erleuchtete Männer, die den Weg zur Besserung der Zustände zeigten. Auch in unserer Zeit hat Gott solche Männer bereit, die den Weg zur Abhilfe von allen sozialen Schäden durch die Wiederumkehr zum ursprünglichen Christentum zeigen.

Christoph Paulus stellte äußerst lehrreiche Vergleiche an zwischen dem Gang der Reformation und dem bisherigen Gang der Entwicklung des Tempels. Es darf uns nicht beirren, wenn der Weg, den wir verfolgen, nicht von vielen erkannt und ergriffen wird, sondern wir haben nur darauf zu sehen, dass der Geist Christi in uns wirke und ohne alle Hemmnisse in unseren Gemeinden walte. Dann wird uns Gott endlich den Sieg verschaffen.

Dr. Franz Paulus stellte die Entwicklung der Gemeinden und der Erziehungsanstalten als die Heiligtümer des Tempels dar. In diesen beiden Dingen sind die Keime der Entwicklung über das gegenwärtige Geschlecht hinaus schon zu erkennen, und wenn uns gegenüber dem herrschenden Verfall auch zuweilen der Zweifel kommen will, ob das herrliche Ziel des Reiches Gottes von uns auch erreicht werden könne, so liegt doch in diesen Einrichtungen und im Glauben an die Hilfe Gottes die Bürgschaft für den endlichen Erfolg.

Nach einer zweistündigen Pause versammelten sich die Festgäste um 3 Uhr wieder im Festlokal, und zwar diente dieser zweite Teil des Festes dazu, den Festtag durch Psalmen und Lobgesänge, durch Vortrag von selbstverfassten und anderen Gedichten und durch ungezwungene freie Reden und Vorträge zu zieren. Die beiden Gesangvereine der örtlichen Schwestergemeinden (Tempelhof und Orbelianowka) wetteiferten miteinander im Aufführen schöner Chöre. Und als abends um 7 Uhr die Festversammlung durch einen gemein­schaftlichen Gesang geschlossen wurde, blieben alle Versammelten noch ziemlich lange sitzen, was als Beweis gelten konnte, dass sich auch am Nachmittag niemand gelangweilt hatte.

Den ganzen Eindruck, den das Fest auf die aus Palästina gekommenen Besucher gemacht hat, sprach Christoph Paulus am Schluss aus: Es sei zu bemerken, dass ein Wehen des Geistes vorhanden sei, und es sei nur zu wünschen, dass dieses Wehen immer stärker und stärker werden und endlich zu einem wirklichen Geistesleben führen möge.

Johannes Lange, in: »Damals am Kaukasus - Erzählbuch über Entstehung, Blütezeit und Untergang der deutschen Tempelsiedlungen im Nordkaukasus-Gebiet«, S. 67

Anmerkung: Johannes Lange (1838-1902), geboren in Gnadenfeld, Molotschna, Südruss­land (heute: Ukraine) hatte in seinen jungen Jahren von 1858 bis 1861 in der ersten Gemeinde der Templer in Kirschenhardthof eine Ausbildung als Evangelisten-Prediger erhalten und auf seiner Rückreise nach Südrussland, insbesondere in Bess­arabien unter den dort eingewanderten Württembergern und an der ­Molotschna unter den eingewanderten Mennoniten, viele neue Mitglieder und Sympathisanten für die Tempel­bewegung gewonnen.

Er erwarb sich große Verdienste um neues Siedlungsland für die Templer, als 1897 Tempelhof wegen erhöhter Pachtzinsen aufgegeben werden musste.

Glaube und Kirche

Lehre und Leere

Das Verbum »glauben« ist eines der weitläufigsten und weithin gedankenlos verwendeten Zeitwörter unserer Sprache, unten angefangen bei der Verwechslung mit dem unver­bindlichen »Meinen« im alltäglichen Gespräch, bis ganz oben zum »Glauben« mit dem zugehörigen religiösen Hauptwort »Glaube«. Aber auch so hoher Glaube ist vielschichtig und relativ, weil ihm andere Glaubensweisen zur Seite stehen. Dabei kann man andere Menschen vom eigenen Glauben zwar zu überzeugen versuchen, dessen Annahme aber nicht erwarten oder gar als Glaubenslehre fordern - der Einsicht gemäß, dass Glaube sich nicht ins Absolute erheben lässt.

Glauben und Urvertrauen

In meiner Kindheit vermittelte mir die Luft des Elternhauses, die Gewohnheit des schlichten Mittags- und Abendgebets ein mehr oder weniger unbewusstes Gottesvertrauen; die biblischen Geschichten in der Grundschule machten mir dagegen wenig Eindruck mit Ausnahme jener Eva, deretwegen wir einmal sterben müssten, was bei mir nach dem Heimweg in unserem schönen blumenreichen Garten einmal heiße Tränen auslöste.

