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Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu; wer im Geringsten ungerecht ist, der ist auch im Großen ungerecht. Wenn ihr nun mit dem ungerechten Mammon nicht treu seid, wer wird euch das wahre Gut anvertrauen? Und wenn ihr mit dem fremden Gut nicht treu seid, wer wird euch geben, was euer ist? Kein Knecht kann zwei Herren dienen; entweder er wird den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Lukas 16, 10-13
Die beiden Sätze am Anfang und am Ende des kurzen Textes scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben, außer dass es im einen vielleicht und im anderen eindeutig um Geld geht. (Der kurze Mittelteil trägt kaum zum Verständnis bei.) Was ist gemeint?
»Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu.« Das klingt für mich tröstlich, weil es die Treue im Kleinen quasi gleichberechtigt neben die im Großen stellt. Und damit bekommt diese Treue im Kleinen einen neuen Stellenwert. Denn normalerweise - oder doch oft - belächeln wir sie als ein bisschen altmodisch und ein bisschen spießig. Was ist schon dabei, wenn man seine Rechnungen pünktlich bezahlt, seine Versprechungen einhält, seine Wohnung einigermaßen sauber hält? Das ist doch nichts Besonderes! Aber genau darum geht es. Wir - vielleicht nicht wir alle, aber viele - wollen gerne etwas Besonderes tun, ein besonderes Zeichen der Nächstenliebe oder des Edelmuts setzen - vielleicht um uns selbst zu beweisen, dass wir es ernst meinen mit der Nachfolge Jesu. Meist finden wir keine Gelegenheit dazu (oder erkennen sie nicht) und sind entmutigt und unzufrieden mit uns selbst.
Ich habe eine Stellungnahme für die Treue im Kleinen aus den Worten herausgelesen. Das ist überinterpretiert, streng genommen geht es nur um die Feststellung eines Sachverhalts. Aber ich denke, dass diese Überinterpretation im Sinne Jesu ist, der wieder und wieder sich für die Kleinen, gering Geachteten eingesetzt und gesagt hat, dass viele, die hier die Letzten sind, vor Gott die Ersten sein würden. Wer ein Leben lang in den kleinen Dingen des Alltags "getreu" ist, seine Arbeit gewissenhaft tut, dafür sorgt, dass das Geld bis zum Ende des Monats reicht, wer sich um die Sorgen seiner Nächsten kümmert, auch wenn er eigentlich keine Zeit hat, wer auch einem mürrischen Menschen eine freundliche Antwort gibt u.s.w. - der hat am Ende etwas Großes geleistet.
Das ist für mich eine Aussage des Textes. Zwei Sätze weiter, anschließend an die Warnung vor der finanziellen Untreue, das lapidare: »Kein Knecht kann zwei Herren dienen; entweder er wird den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird an dem einen hängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott lieben und den Mammon.« Eindeutiger geht es nicht. Und die schlagwortartige Formulierung hat bewirkt, dass das Wort Mammon, das in der ganzen Bibel nur hier bei Lukas (in unserem Text und im Abschnitt davor) vorkommt (einmal noch wortgleich bei Matthäus), in unsere Sprache eingegangen ist als negativ besetztes Synonym für großen Reichtum. Dabei ist, weil es keine anderen Anwendungsbeispiele gibt, nicht einmal die Wortbedeutung ganz klar. Bei Lukas heißt es zweimal "mit dem ungerechten Mammon". Heißt das, dass großer Reichtum per se "ungerecht" ist, also böse? Oder heißt es, dass es auch einen gerechten, ehrlich erworbenen Mammon gibt, für den das nicht gilt? Vom Wortsinn her ist das nicht zu klären: Wir können nur fragen: Was hat Jesus - wahrscheinlich - gemeint? Was meinen wir?
