Die Warte des Tempels

Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 167/11 - November 2011

 

 

Let's get rid of the »Kingdom of God«

Ist »Reich Gottes« überholt?

Unter diesem Titel erschien im September-Newsletter des PCNV (Progressive Christian Network of Victoria, dem die TSA angehört) ein Artikel, der dafür plädiert, den Begriff »Reich Gottes« komplett aus unserem Wortschatz zu streichen. Die Argumente, die er bringt, sind wenig überzeugend, aber ich empfand den Titel als Herausforderung: es ist vielleicht gut, wieder einmal deutlich zu machen, warum wir an einem Begriff festhalten, den man immer wieder neu erklären muss.

Der erste Grund ist der allumfassendste und selbstverständlichste. Wir berufen uns auf Jesus, und für ihn war das Gottesreich der Kern seiner Botschaft. »Ändert euren Sinn, denn das Gottesreich ist nahe herbeigekommen!« Mit diesem Aufruf beginnt er sein Wirken in allen drei synoptischen Evangelien. Zwar kommt bei Johannes das Reich Gottes nicht vor, aber das Johannesevangelium ist nicht nur das späteste, sondern auch dasjenige Evangelium, das mit dem historischen Jesus am wenigsten zu tun hat. Wenn wir wissen wollen, was Jesus selbst gesagt hat, müssen wir uns an die Synoptiker halten. Und dort zieht sich die Botschaft vom Gottesreich wie ein roter Faden durch das ganze Wirken Jesu. Nicht nur handelt ein großer Teil der Gleichnisse davon, auch in den Gesprächen mit vielerlei Menschen taucht der Begriff immer wieder auf: »Du bist nicht fern vom Reich Gottes«, »Das Reich Gottes ist inwendig in euch« usw. Soll die Christenheit die zweite Bitte des Vaterunsers, »dein Reich komme« streichen? Es gibt Aussagen Jesu, die zeitbedingt sind und auf die wir, ausdrücklich oder stillschweigend, verzichten, z.B.: Naherwartung, Ehescheidung. Auf die zentrale Aussage vom Reich Gottes kann man nicht verzichten, wenn man sich auf Jesus beruft.

Und: für Christoph Hoffmann und seine Anhänger war »Trachten nach dem Reich Gottes derGrund, eine eigene Gemeinschaft zu gründen, nach Palästina auszuwandern, ihre bisherige Existenz aufs Spiel zu setzen. Sollen wir unser Losungswort streichen?

Nun geht es in dem besagten Artikel - und auch das ist bezeichnend - nicht um den Inhalt, die Bedeutung des Begriffs, sondern nur um das Wort. Gesucht wird ein anderer Ausdruck für dieselbe Sache. Er soll modern sein, eingängig, leicht verständlich. Gibt es den?

Ich selbst habe auch schon manchmal danach gesucht, aus einem ganz anderen, rein sprachlichen Grund: um nicht dreimal in einem Abschnitt »Reich Gottes« zu sagen. Ich habe keinen gefunden.

Und andere offensichtlich auch nicht. In dem Artikel wird berichtet, dass eine ganze Anzahl von Theologen nach einem besseren Ausdruck gesucht hätte, und als der überzeugendste wird der von J. D. Crossan genannt: »comradship of empowerment«. Das lässt sich kaum übersetzen. »Comradship« heißt Kameradschaft, vielleicht könnte man Verbundenheit sagen; »empowerment« heißt Ermächtigung, Vollmacht. Eine »Verbundenheit der Vollmacht? mit Vollmacht«? Darunter kann ich mir nicht das Mindeste vorstellen. Vollmacht von wem? an wen? wozu? Klar scheint eines: Gott hat nichts damit zu tun.

Das ist mindestens so erklärungsbedürftig wie Reich Gottes. Und außerdem ist es sprachlich unschön und schwerfällig, in der Übersetzung sicher, aber mir scheint, auch im Englischen. Das wird augenfällig, wenn man versucht, es in eines der bekannten Bibelworte einzusetzen. Im Vaterunser: »Die Verbundenheit aus Vollmacht komme«? Es gibt kein gleichwertiges Äquivalent, geschweige denn ein besseres.

Warum ist »Reich Gottes« so viel besser? Es ist ein Bild, ein Wort-Bild, und Bilder sprechen uns direkter an als Abstraktes. Wir können von Gott und von etwas, was mit Göttlichem zu tun hat, nur in Bildern reden. Und Bilder haben selten eine eindeutige Aussage. Man muss sie deuten, und diese Deutungen wandeln sich immer wieder. Das ist wohl das, was die Gegner des Reich-Gottes-Bildes stört. Aber genau das ist es ja auch, was das Bild lebendig erhält. Es war nie eindeutig. Es steht für die Sehnsucht der Menschen nach einer guten Welt, in der Gottes Wille geschieht: Gottesherrschaft. Aber wie sie zustande kommen und wie sie beschaffen sein sollte, war immer wieder offen.