Man sagt ja, das Kinderherz sei für Gott besonders offen. Das kommt aber nicht von selbst, sondern durch die heutzutage seltener werdende elterliche Vermittlung. Wann in der menschlichen Früh­geschichte die bewusste Erfahrung übermenschlicher Mächte, wann ihre erste Personifizierung in Geistern, Göttern, Gott aufkam, wissen wir nicht.

Im Gymnasium berührte mich der Religionsunterricht zunächst wenig, mit Ausnahme zweier Lehrer, aus deren Worten ein Urvertrauen zu Gott in allen Lebenslagen sprach, wie ich es auch zuhause spürte. Dabei störte es mich nicht, ja empfand es eher als Ergänzung, dass ein anderer, vom Schicksal hart geprüfter Lehrer gleichzeitig einen Aufsatz über »Die Ferne Gottes« in der damaligen Zeitschrift Die Pforte veröffentlichte.

Ich glaube heute, dass ein Urvertrauen die einzige Form echten, aller Relativität enthobenen Glaubens ist, obwohl auch dieses erschüttert werden kann. Im Alter lässt sich dem durch das Wort »Leben und Sterben in Gott« Ausdruck geben. Ein Atheist denkt anders, ohne dass wir ihn deshalb zurechtweisen sollten.

Die Leere der Kirchen

Warum leeren sich unsere christlichen Kirchen so dramatisch? Ich behaupte nicht, dass jenes Urvertrauen in guten Predigten und in geistlicher Seelsorge nicht zur Geltung käme. Aber über allem steht doch noch immer der »rechte Glaube«, die christliche Lehre, das Dogma. Sehen wir von dem Wort des Papstes Benedikt XVI. ab, »Es ist unbedingt zu glauben, dass …« - eines Mannes, der als Universitätsprofessor sehr vernünftig über Glaube und Vernunft dozierte, in der römischen Hierarchie das alles aber dann hintanstellte -: Auch der christliche Weltkirchenrat begrenzt die Kirchenzugehörigkeit auf Gläubige an Jesus Christus als den »Gottessohn«.

Darin liegt aber ein großes Problem. Der Begriff wurzelt in der Theologie der frühchristlichen Jahrhunderte und damit in einem Weltbild, das wenige Jahrtausende von einem Anfang bis zu seinem damals in Kürze erwarteten Ende umspannte. Abgesehen davon, dass die Bezeichnung »Gottessohn« in der Antike auch auf andere Große bezogen wurde, lag die zunächst nur mündlich weitergegebene, durch Paulus schriftlich fixierte und sich steigernde Überhöhung des Menschen Jesus im Bereich damals möglicher Vorstellung, ebenso wie die weitere Vorstellung, dass ein Vatergott seinen Sohn zur Erlösung der Lebenden sowie durch Hinabstieg in die Unterwelt auch der Toten zu einem bestimmten Datum in die nur kurze Weltspanne gesandt habe. Unser heutiges Wissen um die Jahrhunderttausende, ja Jahrmillionen der menschlichen Evolution und der unendliche, uns vorangegangene Totenstrom schließen eine solche, auch als Symbol unbrauchbare Datierung aus, ohne dass man - eine erstaunliche Tatsache - unsere weltweit darauf bezogene Zeitrechnung deshalb ändern sollte oder könnte.

Glaubt das der Pfarrer noch?

Wir vermögen heute nicht mehr wie die Kleriker Arius und Athanasius im 4. Jahrhundert in Alexandria darüber zu streiten, ob ein solches mythisches Gottwesen nur gottähnlich oder gar gottgleich sei. Der Unterschied nagelte sich sprachlich übrigens nur an einem einzigen Buchstaben in den zwei dafür zuständigen griechischen Adjektiven fest, und es lag wohl an reinem Mehrheitsbeschluss und vielleicht auch an des Athanasius’ höherem geistlichen Rang, dass eine Überzeugung von Jesu Gottgleichheit siegte und so auf dem Weg über Luther unsere weithin noch athanasianisch-orthodox bestimmte evangelische Kirchen­sprache heraufführte, wie das für den sicher hehren Eingangsritus »Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes« ja gilt. Laut historisch-kritischer Forschung gilt aber längst als unwahrscheinlich, dass sich Jesus als Gottessohn verstanden oder so genannt habe, gewiss dagegen als Gotteskind unerschütterlichen Gottvertrauens in Leben und Sterben, durchflutet vom Heiligen Geist, den wir nicht als dritte Person begreifen, sondern eben als Gottesgeist, der auch viele andere Gotteskinder der Geistesgeschichte beseelt. Zu unserem Glaubensbekenntnis fehlt aber die vom Heiligen Geist bestimmte, uns geltende Lebensweisung Jesu zwischen dessen Geburt und Tod völlig.