Was Jesus betrifft, so scheint mir die Antwort klar: er hat Reichtum an sich abgelehnt. Er und die Jünger haben ein Leben absoluter Besitzlosigkeit ohne jede Sicherheit geführt, und er hat zumindest von denen, die sich ihm als Jünger anschließen wollten, das Gleiche verlangt - siehe sein Gespräch mit dem reichen Jüngling. Aber gerade der Verlauf dieses Gesprächs legt nahe, dass er nur diese Gruppe gemeint hat. Allerdings: am Ende steht das ominöse Wort: »Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes komme.« Das kann ich nicht akzeptieren, selbst wenn Jesus es gesagt haben sollte.
Denn - so wie er und die Jünger können immer nur Einzelne oder ganz kleine Gruppen leben und nur auf eine begrenzte Zeit; und das nicht nur, weil sie ja auf die Spenden der anderen angewiesen sind. Wer Verantwortung trägt, für eine Familie, eine Aufgabe, eine Gemeinschaft, kann es nicht.
Und wie stellen wir uns zu diesem Anspruch Jesu? Ich nehme an, es geht auch anderen so wie mir. Ich habe ihn bisher fraglos akzeptiert - aber als etwas, was mich eigentlich nichts angeht. Schließlich sah ich mich nicht als einen Diener des Mammon; weder bin ich besonders reich noch ist mir Geld besonders wichtig. Unterschwellig beunruhigte mich die Radikalität des Anspruchs, von dem ich spürte, dass er sich auch auf andere Bereiche übertragen ließ: wer Gott dienen will, darf nichts anderes wichtig nehmen. Und das wollte ich nicht akzeptieren.
Dann stieß ich auf einen weiteren Punkt, den ich nicht akzeptieren konnte: der beeindruckende Satz »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon« stimmt nicht. Ich muss dazu vielleicht für Nicht-Templer erklären: mein Maßstab für das Gott-Dienen ist nicht, ob man sich mit seinem Verhalten die ewige Seligkeit verdienen kann - das kann keiner beurteilen, und ich denke, es ist heute auch den meisten gar nicht wichtig; wichtig ist für uns, ob ein Verhalten dazu beiträgt, die Welt wenigstens an einem Ort ein wenig Reich-Gottes-ähnlicher zu machen, dazu beiträgt, dass mehr Menschen in Frieden, mit weniger menschengemachtem Leid, fröhlicher, mit mehr Liebe miteinander umgehen können. Daran gemessen, gibt es in Geschichte und Gegenwart zahlreiche Beispiele von Menschen, die es sehr wohl fertigbrachten, Gott und dem Mammon zu dienen.
Ich will wenigstens ein Beispiel beschreiben, über das ich per Zufall gestolpert bin und das geradezu klassisch meine These illustriert samt dem Dilemma, das dahinter steckt.
1860 wird in Jerusalem das »Syrische Waisenhaus« gegründet als Zufluchtsort für Flüchtlingswaisen aus einem vorausgegangenem blutigen Bürgerkrieg im Libanon; geplant und bezahlt von der Pilgermission St. Chrischona bei Basel, gebaut und geleitet von Johann Ludwig Schneller; die Einrichtung erwarb sich rasch einen guten Ruf. Der Held (oder Antiheld) der Geschichte ist der Sohn des Gründers, Ludwig Schneller. Er wurde Pfarrer der kleinen evangelischen Gemeinde in Bethlehem und baute für sie eine Kirche. Dann stellte sich heraus, dass er die Rechnungen nicht bezahlen konnte - wahrscheinlich hatte er, frisch vom Studium gekommen, mit Krediten gerechnet, die in Bethlehem nicht zu bekommen waren. Die Gemeinde entließ ihn in Unehren. Er ging zu seinem Vater und und arbeitete von da an für das Heim, das bald einen rasanten Aufschwung nahm. Ludwig muss ein genialer Geschäftsmann und Werbeexperte gewesen