Nicht der Begriff, aber der Inhalt, die Vision davon, stammt von den jüdischen Propheten des Exils und Nachexils, also aus dem 6. Jhdt vor Chr. (»die Weissagung« bei Christoph Hoffmann). Sie meinten eine reale Herrschaft Gottes nach der Rückkehr aus dem Exil, heraufgeführt durch die Kraft Gottes, verkörpert in der Herrschaft des Gottesvolks Israel, eine Welt der Gerechtigkeit und der Fülle, zum Wohl aller, aber vorrangig für Israel, das dann, geläutert, von selbst dem Willen Gottes folgen würde. Aber zugleich gab es auch andere Bilder davon: »Da werden die Schafe neben den Löwen lagern«, das bedeutete eine Neugestaltung der gesamten Schöpfung.

Als diese Hoffnung sich nicht erfüllte, verblasste sie, aber sie verschwand nicht. Als Jesus eine neue Gottesherrschaft verkündete, flammte sie wieder auf. Aber für ihn bedeutete sie etwas anderes als für die Propheten: nicht eine reale Herrschaft über ein Gebiet oder über die ganze Welt, sondern etwas, was in den Seelen der Menschen geschah; und nicht (primär) ein Endzustand, sondern ein Prozess. Es gibt von ihm keine einzige Aussage, wie das Reich Gottes - er hat den Begriff geprägt - sein würde; es ging ihm darum, wie die Gottesherrschaft kommen würde. Sie würde wachsen, unaufhaltsam wie das Senfkorn, aber (nur) in dem Maße, wie die Menschen dafür offen waren und ihr Leben danach einrichteten. »Ändert euren Sinn!« Das ist die Bedeutung vieler Gleichnisse und anderer Aussagen.

Daneben stehen aber auch etliche Worte der Naherwartung: noch zu Lebzeiten seiner Zuhörer würde die Gottesherrschaft plötzlich kommen - also durch ein direktes Eingreifen Gottes. Wie sich für ihn die beiden Aussagen zusammenfügten, wissen wir nicht.

Die jungen Christengemeinden lebten noch lange nach Jesu Tod in dieser Naherwartung. Als sie sich nicht erfüllte, veränderte sich allmählich die Vorstellung vom Reich Gottes. Es wurde etwas entweder für eine ferne Zukunft, für das Weltende; oder für das Jenseits nach dem Tod. Mehr oder weniger dürfte das für viele bis heute gelten. Praktisch bedeutet das, dass es für unser Hier und Jetzt nicht relevant ist (außer im Hinblick auf das eigene Seelenheil). Die Welt bleibt außen vor.

Im 19. Jahrhundert trat der Glaube an den Fortschritt an seine Stelle oder in Verbindung mit ihm. Man war überzeugt, dass der technische, wirtschaftliche, wissenschaftliche Fortschritt die Welt besser machen, dass er dazu beitragen könne, Not zu besiegen und die Menschen zu einem zivilisierten Umgang miteinander zu erziehen und dass damit die Welt, zumindest äußerlich, ein wenig Reich-Gottes-ähnlicher werde.

Diesen Glauben können wir nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und mit dem Wissen von Evolution und Psychologie nicht mehr haben. Unsere wachsenden Erkenntnisse können manche Probleme - ganz oder teilweise - lösen, aber sie schaffen immer auch neue, oft sogar größere. Einen weltweiten, gesicherten Zustand der Gerechtigkeit und der Harmonie kann es nicht geben, weil die Welt sich ständig verändert, weil die Menschen sich verändern und ihre Meinungen , was gut und gerecht sei, mit ihnen. Immer werden verschiedene Menschen darüber verschiedene Meinungen haben, und immer werden diese verschiedenen Meinungen zu Konflikten führen.

Was meinen wir dann, wenn wir vom Reich Gottes reden? Chr. Hoffmann hat es einmal so erklärt: das Streben nach einer Vervollkommnung der Welt und des Menschen. Das ist eine Formulierung, die mich überzeugt. Sie bedeutet (für mich)

Reich Gottes ist - vielleicht nicht nur, aber vor allem - etwas, was diese Welt betrifft, unser Hier und Jetzt.

Es geht um Vervollkommnung, nicht um eine Vollkommenheit, die auf Erden nicht denkbar ist. Es geht nicht um einen Endzustand, sondern um einen Prozess.

Reich Gottes ist überall, wo es ein solches Streben gibt, bei Christen, Nichtchristen und Atheisten. Dort ist etwas vom Geist Gottes lebendig - auch wenn Atheisten das anders nennen würden.

Auch wenn wir meinen (nach den Katastrophenmeldungen der Zeitungen), dass die Welt immer schlechter wird, - es gibt tausende von großen und kleinen Gruppen, die danach streben, die Welt an einem Punkt oder an vielen ein kleines bisschen Reich-Gottes-ähnlicher zu machen, von der Selbsthilfe-Gruppe für Suchtkranke bis zur UN-Flüchtlingshilfe. Ob das zu einem Ziel führt und zu welchem, können wir nicht beurteilen, wir haben nicht einmal einen Maßstab dafür. Aber es ist ein Wert an sich, und es hat - zumindest für mich und ich denke, für die meisten Templer - mit Gott zu tun, auch wenn wir nicht erkennen können, auf welche Weise. Eines können wir erkennen: es hat mit der Haltung und dem Handeln der Menschen zu tun. Damit sind wir wieder ganz nahe bei Jesus. Und »Reich Gottes« ist das Symbol dafür.