Jesu Menschlichkeit in diesen von sei­­­ner Gottessohnschaft bestimmten Ritu­alen unterzubringen, ist für viele Prediger eine schwierige Aufgabe. Ein Ersatz des alten Glaubensbekenntnisses durch einen zeitgemäßen Wortlaut, wofür es viele Vorschläge gibt, lässt keine Einigung erwarten. Es bliebe eigentlich nur, dem Pfarrer die Wahl eines Vorschlages zu überlassen. Aber wer bekennt vor vielen Älteren, noch immer orthodox Orientierten unter seinen Zuhörern - und schweigt nicht lieber darüber -, dass er selbst arianisch denkt, während andererseits die junge, solchen Problemen gegenüber gleichgültige Generation dem Gottesdienst überhaupt fernbleibt? Wie positiv könnte sich eine rituelle Auflockerung auswirken, wenn statt Schriftlesung der biblischen Predigttexte manch­mal das Wort eines weltlichen Gotteskindes gewählt würde; ich habe das nur einmal erlebt, als ein Pfarrer seiner Predigt Schillers Lied von der Freude zugrunde legte. Was soll die Lesung der Hochzeit von Kana ohne eine mögliche allegorische Deutung und ohne Beziehung zur Predigt? Der Hörer ist ratlos und fragt sich allenfalls: Glaubt das der Pfarrer oder nicht? Und so groß und ehrwürdig alttestamentliche Prophetenworte auch sind: so bleiben sie doch zumal jugendlichen Gemütern unserer Tage sehr fremd.

Anstelle des bisherigen Eingangsritus jeden Gottesdienstes ließe sich etwa an »Im Namen Gottvaters und Jesu und im Angesicht des Heiligen Geistes« denken, wobei vor der personalen, theologisch erdachten Trinität Abstand genommen wäre und stattdessen der aus Gott stammende, Jesu Leben prägende Heilige Geist in seinem allumfassenden Wesen erschiene. Die Bibel sollte auch nicht gedankenlos formell so oft einfach als »Gottes Wort« bezeichnet werden. Wir wissen doch alle, wieviel rein Historisches, uns als ungöttlich Erscheinendes zumal im Umgang des alttestamentlichen Gottes mit den Völkern jener Zeit, aber auch was an so manchem Befremdlichen im Neuen Testament zu lesen ist, wie vom Schalksknecht (Mt 18,23-35) oder dem von Jesu geforderten Abbruch jeder verwandtschaftlichen Beziehung (Mt 10,34-39; 19,29 parr.); solche Stellen mit dem Hinweis abzutun, es handle sich um spätere Hinzufügungen, ist doch mit Vorsicht aufzunehmen.

Realität und Metapher

Und dann das Hin und Her zwischen Realität und Metapher: Paulus traut im 2. Korintherbrief dem Glauben zu, dass er Berge versetze; eindeutig eine Metapher. Warum dann nicht unsererseits auch den Begriff Gottessohn als Metapher begreifen? Freilich, erst kürzlich hörte ich nach einem Gottesdienst empörte Stimmen, in dem der junge Pfarrer von dem Menschen Jesus gesprochen hatte, der in seiner Jugend als Schreinersohn sicher hart gearbeitet habe. Auch die wundervolle, uns seit Kindheit ans Herz gelegte Weihnachtsgeschichte gehört hierher, soweit Weihnachten überhaupt noch »gefeiert« wird. Nichts ist historisch, weder Volkszählung noch Bethlehem, Stall, Stern und Weise aus dem Morgenland. Doch wieviel Glücksgefühl und Trost zumal für die Armen in dieser wohl von dem Arzt Lukas in Erinnerung an die Kunde von Jesus verfasste Dichtung, von Anfang an beabsichtigte Metapher, in mancher Predigt freilich wie historisch real klingend, was nur für das Kinderherz sein darf. Der Pfarrer sollte aber nicht, wie es vorkam, zu den Kindern nach einem Krippenspiel vor der Gemeinde sagen: »Das alles ist ganz bestimmt wahr, weil es in der Bibel steht.« Da Kinder die weitgespannte Bedeutung des Wortes »wahr« nicht kennen, legt dieses »weil« den Grund zu späterer Verwirrung.

Dann das Osterfest, an Lebensfreude gegenüber Weihnachten noch gesteigert: Möge doch der unselige Streit um die ­unnatürliche Rückkehr des toten Jesus ins leibliche Leben innerhalb der Gemeinde und auch der Theologen einmal enden. Wie die überlieferten Erscheinungen, die Begegnung etwa mit den Jüngern vor Emmaus, zu deuten sind, wissen wir nicht. Behauptungen auch großer Denker wie R.A. Schröder u.a., so etwas könne nicht erdacht sein, entgegen, liegt ein großer Mythos vor, in den auch der Begriff Ewiges Leben einbezogen werden sollte. Ob und in welches Sein wir nach dem Tode eingehen werden, der nicht wie in der Kanzelsprache letzter Feind, sondern lebensbedingende Schöpfungs­ordnung ist, bleibt uns als göttlicher Ratschluss verborgen.