sein, er fand immer neue Methoden, wie man Spenden eintreiben und sonst zu Geld kommen konnte. Wichtiger war noch eine neue Methode für die Schule. Die Schüler lernten dort nun nicht mehr nur Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch ein Handwerk oder einen kaufmännischen Beruf, sie sollten nach der Entlassung ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können; und da sie nach deutscher Lehrlingstradition gründlich ausgebildet wurden, war das kein Problem. Bald kamen Schüler nicht nur aus der Umgebung, sondern auch aus anderen arabischen Ländern, die Schule musste laufend erweitert werden. Das brachte ihr einen weiteren Vorteil. Die Lehrlinge wurden in jeder Hinsicht (Essen, Wohnung u.s.w.) gut behandelt. Aber da sie keinen Lohn erhielten, konnte Schneller vieles billiger herstellen und die Konkurrenz unterbieten. Nebenher schaffte er es, mit viel List und ein wenig Tücke, sich von St. Chrischona unabhängig zu machen. Seinen besten Coup landete er, als 1910 das große Haupthaus abbrannte. Für einen flächendeckenden Spendenaufruf in ganz Deutschland fehlte ihm das Geld. Also schickte er in den Schulwerkstätten gefertigte Broschüren an alle deutschen Kurorte - alles, was mit "Bad" anfing, in der Überlegung, dass, wer dort kurte, erstens Geld hatte, zweitens Muße, Broschüren zu lesen, und drittens vielleicht in der Stimmung war, sich vom Leid anderer rühren zu lassen. Die Rechnung ging auf. In weniger als zwei Jahren war das Haupthaus wieder aufgebaut. Nach einer beträchtlichen Erbschaft zugunsten der Anstalt hatte Schneller Geld für seine zweite bahnbrechende Idee. Er war der erste, der sich vom Elend der vielen Blinden im Orient nicht nur rühren, sondern zum Handeln motivieren ließ. Sie konnten nichts tun als betteln und darauf hoffen, dass ihre Familien sie durchfütterten. Schneller baute ein Blindenheim und eine Blindenschule mit den modernsten Hilfsmitteln, die es damals gab: er hat Schulbücher in Braille-Schrift drucken lassen und Reliefkarten für den Geografie-Unterricht angeschafft. Und jedes der blinden Kinder lernte ein Handwerk wie die anderen, so dass es später zum Unterhalt der Familie beitragen konnte. Das verschaffte ihm nicht nur einen besseren Stand in der Familie, sondern auch Selbstwertgefühl und eine Aufgabe, die befriedigte.
Schneller hat manchmal ein bisschen betrogen und häufig getrickst für seinen guten Zweck. Aber er hat seinen ganzen Gewinn in die Schule gesteckt und damit für viele arabische Buben und Mädchen ein besseres und erfüllteres Leben möglich gemacht. Für mich ist es keine Frage, was schwerer wiegt.
Für Schneller war, soweit er sich seine Motive bewusst machte, sicher das religiöse Motiv des Helfenwollens ausschlaggebend, und dass er dafür seine Freude am Geldeinnehmen nutzbar machen konnte, ein erfreulicher Nebeneffekt.
Bei den meisten, Einzelnen wie vor allem Unternehmen, ist das Verhältnis wohl umgekehrt. Sie wollen und müssen in erster Linie Geld verdienen, aber wenn sie genug oder ein bisschen mehr als genug haben, sind sie durchaus bereit, für einen guten Zweck zu spenden. Vor allem die Firmen tun das meist nicht aus christlicher Nächstenliebe oder ethischer Verantwortung, sondern zur Imagepflege. Aber für die vielen Theater und Sportstätten, Musikschulen und Museen, die ohne solche Sponsorengelder schließen müssten, spielt das keine Rolle.
