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Jesus lehrte, mitmenschlich zu leben - doch die Christen entwickelten eine Lehre über Jesus. So wird es nicht bleiben.
Der Jude Jesus, der in jüdischer Weise glaubte und in der alltäglichen Welt ihre göttliche Bestimmung zur Sprache brachte, hat mit seiner Botschaft in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod nur in der palästinischen Welt überlebt. Die Dokumente, die davon zeugen, sind die Spruchquelle Q und das Thomas-Evangelium. Beide Schriften geben ausschließlich die Verkündigung Jesu weiter, kennen aber weder Wundererzählungen noch Passionsgeschichte und Osterbotschaft. Sie zeugen davon, dass in Palästina die Jesusbewegungen - ohne eigene Gemeindegründungen - das fortsetzten, was der Wanderlehrer Jesus seinerseits tat und seine Schülerinnen und Schüler zu tun lehrte.
Ganz anders die Entwicklung in den hellenistischen Städten. Hier fanden im Milieu des Diasporajudentums und des damit sympathisierenden Heidentums von Anfang an Gemeindegründungen statt. Aus ihnen ging ein Christuskult hervor, dessen zentrale Botschaft nicht mehr die Reich-Gottes-Programmatik Jesu war, sondern die Deutung des Todes Jesu und die Verkündigung seiner Auferstehung.
Während Jesus als sein Evangelium lehrte, wie in dieser Welt mitmenschlich gelebt werden kann (wenn dieses Leben ganz von Gott her verstanden wird), wurde dieser Inhalt nun ausgetauscht gegen die Botschaft von Jesus als dem Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Das zentrale Programm Jesu trat zurück hinter die Deutung seiner Person. Während Jesus keine Lehre verkündete, die zu glauben sei, sondern eine Existenzform praktizierte, die gelebt werden will, entwickelte sich im hellenistischen Milieu die metaphysische Vorstellung von einem präexistenten Gottessohn, den Gott gesandt habe, um die Menschheit durch seinen Tod am Kreuze wieder mit sich zu versöhnen. Eine Folge dieser nicht zu überschätzenden Differenz ist die in den heutigen Kirchen total gewordene Verwirrung im Verständnis dessen, was unter Evangelium zu verstehen sei.
Zugleich gewinnt in den Anfängen der mit neuem Inhalt gefüllte Begriff Evangelium einen veränderten Grundton. Paulus zum Beispiel fordert nun "Glaubensgehorsam". War Jesu Evangelium noch wirkliche Freudenbotschaft, zumal für die Bedrängten und gesellschaftlich Randständigen, so kommt nun ein drohender Unterton auf. Hinter der Hervorhebung, nur noch den Gekreuzigten und Auferstandenen kennen zu wollen, geht Jesu Reich-Gottes-Programmatik verloren. Die Reich-Gottes-Botschaft, das zentrale Programm Jesu, wird nicht mehr aufgegriffen. Paulus hat es nicht erkundet; er bezieht sich auf kein einziges Gleichnis Jesu, auch nicht auf jenen zentralen Kern, den wir unter dem Stichwort Bergpredigt kennen.
Diese Unterschlagung setzt sich in den folgenden Jahrhunderten fort: Das Apostolische Glaubensbekenntnis greift allein die Eckpunkte des Lebens Jesu auf - Geburt und Tod -, unterlässt aber jeden Hinweis auf seine spezifische Botschaft -, und niemand empfindet diese Lücke als Lücke. In den Leseordnungen des Kirchenjahres fehlte die Bergpredigt über Jahrhunderte, ebenso wie die Reich-Gottes-Thematik in der bildenden Kunst nur peripher begegnet. In der sparsamen Kritik an den Kreuzzügen war sie keine Argumentationsgrundlage. Hinter der Deutung des Todes Jesu als Sühnetod trat die Botschaft Jesu von der Liebe Gottes, die bereits Erlösungsbotschaft ist und keiner zusätzlichen Leistungen bedarf, ganz zurück.