Aus der Erstarrung befreien

Das Rilkewort »Und nur des Glaubens Flügel hilft hinüber« zielt auf das an den Anfang dieses Aufsatzes gesetzte Wort vom Urvertrauen als einziger nicht relativierbarer Glaubensform. Es gibt gute Verbindungswege in Form symbolischer Handlungen wie Händefalten, Gebet, einem guten Liedtext zu Gottes uns unbekanntem Tor, das an der Grenze unseres Menschseins steht.

Dieser Aufsatz gilt in erster Linie der Frage nach dem Schwund der sonntäglichen Gottesdienstbesucher, die verschiedener Antworten bedarf. Ein Grund ist sicher der Generationswechsel, aber auch die rituelle Struktur. Ich habe in Stuttgarter Vororten Gottesdienste in großen, modernen Kirchenräumen mit gedankenvollen, der Zeit gegenüber aufgeschlossenen Geistlichen vor nur acht bis zehn Zuhörern erlebt. Es mag an der rituellen Struktur der Kirche liegen, aber auch an der Tragik, dass sich die Kirche einer geistlichen Öffnung bis heute immer wieder verweigerte. Das Stuttgarter Konsistorium wehrte seit dem 19. Jahrhundert immer wieder neues Gedankengut ab, wie es etwa junge Theologen am Tübinger Stift entwickelten. Wie viele große Geister fühlten sich dadurch abgestoßen, gingen der Kirche verloren, manchmal ins Ausland! Ich nenne nur einen, heute Vergessenen: Heinrich Land, Pfarrersohn aus Frommern bei Balingen (1826-1875), der die Offenheit der Schweizerischen Reformierten Kirche der beengenden württembergischen Kirchenluft vorzog und in einer Gemeinde nahe und in Zürich eine höchst segensreiche Tätigkeit entfaltete. Die Stuttgarter Reserviertheit galt auch der Universitätstheologie, vertreten z.B. durch Ferdinand Christian Baur (im Amt 1826-1876), von dem die These stammt, dass die Kirche Jesus, den Verkündiger Gottes, selbst zum Verkündigten gemacht habe. Bis heute scheinen viele Theologen das an der Universität Gelernte vergessen zu haben.

Noch immer ist die württembergische Kirchenleitung, trotz Bitten aus Laienkreisen, nicht bereit, den auf den lutherischen Katechismus zurückgehenden arroganten Satz »Wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden« ­­

[Mk 16,16, Zitat aus dem sekundären längeren Schluss des Markusevangeliums] aus der seit 1989 gültigen Taufagende zu streichen, auch wenn ihn die meisten Pfarrer glücklicherweise verschweigen. Auch seit Christoph Schrempfs Weigerung (1891), bei der Taufe das vorgeschriebene Apostolikum zu sprechen, weshalb er sein Pfarramt verlor, hat sich nichts geändert. Das Ende der Kirchen in der heutigen Form, das der Stuttgarter Statistiker F. Eicken noch während dieses Jahrhunderts voraussagte, scheint wenig zu kümmern.

Religiosität ist menschliches Humanum. Jesus hat sie aus ihrer Erstarrung befreit, auf ihn gründen sich zahllose, von Heiligem Geist getragene Liebeswerke. Sie weist über uns Menschen hinaus in geistig schlichten ebenso wie in ihren höchsten Formen. Möge ein Freies Christentum zu ihrer Festigung und Erneuerung seinen Teil beitragen.

aus: »Freies Christentum«, Heft 3, 2013«

Dr. Helmut Hölder war Professor für Pa­lä­on­tologe an der Westfälischen Wil­helms-­Universität Münster und der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, an der er auch promo­viert wurde. Er lebt in Stuttgart.

Ist alle Religion relativ?

Unter dieser Überschrift möchte ich einen Aspekt hervorheben, der im vorstehenden Text zwar wenig Raum einnimmt, aber durchaus präsent ist, z.B. in den zwei Aussagen »...gemäß der Einsicht, dass Glaube sich nicht ins Absolute erheben lässt« und »Ich glaube heute, dass ein Urvertrauen (in Gott oder eine göttliche Macht) die einzige Form echten, aller Relativität enthobenen Glaubens ist.«

Der Autor ist Mitglied der Evangelischen Landeskirche Württemberg und in seinem Aufsatz geht es um deren Haltung und Situation, um den Widerspruch zwischen dem offiziell immer noch für verbindlich erklärten Dogma einerseits und der an den theologischen Fakultäten längst gelehrten historischen Bibelkritik und der Realität in den Gemeinden andererseits. Das geht uns eigentlich nichts an. Ein verbindliches Dogma haben wir seit unseren Anfängen (genauer: den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts) nicht mehr, wir reden auch in unserer Gemeinde offen über die Probleme der Überlieferung und der Interpretation biblischer Texte. Und vieles von dem, was Herr Hölder an praktischen Schritten vorschlägt, praktizieren wir schon lange (z.B. Predigten auch über nicht-biblische Themen). Wir könnten uns allenfalls freuen, dass unser Verständnis von Christentum inzwischen auch in Teilen der Kirche angekommen ist.