Man kann die Welt nicht scheiden in einen Teil, der nur dem Mammon dient und deshalb böse ist, und einen anderen, der Geld verachtet und deshalb gut ist. Und ich glaube auch nicht, dass Jesus es so gemeint hat. Ich denke, wir sollten nicht aus einem einzigen seiner Aussprüche oder Gleichnisse ein System machen, das immer und für alle Lebenslagen gilt. Sie sind in einer bestimmten Situation zu einer bestimmten Gruppe - hier: den Jüngern - gesagt und beleuchten einen bestimmten Aspekt des Lebens, manchmal in übersteigerter Form. Andere Aussagen beleuchten andere Aspekte, und manchmal können sich dabei durchaus Gegensätze ergeben. Ich denke, wir sollten sie nicht verschweigen, sondern vergleichen, um besser zu verstehen, worauf es ankommt. Im Gleichnis von den anvertrauten Pfunden werden diejenigen belohnt, die mit dem Pfund gewuchert haben, und der getadelt (nicht: bestraft), der das Geld sicher verwahrt hat, um es ungeschmälert zurückgeben zu können
Nicht dem Mammon dienen, sondern Gott - das heißt nicht, sich von Geld und Geldgeschäften möglichst fernzuhalten (und diejenigen zu verachten, die das nicht tun). Neun Zehntel der Menschheit können das gar nicht. Sie müssen kämpfen um ihr tägliches Brot und in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft heißt das: um ihr tägliches Geld. Die meisten werden mehr an dieses notwendige Geld denken als an Gott, und sie sind deshalb in Jesu Augen nicht schlechter als andere. Eher im Gegenteil: sie sind die Mühseligen und Beladenen, denen seine besondere Zuwendung galt.
Geld an sich ist weder böse noch gut. Es ist ein Mittel, und ein eminent nützliches dazu. Wer mehr davon hat als andere oder das Geschick, mehr davon zu erwerben, ist damit nicht automatisch ein "Diener des Mammon". Er ist es dann, wenn der Gelderwerb für ihn zum Selbstzweck wird, so sehr, dass dafür jedes Mittel recht ist. Ein Bankdirektor, der für seine Bank Gewinn machen will, handelt damit zunächst nicht verwerflicher als ein Familienvater, der mehr verdienen will, damit seine Kinder länger in die Schule gehen können. Aber wenn dieser Gewinn zum alleinigen Maßstab wird, dann ist die Grenze überschritten zum "ungerechten Mammon", selbst dann, wenn das ganz legal geschieht. Nicht zuletzt die Finanzkrise hat uns deutlich vor Augen geführt, wie unheilvoll eine solche Haltung sein kann.
Umgekehrt gilt aber auch: wenn man etwas in der Welt verbessern will, Hunger oder Unterdrückung oder Krankheit oder Umweltzerstörung lindern will, dann braucht man dazu, nicht an erster Stelle, aber doch auch Geld. Wer 100.000 Euro einsetzen kann, erreicht meist mehr, als wer nur 1.000 hat. Und das bedeutet, auch für uns, die wir keine Finanzjongleure sind: auch Geld ist, wie unsere angeborenen oder erworbenen "Talente", ein Pfund, mit dem wir "wuchern" sollen, etwas, wofür wir Verantwortung tragen. Wir sollen sorgsam damit umgehen, nicht nur mit dem, was wir brauchen, sondern auch mit dem, was wir verschenken wollen: prüfen, ob es wirklich dem nützt, was wir erreichen wollen, prüfen, was für Auswirkungen das Verschenken für andere hat.Das ist vom Gleichnis der anvertrauten Pfunde her gedacht. Noch einmal: wir können manchmal zur gleichen Sache - dem Umgang mit Geld - von verschiedenen Gleichnissen her zu verschiedenen Ausdeutungen kommen. Gibt es einen Maßstab, an dem wir alles messen können? Es gibt ihn und wir kennen ihn alle: "Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes". Trägt es dazu bei, die Welt, und sei es nur an einem winzigen Punkt, ein wenig liebevoller, fröhlicher, friedlicher zu machen? "Am ersten" - nicht: ausschließlich. Das führt oft zu Verkrampfungen oder zu Fehlhandlungen. Aber der wichtigste Maßstab für unser Handeln sollte es sein.
Damit komme ich zum Anfang des Textes und dieses Artikels zurück: »Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu.« Das stimmt nicht einmal immer, siehe Ludwig Schneller. Aber es setzt einen Akzent: auch das Geringste ist wichtig. Auch die 20 oder 50 Euro, die jemand erübrigen kann, sind wert, sorgsam bedacht zu werden.