Darum wollen wir auch weiter an diesem, unserem Symbol festhalten: »Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes«.

Brigitte Hoffmann

Mein neues »Gottesbild«

Ein Interview mit dem anglikanischen Bischof John Shelby Spong, (leicht gekürzt) zitiert nach »Publik-Forum«

Spong:

...Ich kann nicht erklären, wer Gott ist. Dies kann kein Mensch. Wer, wie, was Gott ist, übersteigt die Grenzen intellektueller Verstehenskraft. Eines aber kann ich nicht: Ich kann Gott nicht als eine überirdische Person darstellen, in Analogie zu einem lebendigen Menschen. Ich glaube nicht an Gott als ein höheres Wesen, das mit Allmacht ausgestattet und in der Lage ist, in die Geschichte einzugreifen.

Da dies jedoch die Vorstellung der meisten Menschen von Gott ist, wird mir häufig der Vorwurf gemacht, ich glaubte nicht an Gott. Das ist unwahr! Ich mache vielmehr die Erfahrung, dass ich von Gott durchdrungen bin - wie bei den Mystikern. Ich erfahre Gott auf drei Weisen: zunächst im Geschenk des Lebens; ich verehre Gott, indem ich mit Freude das Leben lebe. Ich erfahre Gott zweitens als die tiefste Quelle der Liebe. Ich bete ihn an, indem ich voll und ganz liebe. Und ich sehe drittens - um mit einem Satz des großen, deutsch-amerikanischen Theologen Paul Tillich (1886-1965) zu sprechen - in Gott den Grund des Seins, in dem alles, was ist, zusammengehalten wird.

 

Wie kamen Sie zu diesen Positionen?

Spong:

Ich bin geboren im Juni 1931, in North Carolina,im »Bible Belt«, dem Bibelgürtel, in einer Arbeiterfamilie. Als ich Theologie zu studieren begann, hatte ich einen fundamentalistischen, protestantisch-anglikanischen Kinderglauben aufzuarbeiten. In diesem in meiner Heimat weit verbreiteten Glauben wurde gelehrt, dass Sklaverei, Rassentrennung, die Unterwerfung der Frau unter den Mann sowie die Ausgrenzung der Homosexuellen gottgewollt seien. Und dass es in Ordnung sei, andere Konfessionen, Religionen und insbesondere die Juden zu hassen. Ich stieg aus diesen religiösen Vorurteilen aus, Schritt für Schritt. Doch ich hielt fest an der Vorstellung von Gott als dem höheren Wesen, das alles so herrlich regiert. Mein Gott, der durch Gebete manipuliert werden konnte, war einer, der mir im Notfall zu Hilfe eilen würde. Doch dann stieß ich auf Paul Tillichs Theologie. Da krachten zwei Gottesbilder hart aufeinander. Das war für meine Entwicklung im Glauben zentral. Über die Zeiten blieb mir Tillichs Denken wichtig: Gott ist anders als unsere allzu menschlichen Vorstellungen. Dies hat mich zu dem Christen gemacht, der ich heute bin. ...

 

Und welche Vorstellung von Gott bleibt?

Spong:

Gott ist in den Tiefen unseres Lebens, Gott ist die Quelle der Liebe, Er ist erfahrbar. Nein, Gott verdunstet und verschwindet nicht. Eher versagen die Möglichkeiten, seine Gegenwart annähernd in Sprache zu fassen. ...

 

Ihre evangelikalen und fundamentalistischen Gegner werfen Ihnen vor, sie seien kein Christ. Was bedeutet Ihnen Jesus Christus?

Spong:

Das Wesentliche über Jesus formuliert Paulus im Korintherbrief: Gott war in Christus. Diese Wahrheit wird im Neuen Testament auf vielerlei Weisen erklärt. Ich begegne Gott im Menschen Jesus Christus.

 

In Ihrem Leben sammelten sich viele theologischen Feindschaften an. Wie gehen Sie mit Ihren Gegnern um?

Spong:

(lacht) Ja, es sind viele. Doch ich versuche, sie möglichst gut zu behandeln. Ich schätze meine theologischen Feinde, weil sie durch ihre Attacken all den Leuten, die der Kirche enttäuscht den Rücken gekehrt haben, zeigen, dass es in dieser Kirche dennoch einen Raum gibt für freie Gottesdenker und Christen wie mich. Das ist im Übrigen eine sehr alte Erfahrung: Der Kirchenlehrer Thomas von Aquin war ein Außenseiter; Martin Luther ebenso, ganz zu schweigen vom Outsider Jesus von Nazareth selbst. Religion ist nie statisch. Sie entwickelt sich stets weiter, wie sich ja auch die Erfahrungen der Menschen immer wieder verändern. ...

 

Sie sagen von sich: »Ich arbeite und schreibe für Christen im Exil.« Was meinen Sie damit?