Dass wir den Text trotzdem bringen, soll aber nicht der Selbstbestätigung dienen. Es hat vor allem zwei Gründe.

Der erste: es ist sicher auch für unsere Leser wichtig, an Herrn Hölders anschaulichen Beispielen zu sehen, wie verschieden und komplex die Situation in vielen Kirchengemeinden ist - und wie schwierig damit für manche (viele?) Pfarrer.

Der zweite, wichtigere, hängt an dem oben zitierten Satz, dass das Urvertrauen in eine göttliche Macht die einzige nicht relativierbare, d.h. allgemeingültige Form des Glaubens sei. Das bedeutet: alles Religions-«Wissen«, Dogmen, Katechismen, Rituale - auch die unsrigen - sind relativ, historisch gewachsen. Und: ein solches Urvertrauen gibt es in allen Religionen. Damit entfällt die ominöse, ganz "unjesuanische" Schranke zwischen dem richtigen und dem falschen Glauben. Wir haben keinen Grund, den unsrigen für gültiger zu halten als den der anderen.

Wo Hölder von seinen eigenen Erfahrungen spricht - vor allem im ersten Abschnitt -, geht es, auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt, um die Frage: wie entsteht ein solches Urvertrauen? Seine Antwort: in den meisten Fällen in der frühen Kindheit, durch das Vorbild vertrauter Personen, meist der Eltern, die ein solches Vertrauen ausstrahlen; aber auch - das wird später deutlich -, durch die kleinen Rituale, die dieses Vertrauen in einfachen Worten, Liedern, Gesten für Kinder - und oft auch für Erwachsene - konkret spürbar machen: ein Abend- oder Tischgebet, die Weihnachtsgeschichte u.a..

Wichtig scheint mir auch, was Hölder über den Religionsunterricht in seiner Gymnasialzeit sagt: wirklich beeindruckt hätten ihn nur zwei Lehrer, die ein tiefes Gottvertrauen ausstrahlten, und gleichzeitig der skeptische Artikel eines anderen über die »Ferne Gottes« - und dass er das nicht als Widerspruch empfunden habe, sondern als Ergänzung. Das spiegelt - für mich - im unreflektierten Gefühl eines Heranwachsenden etwas, was auch zum Gottvertrauen gehört: dass es, im Leben wie in der Religion, Widersprüche gibt, die wir nicht erklären und auflösen können; und dass das gut ist so. Nach Nikolaus von Kues ist Gott das Zusammenfallen der Gegensätze, und nicht unser begrenzter Verstand. Auch der Gott, dem wir vertrauen, bleibt für uns unbegreiflich.

Brigitte Hoffmann

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst

Wir alle kennen das Doppelgebot der Liebe. Es wird in vielen unserer Veröffentlichungen angeführt, zusammen mit unserem Leitwort: »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit«. Ausführlich zitiert, sagt Jesus: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« (Matth. 22,37-39). Jesus bestand darauf, dass alles in unserem Leben davon berührt sein müsse, dass wir diesen beiden Geboten folgen.

Ich glaube daran, dass alle Menschen Teil einer »göttlichen Einheit« sind und dass Gottes Geist in ihnen, in der ganzen Natur und im gesamten Kosmos wirksam ist. Jedem Einzelnen von uns ist ein freier Wille gegeben, ein Gewissen, das uns mit dem Göttlichen verbindet, und die Möglichkeit zu wählen, welchen Weg wir verfolgen und welche Entscheidungen wir in unserem Leben treffen wollen.

Jesu Doppelgebot der Liebe zeigt uns einen solchen Weg. Indem wir gemeinsam mit unseren Freunden in der Gemeinde an der Entwicklung unserer geistigen Kräfte arbeiten, streben wir nach dem Einklang mit allen Menschen und der Natur und verwirklichen damit - nach meinem Verständnis - »Gottes Reich auf Erden«. Mit meiner Deutung von Liebe, wie sie Jesus verkündigt hat, mögen manche vielleicht nicht einverstanden sein. Für mich besteht das Wichtige darin, dass ich eine Aufgabe für mein Leben erkenne, die mein Gewissen als gut empfindet, nicht nur für mich selbst, sondern auch für die mir Nahestehenden und, letzten Endes, für alle Menschen.

Die Aufforderung ist eindeutig zu verstehen - trotzdem finden es die meisten von uns schwer, unsere menschlichen Schwächen und unsere Selbstsucht (welchen Nutzen habe ich davon?) zu überwinden. Wir halten es oft für schwierig, anderen gegenüber Mitgefühl zu empfinden - wobei Achtung und Sorge für uns selbst genauso wichtig ist, denn wir sollten begreifen, dass von uns nicht erwartet wird, dass wir andere mehr lieben als uns selbst.