»Vom Schwören«, Matthäus 5, 33-37: Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: »Du sollst keinen falschen Eid schwören und selbst dem Herrn deinen Eid halten« (3. Mose 19, 12 und 4. Mose 30, 9). Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron; noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße; noch... Auch sollst du nicht bei deinem Haupte schwören; denn du vermagst nicht ein einziges Haar schwarz oder weiß zu machen. Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.
Das ist Teil der Bergpredigt, die wir im Allgemeinen als eine Art christlichen Leitfaden betrachten. Aber über diesen Abschnitt sehen wir großzügig hinweg. Wenn wir einen Eid leisten sollen, bei Gericht oder beim Eintritt in den Staatsdienst, tun wir das ohne irgendeinen Skrupel. Warum haben wir das Gefühl, dieses eindeutige Gebot Jesu gehe uns nichts an?
Warum verbietet Jesus das Schwören? Seine Begründungen »nicht bei ..., denn ...« lassen sich zusammenfassen: nicht bei Gott oder bei irgendetwas, was mit ihm zu tun hat und damit heilig ist. Schwören bedeutete damals beschwören: man rief Gott an zum Zeugen und zum Vollstrecker - er würde den bestrafen, der falsch geschworen hatte. Das bedeutet eine Entwürdigung, eine Instrumentalisierung Gottes, und die lehnt Jesus ab. Es steht bei Gott, ob er bestrafen will oder nicht, der Mensch darf ihn darauf nicht verpflichten wollen.
Das letzte Argument Jesu Auch sollst du nicht bei deinem Haupte schwören... weist noch auf einen anderen Aspekt hin. Hier gibt es keine Herabwürdigung des Göttlichen, das Haupt des Menschen ist nicht heilig. Aber ohne einen Gottesbezug hat der Eid keinen Sinn, der Mensch kann nicht bestimmen, was mit seinem Haupt geschieht. Darin spiegelt sich wohl eine historische Entwicklung. Zur Zeit der Niederschrift dieses Teils der Thora (wohl 6. Jhd. vor Chr.) glaubte man noch an eine direkte konkrete Verwirklichung der Gerechtigkeit durch Gott. 500 Jahre später, zur Zeit Jesu, glaubten das längst nicht mehr alle. Manche oder viele hatten zur Kenntnis genommen, dass in der Realität auf einen Verstoß gegen ein göttliches Gebot keineswegs immer eine Strafe folgte, dass Unheil (Strafe) oft auch die "Gerechten" traf. Offensichtlich glaubte auch Jesus nicht an eine solche "göttliche" Gerechtigkeit. Wir glauben auch nicht daran.
Ich denke, das erklärt, warum für die meisten von uns ein Eid keine religiöse Bedeutung mehr hat. Er ist für uns keine Beschwörung, sondern eine Bekräftigung einer Aussage oder eines Versprechens. Rechtlich ist sie insofern von Belang, als auf Meineid eine deutlich höhere Strafe steht als auf einer "normalen" Falschaussage. Vielleicht scheuen deshalb gar nicht so wenige davor zurück, eine gemachte Falschaussage unter Eid zu wiederholen. Vielleicht empfinden aber manche unbewusst noch eine Scheu vor dem Numinosum, das den Eid von seinen Ursprüngen her umgibt.
Wer religiös denkt, wird einen Eid in Verantwortung vor Gott schwören. Aber nicht, weil Gott ihn bestrafen wird, wenn er ihn bricht, sondern weil er sich vor Gott und vor den Menschen verpflichtet fühlt, ein gegebenes Wort zu halten.
Die Formel »So wahr mir Gott helfe« steht nicht umsonst im Konjunktiv. Sie kann für uns nicht mehr heißen: so wahr Gott mir helfen wird, wenn ich meinen Eid halte, und mich bestrafen, wenn ich ihn breche. Sie bedeutet für uns: so wahr ich auf den Beistand Gottes hoffe und vertraue. Ich denke, mit einem so verstandenen Eid stehen wir nicht im Widerspruch zu dem, was Jesus gemeint hat.