Nun hat zweifellos die historisch-kritische Forschung der letzten Generationen den dogmatisch übermalten Christus wieder abgetragen. Damit wurden Voraussetzungen geschaffen, die schon früh erfolgte Entjesuanisierung des Christentums wieder aufzuheben. Die Folgen dieses Prozesses sind noch nicht überschaubar. Sie werden zu einer, wenn man so sagen darf, Neu-Erfindung des Christentums führen, das zu seinem verlorenen Anfang zurückkehrt. Für die bisherige Geschichte des Christentums käme dies in Lehre und Kirchenverständnis einem Traditionsbruch gleich. Doch dieses sich aus seinem jesuanischen Anfang verstehende Christentum könnte zu einer neuen Religionsform mutieren, die nicht allein die konfessionellen Differenzen überwindet, sondern auch betretbare Brücken zu anderen Religionen entwickelt und sogar eine Partnerschaft von agnostischen und atheistischen Positionen zuließe, weil - sagen wir es verkürzt - auf der Basis der Bergpredigt ein Nenner gefunden wäre, der alle verbindet, die der Menschheit ihr Überleben sichern möchten.
Hubertus Halbfas, geboren 1932, war bis 1987 Professor für katholische Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen. Er ist u. a. Autor einer Reihe von Lehrbüchern für den Religionsunterricht.
Aus: »Publik-Forum«, kritisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 6/2010, Seite 42
Vor Kurzem haben einige Äußerungen der neuen niedersächsischen Sozialministerin, der türkischstämmigen Muslimin Aygül Özkan für Aufregung gesorgt. Bereits vor ihrer Ernennung gab es bei ihrer eigenen Partei, der CDU, und erst recht bei der CSU, Irritationen, als sie die Entfernung von Kruzifixen (und Kopftüchern!) aus öffentlichen Schulen forderte.
Fast noch bemerkenswerter war eine zweite Aussage, als Frau Özkan nach einem verbalen Rückzieher schließlich doch noch als Ministerin vereidigt wurde. Sie legte nämlich ihren Amtseid unter Hinzufügung der - freiwilligen - religiösen Beteuerung "so wahr mir Gott helfe" ab, übrigens anders als vor einigen Wochen die neue Staatsrätin der baden-württembergischen Landesregierung, die Theologin Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn. Zum ersten Mal hat damit ein deutsches Kabinettsmitglied in einem deutschen Parlament Allah angerufen - und zugleich war der Name, der dabei ausgesprochen wurde, derselbe wie für den christlichen Gott (man könnte zur Abrundung hinzufügen: wie auch für den jüdischen Gott, wenn diese Attribute überhaupt einen Sinn machen sollen). Und erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab ein Minister eine persönliche Erklärung zu der religiösen Eidesformel ab. Frau Özkan ließ nämlich folgende Mitteilung verbreiten: »Als gläubige Muslimin berufe ich mich ausdrücklich auf den einen und einzigen Gott, der den drei monotheistischen Religionen bei allen Unterschieden in den dogmatischen Lehren gemeinsam ist.« Schlagartig wurde damit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die bisher eher akademische Frage gelenkt, von welchem Gottesbegriff das Grundgesetz eigentlich ausgeht. Kritisch reagierten noch am selben Tag die Sprecher der Hannoverschen Landeskirche und des Bistums Essen, indem sie anmerkten, dass sich die Gottesbilder von Muslimen, Juden und Christen durchaus unterschieden. Tags darauf aber korrigierten ranghohe Vertreter beider großer Kirchen den Eindruck, man habe etwas gegen einen Amtseid auf Gott. Der Hamburger Weihbischof Jaschke, in der Deutschen Bischofskonferenz für den interreligiösen Dialog zuständig, sagte der WELT: »Muslime und Christen sind im Glauben an den einen Gott verbunden. Dass Aygül Özkan bei ihrer Vereidigung die Gottesformel gesprochen hat, ist ein richtiges Signal. Es ist ein richtiges Beispiel für die Integration gläubiger Muslime. Muslime geben ihren Glauben nicht auf und übernehmen als religiöse Menschen Verantwortung in unserer Gesellschaft.« Ähnlich äußerte sich für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) der Präsident des Kirchenamtes, Hermann Barth, der einerseits betonte, die Präambel des Grundgesetzes, wo von der "Verantwortung vor Gott und den Menschen" gesprochen werde, beziehe sich nicht exklusiv auf die christliche Glaubensüberzeugung vom dreieinigen Gott. Andererseits übte aber auch er vorsichtige Kritik an dem von Özkan suggerierten Eindruck, Muslime und Christen würden den selben Gott anbeten, indem er ergänzte, dass sich das jeweilige Gottesbild und vor allem das Verständnis von Jesus Christus doch erheblich unterschieden.