Spong:

Die Juden mussten im Exil in Babylon (598-539 vor Christus) ihren mitgebrachten Glauben tiefgreifend ändern. Denn alles bis dahin religiös Unverzichtbare - das Heilige Land, das Königtum und der Tempel, seine Liturgien und die Tempelpriesterschaft - waren verloren gegangen. Ein Psalm formuliert diese Erfahrung: »Wir mussten den Lobpreis Gottes singen lernen in einem fremden Land.« Wir heutigen Christen leben nicht in einer babylonischen Gefangenschaft. Doch wir sind konfrontiert mit der modernen wissenschaftlichen Forschung, die es unmöglich macht, in der traditionellen Weise an Gott zu glauben und von ihm zu reden. Kopernikus, Kepler und Galilei zerstörten Gottes Wohnung im Himmel. Newton zerstörte unsere Vorstellung, wie Gott wirkt. In der Welt, die nach mathematischen Gesetzen stattfindet, zerstiebt der Raum für Interventionen eines Gottes. Charles Darwin zerstörte unser Selbstbild. Zuvor hatten wir Menschen uns fast für Engel gehalten. Doch seit Darwin wissen wir, dass wir mit den Affen verwandt sind... Und mit Stephen Hawking verschwindet die gesamte Schöpfungsvorstellung. Unsere theologische Aufgabe besteht daher nun darin, jenseits all dieser intellektuellen Entwicklungen den Lobpreis Gottes zu singen, wie es der Psalm formuliert. Wer an den alten Formeln festhält, etwa an der Erschaffung der Welt in sieben Tagen, der verliert jeden Kontakt zu den Menschen von heute und morgen. Ich räume aber ein: Es ist nicht einfach, alte Glaubensformeln und Verstehensweisen aufzugeben und dennoch an Gott festzuhalten.

 

Die Mehrzahl der Christen weltweit lebt ausgebeutet, in Unsicherheit und Armut. Was hat Ihre aufklärerische Theologie jenen Menschen zu sagen?

Spong:

Schwer zu sagen. Die westliche Theologie stammt aus einer Überflusswelt, unsere Vorstellungen sind davon geprägt. Aus meiner Sicht stellt sich an vielen Orten die grundlegende Frage nach der Fairness. Denn es gibt keine Fairness auf der Erde, sondern nur das ständige Ringen um Fairness. Dies ist eine biblische Erfahrung, spätestens seit Hiob. Wer daran glaubt, dass Gott in jedem anwesend ist, wird die starke Verantwortung spüren, zur Humanisierung aller Menschen und Verhältnisse beizutragen. Das heißt: Er wird gegen die Vorurteile arbeiten, die Menschen verknechten; und er wird gegen die Armut arbeiten, die Menschen das Leben nimmt. Wenn ich an die unzähligen Menschen denke, die in schier auswegloser Armut leben, verstehe ich gut, dass viele einen Trost in einer Religion brauchen, deren überweltlicher Gott eingreift zugunsten der Unterdrückten, spätestens beim Jüngsten Gericht.

 

Plädieren Sie dafür, das Glaubensbekenntnis zu ändern?

Spong:

Bei allen kirchlichen Glaubensbekenntnissen ist respektvoll anzuerkennen, dass sie je auf der Höhe ihrer Zeit das Beste sind, was unsere Ahnen im Glauben damals erfahren und formulieren konnten. Deshalb habe ich kein Problem, das Credo des Konzils von Nicäa (325) oder das Bekenntnis von Chalcedon (451) zu beten, zu singen und so den Glauben der Vorfahren zu bekennen. Doch deren Verfasser wussten vieles nicht, was wir heute wissen. Von den Dimensionen des Universums etwa hatten die Christen des 4. Jahrhunderts keinen Schimmer. Die Glaubensbekenntnisse sind zeitgebundene Zeugnisse. Sie formulieren keine letztendliche Wahrheit, weisen aber mit aller Deutlichkeit auf sie hin.

 

Also sind Sie für eine Neuformulierung?

Spong:

Nein. Denn auch jedes neue Credo ist begrenzt durch den aktuellen Kontext. Binnen Kurzem könnte man es wieder neu schreiben. Entscheidend: In der Abfolge der Bekenntnisse steckt Entwicklung und Dynamik. Das erste Credo, im Neuen Testament, lautet: Jesus ist der Messias. Spätere Bekenntnisse antworteten auf immer neue Fragen. Sie grenzten Alternativen aus und führten in der Folge zu viel Krieg und Gewalt. Doch hinter alledem steckt ein Glaube, der sich lebendig weiterentwickelt. Es ist nicht möglich, die letzte Wahrheit in Flaschen abzufüllen. Die letzte Wahrheit bleibt unverfügbar. Deshalb ist es wichtig zu lernen, die grundlegende Unsicherheit des Lebens anzunehmen und nicht falsche Sicherheiten aufzubauen.

 

Trotz der vielen Konflikte um Ihre Position sind Sie optimistisch. Weshalb?