Über unsere australische Schwestergemeinde erhalten wir in letzter Zeit interessante Berichte über neuere Entwicklungen in Australien hin zu freichristlichem Denken und zu einer "fortschrittlichen Religion". Angestoßen durch das Auftreten des liberal eingestellten anglikanischen Bischofs John Shelby Spong in Sydney vor zwei Jahren und die dabei erfahrene große Resonanz seiner Vorträge, wurde vom 15. bis 18. April dieses Jahres in Melbourne unter dem Thema »Common Dreams« (Gemeinsame Träume) ein Anschluss-Kongress in Fragen religiöser Freiheit veranstaltet. Viele liberal orientierte Christen aus unterschiedlichen Denominationen, sowie auch Vertreter nichtchristlicher Religionen, nahmen an dem Treffen teil.
Von unseren Templerfreunden konnten Herta Uhlherr und Renate Beilharz an diesem großen Kongress teilnehmen. Im Mai-Heft des »Templer Record« berichten sie über ihre Eindrücke. Sie erhielten, wie sie schreiben, von den verschiedenen Ansprachen, Diskussionen und Gesprächskreisen zahlreiche wertvolle Denkanstöße und Impulse für ihre weitere Arbeit in der TSA. Sie fühlten, wie notwendig und förderlich eine geistig-religiöse Auseinandersetzung mit Menschen ähnlich geistig-religiöser Ausrichtung außerhalb der Tempelgemeinde ist, und sie wollen dazu beitragen, dass die Mitgliedschaft der TSA im »Progressive Christian Network of Victoria« (Fortschrittlich-Christliches Netzwerk in Victoria) in der Zukunft weiter belebt und intensiviert wird.
In dem Bericht schildern sie ihren Eindruck, dass es in ihrer erweiterten Umgebung überraschend viele Menschen gibt, die zu Fragen über Jesus, Gott und die Bibel "templerische" Standpunkte einnehmen, deren Gemeinden aber noch stark von kirchlicher Tradition geprägt sind. Trotz dieser traditionellen Prägung sind jedoch Entwicklungen spürbar, dass hier Ansätze zu neuen Formen des Gemeindelebens gefunden werden, die vor allem auch junge Menschen einschließen. Allerdings wird mancher Pfarrer und Gemeindeleiter wegen solcher Anstöße zu Veränderungen von seinen Vorgesetzten offenbar auch gerügt.
Einen großen Widerhall im Kongress fand der Hauptvortrag der Gründerin des »Kanadischen Zentrums für fortschrittliches Christentum«, Pfarrerin Gretta Vosper, die Bischof Spong vor zwei Jahren als »brillante, scharfsinnige und mutige junge Frau« bezeichnet hatte, »eine höchst begeisternde Stimme im Christentum des 21. Jahrhunderts«. In einem 2008 erschienenen Buch spricht sie davon, dass Christsein nicht bedeute, an bestimmte Lehrsätze zu glauben oder festgelegte Formen und Riten mitzumachen, sondern »alles zu tun, das mich in radikal ethischer Weise im Leben bindet«. Ihr Buch - mit dem Titel: »With or Without God - Why the Way We Live is More Important Than What We Believe« - war in der Öffentlichkeit auf große Zustimmung gestoßen, doch von mancher Seite auch auf scharfe Ablehnung. Es war damals sogar ihre Amtsenthebung gefordert worden.
In einem Interview erklärte sie in Melbourne ausführlich, warum sie ihr Zentrum "fortschrittlich-christlich" nennt. Diese Bezeichnung sei ursprünglich umstritten gewesen, denn manche Kritiker hätten darauf hingewiesen, dass eine solche Bezeichnung impliziere, dass man andere Ansichten als rückschrittlich oder stagnierend ansehe. Sie hätten daraufhin versucht, ihre Charakterisierung durch Adjektive wie "offen" oder "evolutionär" zu ersetzen, hätten jedoch gefunden, dass diese ebenfalls missverstanden werden könnten. Letztlich hätte man sich dann doch für "fortschrittlich" entschieden (englisch "progressive"), weil daraus hervorgehe, dass es ein lebendiger Prozess ist, zu dem aufgerufen wird, nämlich zu einem Schritt weg von der Stelle, an der man bisher stand. Es geht Gretta Vosper nicht unbedingt darum, eine andere Konfession zu gründen, sondern um die persönliche Bereitschaft, sich im eigenen Denken zu verändern und neue Schritte zu wagen.