Unterhalb der offiziellen Verlautbarungen zu der Eidesformel der neuen niedersächsischen Ministerin tobt mittlerweile ein heftiger Meinungsstreit in Leserbriefspalten und den einschlägigen Internetforen, in dem das jeweilige Gottesbild hinterfragt wird und in dem insbesondere christliche Eiferer das Dogma von der Heiligen Dreifaltigkeit hochhalten und dem Islam eine latente Gewaltorientierung unterstellen. Nicht nur das: Debattenbeiträge, die an die Ringparabel aus »Nathan der Weise« erinnern, werden als "Toleranzgeschwafel" abgetan. Bei aller Turbulenz ist die Debatte richtig und überfällig, denn sie zeigt, dass auch in unserer Gesellschaft ein aufrichtiges öffentliches Nachdenken über das Gottesbild und über den Begriff "Gott" dringend notwendig ist, der ansonsten oft nur alibihaft oder symbolisch, jedenfalls viel zu leichtfertig beschworen wird. Ein Kommentar in der FAZ bemerkte zutreffend, wenn bei der Eidesformel im Grundgesetz statt des schlichten Wortes "Gott" das Wort "Gottvater" stünde, so hätte es schon viel früher die Frage gegeben, ob alle deutschen Staatsbürger den vollen Amtseid leisten könnten. Nun habe ausgerechnet eine Muslimin die Tauglichkeit des Grundgesetzes für eine veränderte Welt bestätigt. Nebenbei habe sie auch die merkwürdige Debatte um den Gottesbezug in einer Europäischen Verfassung bloßgestellt, der seinerzeit mit der Begründung, er grenze aus, abgelehnt wurde. Allerdings setze die Berufung auf Gott auch ein Nachdenken über Gott voraus. Wie wahr.
Die Bezugnahme auf Gott erfolgt außer in der religiösen Bekräftigung der Eidesformel nach Artikel 56 ausdrücklich auch in der Präambel des Grundgesetzes (»Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ... hat sich das Deutsche Volk ... dieses Grundgesetz gegeben«). Ohne das komplexe Staatskirchenrecht an dieser Stelle ausbreiten zu können, sei daran erinnert, dass weder die Paulskirchenverfassung von 1849 noch die Reichsverfassungen von 1871 und 1919 einen derartigen "Gottesbezug" kannten, wie er in der Wendung "Verantwortung vor Gott" zum Ausdruck kommt. Die Ansichten über seine Bedeutung und Auslegung gehen weit auseinander. Steht er für eine christliche Verankerung unserer Verfassung oder ist dies in einem pluralistischen Gemeinwesen in Anbetracht der verfassungsrechtlich gebotenen weltanschaulichen Neutralität des Staats unangebracht? Der Grundgesetzkommentator Horst Dreier hält die Präambel lediglich für eine Art "Demutsformel", mit der »die Weltlichkeit und damit die Immanenz, vor allem die Endlichkeit und Fehlbarkeit auch einer demokratischen Verfassungsordnung« betont werden sollte. So rufe der Gottesbezug vor allem die »Begrenztheit der positiven Verfassungsgebung wie die Relativität aller staatlichen Macht in Erinnerung, ohne sich an bestimmte Inhalte überpositiver, metaphysischer, natur- oder vernunftrechtlicher Lehren zu binden oder von deren Nimbus zehren zu wollen«. Zusammenfassend folgert er: »Der Staat des Grundgesetzes darf, kann und will aber nicht (wieder) christlicher Staat sein und sich als ein solcher begreifen«. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang vor allem das oberste Grundrecht schlechthin, die Menschenwürde: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« (Art. 1 Abs. 1 GG). Horst Dreier verneint, dass die Menschenwürde von der in der Bibel konstituierten "Gottesebenbildlichkeit des Menschen" abgeleitet und ein "unmittelbares Derivat des Christentums" (so aber der Verfassungsrechtler Josef Isensee) sei. Er hält sich eher an Kant: »Nicht in der teleologisch gedeuteten Natur, nicht im Willen Gottes, weder im moralischen Gefühl noch im reinen Glücksstreben, sondern allein in der Selbstgesetzgebung des autonomen Willens ist nach Kant die Sittlichkeit und damit die Würde des Menschen verankert«. Die Frage nach der christlichen Fundierung wird von ihm damit ausgeklammert. Beruht aber nicht unsere gesamte Verfassungs- und Rechtsordnung auf einem Wertesystem, das im Laufe seiner langen Entwicklung ganz entscheidend vom christlichen Glauben geprägt wurde?