Spong:

Ich lebe wirklich gern und bin dankbar für das Leben. Es ist klar: Wenn man die Deutung der Welt und Gottes verändert, wie ich das in meiner Theologie tue, dann schafft man Angst und Beunruhigung unter vielen, die sich durch den Verlust von Gewissheiten bedroht fühlen. ... Es gehört offenkundig zur Natur des Menschen, dass Personen, die Grenzen überwinden, gefürchtet und gehasst werden. Ich sehe in Jesus einen großen, provozierenden Überwinder von Grenzen: zwischen Juden und Heiden, Juden und Samaritanern, Männern und Frauen. Es geht voran mit der Welt. Vor hundert Jahren war die Sklaverei noch nicht ausgerottet. Rassismus war akzeptiert. Doch heute: Antisemitismus ist, etwa in Deutschland oder Nordamerika, geächtet. Die Apartheid wurde überwunden. Obgleich der Kampf um Frauenrechte in der römisch-katholischen Kirche nicht entschieden ist, geht es weltweit voran·mit der Sache der Frauen, auch in vielen Kirchen. Die kommende große Auseinandersetzung wird um ein geschwisterliches, nicht mehr brutal ausbeuterisches Verhältnis zur Natur gehen. Veränderungsbereite Christen tragen zu all diesen Fortschritten entscheidend bei. All dies stimmt mich optimistisch.

 

Aus: »Publik-Forum« kritisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 12/2011, Seite 48

Ein persönlicher Kommentar

John Shelby Spong ist einer der führenden Vertreter eines liberalen Christentums im englischsprachigen Raum. Den meisten unserer Leser wird er kein Begriff sein, während in der TSA immer wieder einmal auf ihn verwiesen wird als auf einen Kronzeugen für ein freies Christentum.

Ich habe daraufhin eines seiner Bücher gelesen (»Warum der alte Glaube neu geboren werden muss«, 2006). Das meiste von dem, was er vorbringt, deckt sich mit unserer Einstellung. Befremdet war ich nur von seiner apodiktischen Feststellung, dass man heute, angesichts der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der modernen Bibelforschung, Gott nicht mehr anders denken könne denn als umfassende unpersönliche geistige Kraft, die nicht in das Leben des Einzelnen und nicht in die Geschichte eingreift. Eine solche Auffassung lehne ich zwar nicht ab, und ich nehme an, dass manche Templer sie teilen. Aber mit diesem Absolutheitsanspruch ist sie mir zu eng. Ich weiß, dass viele engagierte Christen Gott anders sehen und erfahren: als ein persönliches Gegenüber. Da wir nicht wissen können, wie Gott ist, haben wir kein Recht, ihr Gottesbild für minderwertig zu halten - solange es nicht im Widerspruch steht zu wissenschaftlicher Erkenntnis und zum Liebesgebot Jesu.

Hier spricht Spong anders. Nicht weil er inhaltlich etwas anderes sagte, er bleibt bei seinem Gottesbild. Aber er sagt es anders. Schon mit seinen ersten Sätzen: »Ich kann nicht sagen, wer Gott ist. Das kann kein Mensch.« Das bedeutet, dass kein Gottesbild allgemeingültig sein kann - Spong bezieht sein eigenes mit ein. Dann spricht er von seiner eigenen Gotteserfahrung. Es ist eine mystische: »Ich mache die Erfahrung, dass ich von Gott durchdrungen bin.« Das ist vielleicht die denkbar überzeugendste Gotteserfahrung - für den, dem sie zuteil wird. Aber mir scheint, es ist eine, die vielen Menschen nicht zugänglich ist.

Das schwingt mit, wenn Spong im weiteren Verlauf des Interviews differenziert und mit Verständnis von denen spricht, die, in Vergangenheit und Gegenwart, eine andere Gottesauffassung hatten. Und das ergibt in der Summe bedenkenswerte Ein- und Ausblicke auf die Religion und ihren Wandel im Laufe der Zeit. Das macht mir diesen Text wertvoll.

Dass Spong an anderer Stelle rigoroser für seine Gottessicht eintrat oder eintritt, erklärt sich vielleicht aus seinem Werdegang. Wenn man liest, wie in seiner Heimatgemeinde im Bible Belt in den USA gelehrt wurde, dass Sklaverei und Rassentrennung, die Unterwerfung der Frau unter den Mann und die Ausgrenzung von Homosexuellen ebenso gottgewollt seien wie der Hass gegen andere Religionen und Konfessionen und insbesondere Juden, dann versteht man, dass er gegen ein so verzerrtes Gottesbild leidenschaftlich kämpfte.

Harvey Cox, der amerikanische Theologe, dessen neuestes Buch in der letzten Ausgabe der »Warte« besprochen wurde, sagt an einer Stelle sinngemäß: »Man wird die religiöse Prägung der Kindheit nicht ganz los, auch wenn man sich später gegen sie wendet. Sie spiegelt sich in dem, was man bekämpft und wie man es bekämpft.« Das stimmt vielleicht nicht immer, aber es kann in manchen Fällen helfen, Einseitigkeiten besser zu verstehen.

Brigitte Hoffmann

Die Welt ohne uns

Ein spannenderes Buch hätte ich mir nicht vorstellen können, in dem der amerikanische Journalist Alan Weisman minutiös und wissenschaftlich genau eine »Reise über eine unbevölkerte Erde« unternimmt. Was wäre eigentlich, wenn die Menschen plötzlich verschwänden? war seine Ausgangsfrage. Erobert die Natur alles zurück, was der Mensch geschaffen hat? Wären die wunderbaren Kulturstätten und Zeugnisse menschlichen Schaffens für Besucher aus dem All dann noch zu bestaunen?