Wenn wir es fertigbringen, freundlicher und mitfühlender zu werden und unser Ego (unsere Selbstsucht) unter Kontrolle zu halten, tragen wir damit zu Gottes Reich unter den Menschen bei. Vielleicht können wir Liebe und Mitgefühl nicht immer aufbringen, doch wir sollen danach streben. Unsere ehrlichen Bemühungen darum werden eine positive Wirkung haben, deren wir uns vielleicht nicht immer bewusst sind. Sie werden auf längere Sicht zu einem besseren Miteinander unter den Menschen führen, zu dem Einklang mit Jesu Doppelgebot der Liebe.

Hermann Ralph Uhlherr, East Burwood aus: “Templer Talk”, 3/2013, übersetzt von Peter Lange

100 Jahre Albert-Schweitzer-Spital

Am Karfreitag des Jahres 1913 machten sich Albert und Helene Schweitzer auf den Weg von Günsbach im Elsaß nach Afrika. Am 17. April erreichten sie die Missionsstation Andende in Lambarene inmitten des Urwalds von Gabun. Albert Schweitzer begann umgehend mit der Errichtung der für ein Hospital notwendigen Gebäude.

Wie war es zu diesem Entschluss gekommen? Schon als Kind hatte das Leid in dieser Welt tiefen Eindruck auf Schweitzer gemacht. Als junger Mann beschloss er, bis zu seinem 30. Lebensjahr seinen Interessen und Studien zu leben, sich dann aber aus Dankbarkeit für seine glückliche Jugend und sein erfülltes Leben hilfsbedürftigen Menschen zuzuwenden.

Im Herbst 1904 fiel ihm ein Heft der Pariser Mission in die Hände, in der ein Aufruf um Hilfe für das große Elend der Menschen in Gabun - damals noch ein Teil von Französisch-Äquatorialafrika - veröffentlicht war. Nachdem er den Artikel gelesen hatte, stand sein Entschluss fest: er würde Medizin studieren, weil er der Meinung war, so am besten helfen zu können; außerdem wollte er nach seiner Laufbahn als Professor und Pfarrer »arbeiten ohne zu reden und die Religion der Liebe nicht predigen, sondern leben.« Trotz des Unverständnisses, das ihm von vielen entgegengebracht wurde, setzte er neben seiner Pfarr- und Lehrtätigkeit seinen Entschluss in die Tat um und fand in Helene Breslau, mit der er seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden war, tatkräftige Unterstützung. Sie heirateten und Helene ließ sich ihrem Mann zuliebe zur Krankenschwester ausbilden, um ihn in ihrem großen Abenteuer »Zwischen Wasser und Urwald« (Albert Schweitzer, 1920) sinnvoll unterstützen zu können.

Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, wurden beide zunächst im Spital interniert, wo sie, wenn auch eingeschränkt, weiterarbeiten konnten. In diese Zeit fällt seine Erkenntnis des für ihn elementaren und universellen Begriffs des Ethischen, der »Ehrfurcht vor dem Leben«. 1917 wurden sie nach Europa zurücktransportiert. Es schien das Ende des Lambarene-Projekts zu sein, denn die Mittel zur Wiederaufnahme der Arbeit fehlten und die Gesundheit beider hatte in den Tropen gelitten. Doch nach Ende des Krieges wurde Schweitzer zu Vorlesungen an die Universität Uppsala eingeladen, andere Universitäten folgten. So begann er mit Vorträgen und Orgelkonzerten Geld zu verdienen, um in Lambarene weiterarbeiten zu können. 1924 kehrte er dorthin zurück und setzte sein Werk an einem Platz, der ihm eine größere Ausdehnung seines Spitals erlaubte, unbeirrt fort, bis er 1965 dort starb. Das Spital wird bis heute weiter betrieben.

Für sein humanitäres Lebenswerk, aber auch für seine entschieden pazifistische Haltung, wurde Albert Schweitzer 1953 der Friedensnobelpreis verliehen.