Ein Blick in die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zeigt, dass die Autoren vor allem Lehren aus der Weimarer Zeit und der formal "legalen" Machtergreifung der Nationalsozialisten ziehen und auf ein "gottloses" totalitäres System reagieren wollten. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee (August 1947) formulierte noch keinen klaren Gottesbezug, dies geschah erst anschließend im Parlamentarischen Rat durch den Ausschuss für Grundsatzfragen. Ein Abgeordneter der CDU schlug vor, in der Präambel dem ganzen Grundgesetz eine »geistige Ausrichtung, diese letzten Endes sittliche, ethische Qualifikation [zu] geben«. Die nach einigen Diskussionen gefundene heutige Formulierung fand schließlich eine breite Mehrheit. Dabei sah der Parlamentarische Rat in der Aufnahme eines solchen Gottesbezugs in die Präambel - wie ein Kommentator meinte - »weder eine religiöse oder weltanschauliche Bevormundung, eine Verletzung des Prinzips der Trennung von Staat und Kirche noch eine Beeinträchtigung der Freiheitsgarantie für Nichtgläubige oder einen Gegensatz zu der in Artikel 4 des Grundgesetzes gewährleisteten Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit. Das Bewusstsein, dass die Grundrechte einer metaphysischen Verankerung bedurften, war nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Zeit bei den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates besonders stark ausgeprägt...«. Herkunft und Verankerung der Väter und Mütter des Grundgesetzes im abendländisch-christlichen Denken lassen m. E. keinen Zweifel, dass sie mit der Präambel auf den christlichen Gott und nicht etwa generell auf ein höheres Wesen Bezug nehmen wollten. Dies zeigen auch Vergleiche mit anderen in dieser Zeit entstandenen deutschen Länderverfassungen; so erwähnt etwa Artikel 1 Absatz 1 der Verfassung des neuen Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953 ausdrücklich das "christliche Sittengesetz". Ausdrückliche Bezugnahmen auf christliche Wurzeln sind insbesondere in den verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu Bildung und Erziehung zu finden. Auf einem anderen Blatt steht, inwieweit diese Prägung heute noch zu gelten hat.
Die zwischenzeitlich fast in Vergessenheit geratene Bezugnahme der Verfassungen auf Gott erlebte Anfang der neunziger Jahre eine spannende Renaissance, als in den neuen Bundesländern neue Verfassungen mit einer dem Grundgesetz entsprechenden Präambel geschaffen wurden. Auch in Niedersachsen wurde die Verfassung 1994 - übrigens aufgrund einer von den christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinde unterstützten Volksinitiative - entsprechend ergänzt; aufschlussreich war die dabei geführte niveauvolle Debatte im Landtag, die eine gewisse Bandbreite des Gottesbegriffs erkennen ließ: Sollte der Gott der Christen, der Juden oder überhaupt Gott als "höchstes Wesen" gemeint sein, dem alle mehr oder weniger etwas abgewinnen könnten, auch solche, die dem christlichen Glauben fernstehen? Gerade die letztgenannte Variante wurde in der Debatte von manchen Rednern als fragwürdig angesehen, weil sie eigentlich nur noch eine "Leerformel" darstelle, die in ihrer Breite nicht mehr mit konkretem Inhalt gefüllt werden könne.
In einem Interview vom Juni 2009 bestätigte Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio, dass die Verfasser des Grundgesetzes die neugewonnene staatliche Souveränität nach den historischen Erfahrungen in dem großen Erbe des Humanismus und des jüdischen, christlichen Gottesglaubens sittlich eingebettet sehen wollten. Er ergänzte aber: »Welcher Gott jedoch damit gemeint ist, darüber sagt die Präambel nichts. Das kann der Gott des Gläubigen sein und ich glaube sogar, das kann der Gott des Atheisten sein. Denn auch für den Atheisten wird damit nichts anderes gesagt, als dass es eine andere Dimension der Einsicht geben kann, die nicht im praktischen oder theoretischen Diskurs betretbar ist. Es geht also um die Möglichkeit von Transzendenz, die man auch einräumen kann, wenn man nicht an Gott glaubt.«
Die Diskussion um die Eidesformel einer muslimischen Ministerin hat deutlich gemacht, dass das deutsche Staatskirchenrecht einer Weiterentwicklung bedarf. Es sollte sich zu einem übergreifenden Staats-Religionen-Recht weiterentwickeln, das nicht nur die etablierten christlichen Kirchen, sondern auch andere religiöse Gruppierungen, insbesondere Muslime, in den Blick nimmt, aber auch die wachsende Zahl der Konfessionslosen berücksichtigt. Grundlage hierfür könnte und sollte eine ernsthafte Debatte um das Gottesbild des Grundgesetzes sein.
Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden... So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten...(aus Römer 14, 10-13).
Der Apostel Paulus schrieb diese Zeilen vermutlich im Jahr 56 n. Chr. von Korinth aus an die junge Christengemeinde in Rom, der Hauptstadt des römischen Weltreiches. Anlass waren erhebliche Spannungen zwischen der heidenchristlichen Mehrheit und der judenchristlichen Minderheit in den Hausgemeinden wegen unterschiedlicher Auffassungen über rituelle jüdische Opfer- und Speisevorschriften, also über den "richtigen" christlichen Lebensstil.
Paulus mahnt nun, Streit zu vermeiden und die gegenseitigen Standpunkte zu respektieren; für ihn haben die Speise- oder Sabbatgebote offenkundig keinen Bekenntnischarakter. Er weiß auch, wie zerbrechlich die jungen Gemeinden wegen der unterschiedlichen Herkunft ihrer Mitglieder sind. Bei allen Vorbehalten, die man sonst gegen Paulus haben kann: Sein Appell zu Toleranz und Liebe untereinander ist echt jesuanisch, so wenn er in Vers 22 sagt: Den Glauben, den du hast, behalte bei dir selbst vor Gott. Selig ist, der sich selbst nicht zu verurteilen braucht, wenn er sich prüft. Die Frage, wer in Glaubensdingen Recht hat, entscheidet sich danach im Verhältnis des Einzelnen zu Gott. Nicht die private Überzeugung, sondern die Verantwortung vor Gott ist das Entscheidende. Darum - so Paulus - sei es auch nicht Aufgabe des Einzelnen, den andern zu richten und zu verurteilen. Und so ähnlich sagt es auch Jesus: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!« (Matth. 7, 1).
Sollen mit dem Appell, über andere nicht zu richten, nun Maßstäbe für die Gesellschaft gesetzt werden? Wie weit reicht das Toleranzgebot? Ich denke, die konkrete geschichtliche Situation ließ Paulus keine andere Wahl, wollte er nicht ein Zerbrechen der jungen Gemeinden riskieren. Die Toleranzregeln einer freiwillig zustandegekommenen Gemeinschaft lassen sich aber nicht gleichsetzen mit dem Regelwerk einer modernen Gesellschaft, in der es permanent um Vergleichen und Bewerten, aber auch um Verurteilen geht (z.B. bei Straftätern). Paulus ging es um das innere Gemeindeleben und vor allem um Glaubensfragen. Er wollte den Gemeindemitgliedern deutlich machen, dass sie sich gegenseitig nicht abqualifizieren sollen, darauf konnte man eine Gemeinschaft nicht aufbauen. In dieser Hinsicht gilt der Appell des Paulus auch für eine moderne Gesellschaft: Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansichten muss die Würde und persönliche Glaubensüberzeugung des anderen gewahrt bleiben.
»Tiefseemuschel«
Bewundernd musterst du, was Leben
aus Kalk und ohne Vorbild schafft.
Was steckt dahinter? Welches Streben?
Das ist die Hülle: Wo die Kraft?
Beliebt: solch Ding ans Ohr zu halten.
Man hört nur Rauschen.
Doch du bist bereit,
beim Lauschen eine Ahnung zu entfalten:
so und nicht anders klänge Ewigkeit.
Günther Kunert, Schriftsteller, geb. 1929, lebte in Ostberlin, 1979 Ausreise, lebt in Itzehoe.
Ich liebe dieses Gedicht, weil es in wenigen einfachen Worten etwas Komplexes, Vielschichtiges, Ambivalentes aussagt, das mich berührt.
Es ist "nur" von einer Muschel die Rede, in der 2. Strophe wird deutlich, dass es um eine der größeren, hornartig gewundenen geht, die nach außen unregelmäßige weiße Stacheln oder Warzen strecken, nach innen in rosa-silbrigem Perlmutt seidig schimmern. Das wird nicht beschrieben, und doch sieht man, wenn man das Gedicht einmal gelesen hat, die Muschel vor sich.