Inzwischen haben Filmemacher mit Hilfe moderner Animationstechnik solche Szenarien auch schon am Bildschirm vorherzuzeigen versucht: wie z.B. die Tempel früherer Kulturen durch die Sprengkraft von Baumwurzeln und von Erosionskräften zu Schutthügeln werden, wie die Wolkenkratzer der Megastädte durch Wasser, Wind und Eis im Lauf von Dekaden in sich zusammenstürzen und wie das Wissen der Menschheit in Form seiner Bücher in alle Winde zerstreut wird.

Die Antwort auf Weismans Fragestellung ist erschütternd und deprimierend. Außer den von den Menschen noch nicht abgeschalteten Kernkraftwerken und ihren Massen an Kunststoffabfällen wird nach ein paar hundert Jahren kaum noch etwas zu sehen sein von dem, was der homo sapiens in seiner Jahrtausende währenden Entwicklung erfunden und geschaffen hat. Die Natur wird dann unsere Spuren ausgelöscht haben.

Dieser Ausblick auf eine zukünftige Welt ist deshalb so bedrückend und erschütternd, weil wir Menschen doch bei all unserem Tun davon ausgehen, dass das bisher Erreichte über die Lebenszeit eines einzelnen Menschen hinausreicht und vieles vielleicht sogar Ewigkeitswert besitzt. Zwar lernen schon die Schüler heutzutage, dass es sich auf der Erde nur so lange noch gut leben lässt, wie die Sonne ihren Vorrat an Wasserstoff und Helium noch nicht restlos verbrannt hat, denn danach würde unser Zentralgestirn in gigantischem Ausmaß aufgebläht werden und die Erde und andere Planeten in diesem Inferno verschlingen. Doch bis dahin werden noch Milliarden von Jahren vergehen, sodass sich darüber niemand so recht die gute Laune verderben lässt.

Wir müssen also bei all unserem Tun und Denken davon ausgehen, dass nicht nur wir selbst, sondern auch unsere Werke von endlicher und begrenzter Dauer sind. Der Schöp­fungstheologe Jürgen Moltmann meint (in »Publik-Forum« Ausgabe 2011/14, Seite 30), die Menschheit müsse von der Hybris einer Weltherrschaft zu einer kosmischen Demut gelangen. Sie müsse von der Mitte der Welt zur kosmischen Integration gelangen. Damit drückt er aus, dass der Mensch kein Herrscher über die Natur, sondern mit seinem Leben und Schaffen in eine große Schöpfungsverantwortung mit der Natur eingebettet ist.

»In der biblischen Schöpfungsgeschichte ist der Mensch das letzte Geschöpf Gottes und damit das abhängigste. Es gibt ihn nur, weil es alle anderen Geschöpfe gibt. Er ist für sein Leben auf die Existenz der Tiere, der Bäume, des Wassers und der Luft, des Lichts der Tages- und Jahreszeiten angewiesen. Sie alle können ohne den Menschen leben, aber wir nicht ohne sie« (Moltmann). Der Mensch sägt also den Ast ab, auf dem er in der Entwicklungsgeschichte sitzt, wenn er die Natur schädigt, aus der er gekommen ist und von der er immer noch einen Teil darstellt. Er muss vom Fortschrittsdenken zu einem Denken in Kreisläufen gelangen. Das, was wir der Natur genommen haben, müssen wir ihr auch wieder zurückgeben.

Der Gärtner weiß dies, er verwendet die Pflanzenabfälle des Gartens in den darauffolgenden Jahren als Kompostdünger für eine neue Saat. Doch in vielen anderen Bereichen menschlichen Wirtschaftens fehlt dieses Kreislaufdenken. Viel zu spät merkt man, wenn ein irreparabler Schaden eingetreten ist, dass die Ursache dafür das verloren gegangene Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen war. Der Club of Rome hat schon 1972 mit seinen »Grenzen des Wachstums« ein deutliches Warnsignal zur Vermeidung dieses Ungleichgewichts gesetzt.

Der Mensch mag, wie Moltmann sagt, das abhängigste Geschöpf auf dieser Erde sein. Denn Wiseman zeigt in seinem Buch die Möglichkeit auf, wie andere Tierarten, z.B. die Insekten, ohne uns die Erde beherrschen würden. Doch trotz aller Unzulänglichkeit und Abhängigkeit hat der Mensch in seiner Entwicklung eine Gabe mit auf den Weg bekommen, die ihn von den anderen Geschöpfen unterscheidet: er kann sich seiner selbst und einer über ihm wirkenden Seinsmacht bewusst werden, er kann sich dieser gegenüber verantwortlich sehen und er kann zu Sinneseindrücken kommen, die über die Notwendigkeiten der Selbsterhaltung hinausgehen. Er kann sich am Duft und der Farbenpracht der Blumen erfreuen, am Gesang der Vögel, am Geplätscher des Baches im Gebirge. Er kann die vielen Wunder der Schöpfung bestaunen: die aus einem einzigen kleinen Samenkorn entstandenen Riesenbäume oder die in allen Farben schillernden federleichten Schmetterlinge, und er kann andächtig werden angesichts der großen Vielgestaltigkeit in der Natur und der weisen Lebensordnung, die schon in den kleinsten Wesen angelegt ist.