Karin Klingbeil

»Mitumba« aus Deutschland

Die umstrittene Verwertung von Altkleidern

Auf der einen Seite sind viele Verbraucher froh, durch die Entsorgung ihrer Kleidungsstücke in einem Altkleidercontainer die Restmülltonne zu vermeiden, auf der anderen Seite ist gelegentlich zu hören, dass Altkleiderexporte nach ­Afrika die Bekleidungsindustrie und generell die handwerkliche Herstellung von Kleidungsstücken in Ländern der Dritten Welt ruinieren. Nach Presseberichten werden in Deutschland jährlich rund 830.000 Tonnen alter Kleidung oder umgerechnet ca. 1,5 Mrd. Kleidungsstücke in zahllosen Kleidercontainern des Deutschen Roten Kreuzes, der Caritas und anderer Organisationen entsorgt. Wenn eine Hilfsorganisation vor Ort über eine eigene Kleiderkammer verfügt, werden die tragfähigen Kleidungsstücke aussortiert und direkt an Bedürftige verteilt; das ist aber die große Ausnahme. Die Regel ist der Verkauf des Containerinhalts an professionelle Verwertungs­unternehmen; rund 350 Euro pro Tonne werden derzeit vergütet. Die sozialen Einrichtungen finanzieren damit ihre Projekte, während die Verwerter die Kleidung sortieren und gewinnbringend ins Ausland verkaufen. Die größte Sortieranlage der Welt mit 750 Beschäftigen steht in Bitterfeld-Wolfen, der ehemaligen Chemiemetropole der DDR. Jeden Tag werden dort im Schnitt 400 Tonnen ausgemusterte Kleidung aus ganz Europa, überwiegend aus Deutschland, angeliefert. Die Sortierarbeit wird in mehreren Schritten - zuerst nach der Art des Kleidungsstücks, dann nach der Qualität - fast ausschließlich von Frauen geleistet. Dem Zeitungsbericht zufolge ist es ein Knochenjob: Fast 3.000 Kilogramm müsse jede der Frauen täglich sortieren und zwar möglichst fehlerfrei; überall würden Diagramme hängen, die akribisch die Fehlerquoten dokumentieren. Viele der Frauen würden Handgelenkschoner und Gurte um die Hüften tragen, um ihre Gelenke zu entlasten. Erschwert werde die Arbeit noch dadurch, dass immer wieder auch andere Gegenstände in den Altkleidercontainern entsorgt werden, zum Beispiel Elektrogeräte, immerhin etwa 30 Tonnen pro Jahr. Schlimmer sei eine lebende Schildkröte gewesen oder ein Bündel roher Steaks; der Gestank habe noch tagelang in der Luft gelegen, berichtete die Vorarbeiterin. Nach der Sortierung nach Qualität trennt sich die Spreu vom Weizen: Die sog. Cremeware geht häufig nach Osteuropa, die minderen Qualitäten eher nach Afrika. Die je nach Bestellung zusammengestellten Kleiderballen werden automatisch in Folien verpackt, verschnürt und rasch abtransportiert. Insgesamt - so erklärt es der Betreiber SOEX  - seien 60 % der in Bitterfeld sortierten Kleidung noch tragbar und kämen als Secondhandware wieder auf den Markt (der Bundesdurchschnitt liegt bei 45 %). Der Rest werde entweder zu Putzlumpen verarbeitet oder - wenn auch das nicht möglich ist - in Trommeln mit 50.000 Nadeln in seine Faserbestandteile zerhäckselt und an die Auto- und die Baustoffindustrie verkauft, die daraus Abdeckungen für Motorhauben oder Dämmstoffe für Gebäude macht. Selbst die allgegenwärtigen Staubflusen landen nicht im Müll, sondern werden an die Papierindustrie verkauft, die davon Verpackungsmaterial herstellt. Das Ziel des Unternehmens: Null Restmüll.

Wie steht es nun mit dem Vorwurf, die Altkleiderexporte nach Afrika hätten die dortige Textilwirtschaft zerstört?

Verwerter wie SOEX bestreiten das - und werden dabei von Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz oder dem ­Dachverband Fairwertung e.V., einem Netzwerk gemeinnütziger und kirchennaher Organisationen, argumentativ unterstützt. Ihrer Ansicht nach sei die afrikanische Textilindustrie aus anderen Gründen (Stromausfälle, fehlende Ersatzteile usw.) nicht mehr konkurrenzfähig gewesen. Selbst afrikanische Textilproduzenten fürchten sich inzwischen mehr vor fabrikneuer und illegal importierter Ware aus Ostasien als vor der »Mitumba« genannten Gebrauchtkleidung aus Europa, deren Verwertung dort zudem viele zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen habe.

Was kann der einzelne Verbraucher tun?

Zuerst sollte er sich vielleicht bewusst machen, dass er mit jedem Kauf eines Kleidungs­stücks - in Deutschland sind das jährlich im Schnitt 20 kg pro Person - die Kleiderberge in den Industriestaaten weiter anwachsen lässt. Hier können die Konsumenten aktiv Einfluss nehmen, etwa dadurch, dass sie beim Einkauf auf qualitativ gute, langlebige Kleidung achten. Auch der Kauf von Secondhand-Kleidung hilft Ressourcen sparen. Schließlich kann man sich auch bei der Entsorgung von Kleidungsstücken verantwortungsbewusst verhalten, indem nur gut erhaltene Stücke in den Altkleidercontainer gegeben werden. Zerschlissene oder verdreckte Textilien gehören dagegen in den Restmüll. Man kann sich auch über die Vertrauenswürdigkeit der Verwertungsbetriebe informieren- etwa auf den Internetseiten des Verbands Fairwertung. Schwarze Schafe gibt es in dem staubigen Gewerbe der Altkleider­verwertung nämlich leider mehr als genug.