Zu dem Artikel »Trinität und Trinitätslehre« in der »Warte« vom Mai 2010 möchte ich gerne Stellung beziehen:
Einerseits will noch darf ich nicht die Gottesvorstellung eines Menschen diskutieren, auch dann nicht, wenn die Gottesvorstellung öffentlich gemacht wird.
Andererseits können etwas verunglückte Formulierungen oder missverständliche Darstellungen, die Tempelgemeinde und deren historischen Werdegang betreffend, nicht unkommentiert bleiben. »Die Warte des Tempels« wird schließlich nicht nur von Templern gelesen.
Gleich zu Beginn des Artikels stellt der Autor großkirchliche (und bekannte) Rituale und Traditionen im Zusammenhang mit Pfingsten und dem Heiligen Geist vor. Er stellt die Tempelgemeinde in genau diese Tradition. Dabei knüpft er an die Bezeichnung »offenes Christentum« an. Nun sind die Templer dafür bekannt, Traditionen und Rituale anderer religiöser Gemeinschaften (auch nicht-christlicher) mehr oder weniger wohlwollend, aber immer interessiert zu betrachten. Kein einziger Mensch auf Erden ist im Besitz der allein selig machenden Wahrheit. Damit werden solche Rituale selbstverständlich nicht zur templerischen Tradition! In den nächsten Absätzen beschreibt der Autor sein Ringen um seine persönliche Gottesvorstellung im Zusammenhang mit dem Bild der Dreieinigkeit - das ist sein gutes Recht.
Zu den darauf folgenden Fragen:
Nein, wir sollten nicht das Bild von der Dreieinigkeit aufgeben wegen der kirchenüblichen Übertreibungen - man kann nur aufgeben, was man hat, nicht das, was man nicht hat.
Nein, wir sollten das Bild von der Dreieinigkeit nicht aufgeben, weil Christoph Hoffmann etwas Richtiges dagegen vorgebracht hat, sondern weil es uns heutige Templer nicht betrifft. Goethe sagte dazu: »Ich glaubte an Gott, die Natur und den Sieg des Edlen über das Schlechte. Aber das war den frommen Seelen nicht genug. Ich sollte auch glauben, drei sei eins und eins sei drei. Aber das widersprach dem Gerechtigkeitsgefühl meiner Seele. Und ich wüsste auch nicht, wie mich das weiterbringen sollte.«
Ja, es ist in diesem Fall wichtig, ob etwas im Neuen Testament steht oder nicht. Seit der Reformation vertritt der Protestantismus das Prinzip "allein durch die Schrift" (lateinisch sola scriptura) sei das christliche Glaubensgut bewahrt. Luther vor dem Reichstag: »Mag man mich meinethalben widerlegen, aber nur durch die Schrift.« Der Umkehrschluss ist erlaubt: was nicht in der Schrift steht, ist kein bewahrtes christliches Glaubensgut. Und genau das hat Christoph Hoffmann der evangelischen Landeskirche in Württemberg vorgehalten. Und er hatte recht.
Nein, Biblizismus ist kein neues Dogma, sondern ein altes. Der heutige templerische Umgang mit der Bibel - "eine reiche Quelle menschlicher Erfahrung mit Gott" - hat damit nichts zu tun.
Mich stört auch der recht freihändige Umgang mit Christoph Hoffmann und den Zitaten, versehen mit spitzen Bemerkungen und unfreundlichen Wertungen - zwar richtig zitiert, aber ohne Gefühl für die Zeitumstände vor 135 Jahren. Beim Lesen von historischen Texten sollte man immer versuchen, sie in den Kontext der damaligen Zeit zu stellen, fragen, für oder gegen wen sie geschrieben worden sind und was damit beabsichtigt worden ist.