Diese Sonderstellung des Menschen kann seine Umkehr vom »Herrn und Eigentümer der Natur« zum »Heger und Pfleger der Mitwelt« möglich machen, solange er sich bewusst bleibt, dass er nicht ohne die Erde leben kann, die Erde aber durchaus ohne ihn. Sie hat es über viele Millionen Jahre hinweg schon bewiesen.

Peter Lange

Bohrtürme statt Bäume

Das Ende einer Hoffnung

Im Dezember 2009 haben wir kurz über ein zukunftweisendes Projekt in Ecuador berichtet, auf der Basis eines Artikels in der Zeitschrift »Publik-Forum« vom August 2009, mit dem Titel »Bäume statt Bohrtürme«. Zur Erinnerung: Es ging um den Yasuni-Nationalpark, ein Naturschutzgebiet so groß wie ein Viertel der Schweiz, bestehend aus Regenwald, eines der artenreichsten Gebiete der Welt. Darunter liegen 20% der ecuadorischen Erdölvorkommen, und Erdöl ist fast der einzige Devisenbringer des armen Landes. Internationale Erdölkonzerne, aber auch viele Gruppen in Ecuador selbst forderten, die bisher verbotene Erdölbohrung im Naturschutzgebiet freizugeben.

Der Präsident Ecuadors, Rafael Correa, hat 2009 vorgeschlagen, zum Schutz des Regenwaldes auf Bohrungen dort zu verzichten, wenn die internationale Gemeinschaft für 20 Jahre etwa die Hälfte des Einkommens ersetzt, auf die Ecuador damit verzichtet: 350 Millionen Dollar pro Jahr. Das würde dem Klimaschutz doppelt nützen, durch den Erhalt des Regenwalds und durch die Vermeidung von 410 Millionen Tonnen CO2-Emissionen (in den 20 Jahren). Es wäre ein Zeichen, dass Klimaschutz ernst genommen wird, und ein kleiner Beitrag zu mehr internationaler Gerechtigkeit. Das Geld sollte von einer internationalen Kommission verwaltet werden, mit den Zinsen wollte Ecuador Naturschutz – erneuerbare Energie, Wiederaufforstung u.a. - und ein Sozialprogramm für die Yasuni-Indianer finanzieren.

Der Vorschlag wurde zunächst sehr positiv aufgenommen, viele Industriestaaten (auch die USA) stimmten zu. Besonders England und Deutschland engagierten sich. Statt der auf Deutschland entfallenden 30 Millionen Dollar pro Jahr wurden 50 Millionen zugesagt.

Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Die versprochenen oder angedachten Zahlungen gingen nicht oder nur sehr zögerlich ein. Jetzt hat Präsident Correa ein Ultimatum gesetzt: wenn bis Ende 2011 nicht mindestens 100 Millionen Dollar eingegangen sind, ziehe er seinen Vorschlag zurück. Dann werde im Yasuni-Regenwald gebohrt.

Über die Gründe für den Wandel wurde nicht berichtet, zumindest nicht in größerem Zusammenhang. Vielleicht spielte die Finanzkrise eine Rolle, vielleicht die zunehmende Erkenntnis, dass Öl knapper und teurer wird. Ziemlich sicher ist - und das ist das doppelt Beschämende -, dass Deutschland einen maßgeblichen Anteil an dem Gesinnungswandel hat, weil viele der kleineren europäischen Staaten sich oft an Deutschland als der stärksten Macht in Europa orientieren. In Berlin hat inzwischen zwar nicht die Kanzlerin, aber die Regierungskoalition gewechselt; und der neue Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) verkündete schon im September 2010, dass Deutschland nicht in den Fonds einzahlen werde. Da er das nicht ohne die Zustimmung der Kanzlerin tun kann, ist anzunehmen, dass der vergleichsweise kleine Posten dazu diente, der FDP ein anderes Zugeständnis schmackhaft zu machen.

Niebels Argumente: Niemand garantiert, dass Ecuador die Fonds-Zinsen zu den angegebenen Zwecken verwendet. Das stimmt, aber das hat mit dem Kern des Abkommens eigentlich nichts zu tun. Außerdem hätte sich bei beiderseitigem gutem Willen ein Kontrollmechanismus sicher einbauen lassen.

Wesentlich ist der zweite Punkt: Das Beispiel könnte Schule machen bei anderen Ländern mit tropischem Regenwald: Indonesien, Bolivien, Peru, Kongo usw. Das ist der Offenbarungseid. Denn genau das ist natürlich die Hoffnung all derer, die diesen Vorschlag begrüßten: dass man die Regierungen solcher Länder besser einbinden könnte in den Kampf um den Regenwald, dass man ihnen auf diese Weise zumindest die Mittel in die Hand gäbe, die sie bräuchten, um ihn besser zu schützen.

Vielleicht ist die Idee ja nicht tot, auch wenn das Ecuador-Abkommen jetzt scheitern sollte.