Jörg Klingbeil

AUS DEM TGD-ARCHIV

Die Jerusalemsfreunde vom Heuberg

Es war beim Durch­blättern älterer »Warte«-Bände, dass ich in Heft 19 von 1928 die Schilderung eines Matthias Koch fand, wie er lange Zeit zuvor nach seiner Schulentlassung zusammen mit seiner Mutter eine Fußreise von Tieringen am Heuberg nach Undingen auf der Reutlinger Alb unternommen hatte, um an einem Gottesdienst des Tempel-Ältesten Friedrich Bulach teilzunehmen. Offenbar gab es damals keine andere Verkehrsverbindung, Die Jerusalemsfreunde vom Heubergso dass man diese beträchtliche Wegstrecke zu Fuß zurücklegte.

Die beiden Wanderer wählten eine Route über Tailfingen, wo sie rasten und mit anderen Jerusalemsfreunden in der gastfreundlichen Familie des Andreas Bitzer zusammentreffen wollten. Nach dem Bericht von Matthias Koch hatte er das Jahr zuvor schon seine Konfirmation im Hause Bitzer erlebt gehabt, die auch von Friedrich Bulach geleitet worden war. Von der Person dieses Ältesten war er ganz und gar begeistert gewesen. »So muss der Herr Jesus ausgesehen haben« hatte er diesen einfachen Bauersmann seiner Mutter gegenüber beschrieben. In seiner Schilderung in der »Warte« hat er ihn dann einen »königlichen Bauersmann« genannt.

Der Name Koch ist in der Geschichte der Templer später noch einmal auf­getaucht, als nämlich in der ­Neuen Schule der Tempelkolonien Jaffa-Sarona ein Nachfolger für den ausscheidenden Rektor Karl Wilhelm Ehmann gesucht wurde. Die Saroner Siedler fanden diesen Nachfolger in der Person des im Lichtensterner Lehrer-Seminar ausgebildeten Dr. Eugen Koch, der dann von 1934 bis 1938 unterrichtet hat. Wie sich für mich erst neuerdings herausstellte, war er der Sohn des zuvor genannten Matthias Koch. Er hatte von seinem Vater viel über die Templer gehört gehabt und es lockte ihn, sie in ihrem Siedlungswerk in Palästina selbst kennen zu lernen.

Und es kam noch interessanter: ich kam in Kontakt mit der Tochter dieses Lehrers, die noch im letzten Jahr von Dr. Kochs Lehrtätigkeit in Sarona geboren worden ist, ehe die Familie dann wieder nach Deutschland zurückreiste. Sie lebt gar nicht weit weg von hier und bot uns an, die von ihrem Vater während seines vierjährigen Aufenthaltes in Palästina aufgenommenen Fotografien unserem Templer-Archiv zur Verfügung zu stellen. Leider bin ich als Saroner Dr. Eugen Koch nicht mehr begegnet, da meine Schulzeit erst 1938 begann, als dieser schon nicht mehr unterrichtete.

Die Familie Koch ist uns Templern also nun näher bekannt geworden und gehörte mit ihren früheren Generationen - Matthias Koch und seiner Mutter Anna - mit zu den ersten Jerusalemsfreunden. Friedrich Bulach war schon 1861 zum Jerusalemsfreund geworden und wurde bald von Christoph Hoffmann zum Priester des Deutschen Tempels geweiht. Als er 1873 durch die Auswanderung des bis dahin für die Templer ­verantwortlichen Christoph Paulus in die Leitung des ­Tempels in Württemberg berufen wurde, verlegte er 1876 den Wohnsitz seiner Familie von Undingen (heute: Sonnenbühl) nach Stuttgart und war vier Jahre lang daneben auch Schriftleiter der »Warte«. Ende 1884 ist er dann mit seiner Familie nach Jaffa übersiedelt, aber leider drei Monate nach Ankunft einem Herzleiden dort erlegen.

Bulachs Konfirmand Matthias Koch hat, soweit wir wissen, Palästina nie gesehen. Für ihn blieb seine Heimat Tieringen und der Heuberg auf der Schwäbischen Alb. Deshalb gibt es in seinem Heimatort heute einen Matthias-Koch-Weg und ein Heimatmuseum, das dem schwäbischen Heimatdichter ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Volkskundler werden mit Sicherheit sein bekanntestes Werk, seine Gedichtesammlung von der Schwäbischen Alb »Kohlraisle« (volkstümliche Bezeichnung für die blau blühende Trauben-Hyazinthe) kennen und schätzen. Matthias Koch war in Tieringen einige Jahre Lehrer gewesen. Er ist 1936 in Tübingen gestorben. Seine Gedichte und Erzählungen in schwäbischer Mundart spiegeln das Leben der Tieringer um die Jahrhundertwende bis etwa 1930 wider. Seine scharfe Beobachtungsgabe, gepaart mit Heimatverbundenheit und schwäbischem Humor, machen ihn zu einem unvergessenen Chronisten seiner Zeit.

»D‘ Diaringer, vo‘ altershear guete Leut,

hau’t veil und schwer gschaffeat,

hau’t bscheida gwohnt,

vo‘ Geald ond Reichtum wohl v’rschont.«

(Matthias Koch)

Peter Lange, TGD-Archiv

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