Zum einen richten sich die zitierten Worte gegen die verstockte und unbewegliche Landeskirche, an der die Aufklärung und die beginnende historisch-kritische Forschung spurlos vorübergegangen waren. Hoffmann und seine Glaubensbrüder und -schwestern wurden von dieser Kirche ausgeschlossen und kamen trotz eines Versuchs nicht wieder hinein. Wir Heutige können uns kaum ein Bild davon machen, welche persönlichen und gesellschaftlichen Anfeindungen ein Kirchenausschluss in Württemberg (!) im neunzehnten Jahrhundert auslöste. Man kann den Groll und die Frustration nur ansatzweise nachvollziehen. Aber: wen wundert da eine harsche Reaktion Hoffmanns und sein vielleicht etwas gewöhnungsbedürftiger Sprachstil? Unter den gegebenen Umständen wäre mir Hoffmanns Reaktion sicher als angemessen erschienen. Die Aussagen sind einerseits zeitbedingt, haben aber auch eine Bedeutung darüber hinaus. Inhaltlich war Hoffmann glaubensevolutorisch seiner Zeit weit voraus. Wenn man den Beitrag von Hubertus Halbfas in der »Warte« vom Juni 2010 gelesen hat, kann man vermuten: das wird noch eine Weile so bleiben. Jedenfalls ist Kritik allein aus dem Blickwinkel der heutigen Zeit unangebracht.
Der Abschnitt über die "Göttlichkeit Jesu" und deren Ablehnung durch den Autor (allein?) ist überflüssig. Bei Außenstehenden könnte der Eindruck erweckt werden: dies ist heute noch ein Thema in der Tempelgemeinde, das kontrovers diskutiert wird. Mir selbst ist noch kein einziges Mitglied der Tempelgemeinde begegnet, das der Vergottung Jesu das Wort geredet hätte. Warum versucht der Autor, auch noch sprachlich vehement, ausgerechnet bei der Tempelgemeinde eine Tür einzurennen, die seit über hundert Jahren offen steht?
Durch die risse des glaubens
schimmert das nichts
Doch schon der kiesel
nimmt die wärme an der hand
Reiner Kunze
Zwei ganz kurze Sätze, scheinbar ohne Zusammenhang, zwei knappe, unspektakuläre Bilder. Das erste: ein Glaube kann Risse bekommen, und für den, der sich bisher in seinem Glauben geborgen fühlte, droht der Absturz ins Nichts: in die Leere, die Sinnlosigkeit, die Verzweiflung. Nun heißt es aber: das Nichts schimmert. Das kann heißen: es ist noch nicht voll im Bewusstsein, erst undeutlich sichtbar. Aber "schimmern" empfinden wir als positiv; es kann auch heißen: dieses Nichts ist eine Verlockung: vielleicht die der Todessehnsucht, vielleicht die der stolzen Freiheit von jeder Bindung. Ich denke, es ist beides gemeint. In jedem Fall bleibt die Bedrohung.
Dann das zweite Bild: eine einfache, physikalische Reaktion, die wir sicher alle kennen und noch nie beachtet haben. Durch das "doch" wird daraus eine Gegenaussage zum ersten Teil: der Kiesel, der Inbegriff des Harten und Kalten, verändert sich durch meine Hand: er wird warm. Und diese Wärme strahlt auf den Leser aus - zumindest für mich geht etwas Tröstliches von diesem eigentlich banalen Bild aus. Das kann sehr viel Verschiedenes bedeuten: den Zusammenhang zwischen allem Seienden, die Möglichkeit einer Veränderung durch eigenes Tun, die Möglichkeit, im Kleinen, Konkreten einen Sinn zu finden, der im Großen, Abstrakten immer vom Zweifel bedroht ist.
Kunze hat einmal gesagt, das Wesentliche am Gedicht sei das Weglassen. Ich denke, dieses Gedicht ist ein Beispiel dafür. Man müsste ergänzen: die Kunst liegt darin, so wegzulassen, dass der Leser das Weggelassene spürt - und es selber sucht.