Brigitte Hoffmann

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Vom Umgang mit Benachteiligten

Er sprach auch zu dem, der ihn geladen hatte: Wenn du ein Mittags- oder Abendmahl machst, so lade nicht deine Freunde noch deine Brüder noch deine Verwandten noch deine Nachbarn, die da reich sind, auf dass sie dich nicht etwa wieder laden und dir vergolten werde. Sondern wenn du ein Mahl machst, so lade die Armen, die Krüppel, die Lahmen, die Blinden, so bist du selig; denn sie haben's dir nicht zu vergelten, es wird dir aber vergolten werden in der Auferstehung der Gerechten. Lukas 14, 12-14

Zur Situation: Jesus ist zu einem Sabbatmahl bei einem Pharisäer eingeladen. Das zeigt zunächst einmal, neben anderen Beispielen, dass er mit Pharisäern genauso vorbehaltlos umging wie mit Zöllnern und Sündern. Die grundsätzliche Feindschaft, die sich in den Evangelien spiegelt, gehört in eine spätere Zeit, als sich die Christengemeinden vom Judentum trennten. Dabei entstanden Ressentiment und Hass wie fast immer, wenn sich eine religiöse Gruppe mit neuen Ideen von einer alten trennt und jede der andern vorwirft, einen falschen Weg zu gehen.

Das ist das Gegenteil von dem, was Jesus wollte: nämlich die Barrieren zwischen feindseligen Gruppen überwinden, im andern den Menschen sehen und nicht den Feind. Wenn er verurteilte, dann nicht die Pharisäer als Gruppe, sondern die starre Gesetzesfrömmigkeit, die es sicher bei einem Teil von ihnen gab, aber eben nicht bei allen.

Das wird schon daran deutlich, dass er eingeladen war. Denn der Zweck dieser Einladung war offensichtlich, diesen unorthodoxen Rabbi zu hören, vielleicht mit ihm zu diskutieren. Lukas berichtet schon vor unserer Textstelle, dass er zu den Versammelten sprach, über das Heilen am Sabbat und anderes, und sie hörten ihm zu.

Dass er dann dem Hausherrn vorwirft, die falschen Gäste eingeladen zu haben, ist nach unseren Maßstäben eine Unverschämtheit, nach den damaligen wohl eher noch mehr. Und aus unserer Sicht scheint es, dass die Provokation den Falschen traf; immerhin hatte der Gastgeber ja mit Jesus jemanden eingeladen, von dem er keine Gegeneinladung erwarten konnte. Vielleicht gab es einen speziellen Grund, aber den erfahren wir nicht.

Davon abgesehen: Was wollte Jesus mit seiner Extremforderung erreichen? Es ist nicht anzunehmen, dass der Hausherr ihr konkret Folge geleistet hat - und wahrscheinlich wird auch keiner von uns sich aufgerufen fühlen, das zu tun. Warum? Es ist schwierig, soziale Konventionen zu durchbrechen. Meist kommen wir gar nicht auf die Idee oder beruhigen uns - nur halb bewusst - mit dem Gedanken, dass in unserem Staat ja auch die »Armen, Krüppel und Blinden« - die, die durch die Raster der Gesellschaft gefallen sind -, Anspruch auf Sozialhilfe haben, dass es eine Reihe von staatlichen, kirchlichen und privat organisierten Anlaufstellen gibt, wo sie Hilfe erhalten können - Hilfe, die im Zweifelsfall nützlicher ist als eine einmalige Einladung, die unter Umständen ihnen ebenso peinlich sein kann wie uns. Das stimmt alles und verdeckt doch zweierlei: auf der einen Seite, dass viele dieser Ausgegrenzten noch etwas anderes brauchen: als Menschen wahrgenommen zu werden. Und auf der anderen Seite, dass wir uns im Normalfall genauso verhalten wie der Hausherr der Geschichte: wir laden Freunde und Verwandte ein, nicht im bewussten Spekulieren auf eine Gegeneinladung, aber im sicheren Gefühl eines vertrauten Kreises, in dem wir uns wohlfühlen. Und das verstellt uns leicht den Blick über diesen Kreis.

In Notzeiten ist das anders. Als wir, zwei Freundinnen und ich, nach dem Krieg unsere erste Radtour machten, suchten wir eines Abends im weitgehend zerstörten Crailsheim nach der Jugendherberge, bis wir nach 2 Stunden erfuhren, dass sie auch zerstört war. Da standen wir nun, vielleicht um 9 Uhr abends, in der Dunkelheit, frierend und einigermaßen ratlos. Da kam ein fremder Mann auf uns zu, und als er unsere Geschichte gehört hatte, nahm er uns selbdritt in seine enge Wohnung mit.

Ich will nicht sagen, dass es so etwas heute nicht gibt, aber viel seltener, einfach schon deshalb, weil man viel seltener einen Verlorenen auf der Straße findet. Unser Wohlstand in einem geordneten Staat schottet uns ganz von selber ab. Vielleicht ist die Forderung Jesu gar nicht wörtlich gemeint, sondern ein Aufruf, an den Gastgeber und an uns, zu mehr Aufmerksamkeit und Offenheit gegenüber denen außerhalb unseres Kreises. Das braucht nichts Spektakuläres zu sein - vielleicht einmal eine kleine Einladung an jemand, der uns nicht besonders nahe steht, von dem wir aber wissen, dass er einsam ist; vielleicht auch nur, dass wir dem Bettler an der Ecke nicht nur verlegen eine Münze in die Mütze werfen, sondern ihn ansehen und ein freundliches Wort zu ihm sagen. Etwas von dieser Offenheit sollten wir uns bewahren.

Brigitte Hoffmann

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