»Bewundernd musterst du« - das ist ein nüchterner, normaler Vorgang; schließlich ist eine solche Muschel ein interessantes Gebilde. Mit dem folgenden Halbsatz geschieht ein Umbruch in eine andere Dimension: »was Leben aus Kalk und ohne Vorbild schafft«. "Aus Kalk" - das ist noch einmal die konkrete, rationale Welt der Materie; "was Leben ... ohne Vorbild schafft" - nun ist, bzw. war die Muschel etwas Lebendiges, Geheimnisvolles. Woher weiß sie, wie sie sich entwickeln, aufbauen soll?
»Was steckt dahinter? Welches Streben? Das ist die Hülle: Wo die Kraft?« Plötzlich ist die Muschel ein Sinnbild nicht nur für das Geheimnis des Lebens, sondern für die Fülle, die Vielfalt, die Schönheit der Natur.
Die zweite Strophe beginnt wieder mit etwas Banalem, in dem für mich ein bisschen Ironie mitschwingt: »Beliebt: solch Ding ans Ohr zu halten.« Was soll das? Touristenmode.
»Man hört nur Rauschen.« Das ist immerhin erstaunlich. Warum tönt aus einer toten Muschel ein Rauschen? Sicher gibt es eine physikalische Erklärung, aber die ist hier nicht gefragt. Denn nun erfolgt, wie in der ersten Strophe, der Umschlag in eine andere Dimension. Das zeigt sich schon in der sprachlichen Form: die erste Zeile hat gar kein Subjekt, sie benennt einen Zustand. Der folgende Satz hat eines: das unpersönliche "man". Aber dann heißt es "du bist bereit". Dieses du kann unpersönlich sein, gleichbedeutend mit man; wie im Englischen ein angehängtes "you know" für etwas, was eigentlich alle wissen. Es kann aber auch persönliche Anrede sein. Und an dieser Stelle ist ein persönlich angesprochenes "du" eigentlich identisch mit dem Ich des Autors; denn das, was folgt, kann er eigentlich nur für sich selbst sagen. So steht das einfache Wörtchen "du" hier für seine beiden Bedeutungen zugleich: der Autor spricht für sich, aber gleichzeitig spricht er für die anderen, oder viele andere mit. »Man hört nur Rauschen. Doch du bist bereit, beim Lauschen eine Ahnung zu entfalten: so und nicht anders klänge Ewigkeit.«
Diese drei Zeilen sind für mein Empfinden ein sprachliches Meisterwerk. In höchster Gedrängtheit, die noch verstärkt wird durch den auffälligen Binnenreim Rauschen/Lauschen, drücken sie ein sehr komplexes Empfinden aus, das wohl charakteristisch ist für viele heutige Menschen.
»so und nicht anders klänge Ewigkeit.« "klänge" ist Konjunktiv irrealis, der etwas bezeichnet, was nicht real ist. "Wenn wir alle Engel wären" - wir wissen alle, dass wir es nicht sind, und so bleibt auch jede mögliche Folgerung daraus, z.B. "dann wäre die Erde ein Paradies" eindeutig irreal, ein Gedankenspiel. Hier fehlt eine solche Bedingung. Man könnte ergänzen: so klänge Ewigkeit, wenn es sie gäbe - dann wäre indirekt ausgesagt, dass es eine Ewigkeit nicht gibt. Das Fehlen der Bedingung hält diese Aussage in der Schwebe: die Ewigkeit ist keine Realität, die wir erkennen und begreifen könnten, aber sie bleibt eine Möglichkeit. Der Autor sagt: "eine Ahnung". Eine Ahnung, die beim Lauschen entstehen und sich entfalten kann. Aber sie kann das nur, wenn wir bereit sind, uns auf das Rauschen, auf den Klang der Ewigkeit, einzulassen. Dann tragen wir dazu bei, die Ahnung zu entfalten - nicht zu einer Gewissheit, aber zu einer Hoffnung.
Diesen Zustand in der Schwebe zwischen Nichtglauben, Ahnen und Hoffen meint der Autor. Er lässt ihn in der Schwebe. Aber durch die Kunst seines Beschreibens bringt er es fertig, etwas davon auch im Leser entstehen zu lassen - ein Lauschen auf den Klang der Ewigkeit.