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Vor einigen Wochen lud ein Verein »Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche« zu einer internationalen Wochenendtagung in Berlin, in die Kirche, in der 1983 das erste Kirchenasyl in Deutschland gewährt worden war. Es kamen etwa 60 Teilnehmer aus 6 Ländern Europas, den USA und Kanada. Sie verabschiedeten eine Charta, in der sie sich verpflichteten, gegebenenfalls Flüchtlinge in ihren Gemeinden aufzunehmen, und zugleich gegen die Flüchtlingspolitik ihrer (und anderer) Staaten zu protestieren.
Angesichts dieser geringen Zahl - die Anwesenden konnten ja nur für ihre Gemeinden sprechen, nicht für ihre Staaten oder Kirchen - scheint das ein unbedeutendes Ereignis gewesen zu sein. Aber es wirft ein Schlaglicht auf ein dorniges Problem, mit dem die wohlhabenden Industriestaaten konfrontiert sind und wohl noch lange sein werden, eines, das uns unweigerlich in Konflikt mit unserem Bekenntnis zu christlichen Werten bringt.
Seit den 80er Jahren nimmt der Strom der Flüchtlinge, die nach Europa drängen und hier Asyl beantragen, kontinuierlich zu. Anfang der 90 Jahre waren es eine knappe halbe Million pro Jahr. Wie sollte, wie wollte man mit ihnen umgehen?
Man wollte diese Menschen nicht; zumindest ab dann nicht mehr, als deutlich wurde, wie viele es waren und dass es immer mehr werden würden, umso mehr, je leichter man ihnen den Zugang machte. Also suchte man diesen zu erschweren. Das gilt inzwischen für alle europäischen Staaten: diejenigen, die zunächst liberalere Einreisebestimmungen hatten, zogen nach, als sie verstärkt zu Fluchtzielen wurden.
Alle Regierungen hatten und haben Angst, dass sie die meisten dieser Flüchtlinge per Sozialhilfe würden ernähren müssen, und mehr noch davor, dass der weitverbreitete Bodensatz an Vorurteilen gegen alles Fremde als Fremdenhass hochkochen könnte. (Die breite Zustimmung zu Sarrazins primitiven und falschen Thesen - ein »jüdisches Gen«, mangelnde Intelligenz von Muslimen - bietet ein trauriges Beispiel.)
Am Beispiel Deutschland: Im Grundgesetz heißt es lapidar: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Es steht im Grundrechte-Katalog, dem Teil der Verfassung, der unabänderlich gilt, auch von einer demokratischen Mehrheit nicht abgeschafft werden kann. Es will auch niemand in Deutschland dieses Asylrecht abschaffen. Aber als politisch verfolgt gilt nur, wer vom Staat verfolgt wird, aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen. Ob das auf den jeweils Asyl Suchenden zutrifft, muss von einem Gericht geprüft werden - von Richtern, die die Sprache des Betreffenden nicht verstehen, die Verhältnisse im Land nicht oder nur oberflächlich kennen. Und bis dahin kann es Monate, zum Teil Jahre dauern, in denen die Menschen nicht arbeiten und die Auffanglager nur mit Genehmigung kurz verlassen dürfen, und am Ende werden etwa 90 Prozent der Asylanträge abgelehnt, legal nach dem Gesetz, aber auch bestimmt durch die allgemeine Tendenz zur Abschreckung.
Gesetze sind auslegbar, und dies bot viele Ansatzpunkte, z.B.: Gruppen, die zwar nicht vom Staat verfolgt, aber von der Gesellschaft verachtet, ausgegrenzt, bedroht werden bis hin zu Morddrohungen und Gewalt (Sinti und Roma im Kosovo u.a.); oder: die Iranerin, die wegen Ehebruchs gesteinigt werden soll, auf Grund eines für alle gültigen Gesetzes - ist das politische Verfolgung? Wessen Asylantrag abgelehnt war, der musste Deutschland verlassen, gegebenenfalls per Abschiebung.
Hier kam das Kirchenasyl ins Spiel. Einige der Flüchtlinge hatten (wohl durch Gottesdienste in den Lagern) Kontakte zu Pfarrern und Gemeinden, und manche von ihnen boten Hilfe an, wenn sie zu der Überzeugung kamen, dass das Urteil zu Unrecht ergangen sei: sie brachten die Flüchtlinge in den Kirchen unter und bemühten sich gleichzeitig um eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Dazu gehörte viel Einsatzbereitschaft: die Gemeinden mussten die Flüchtlinge betreuen und versorgen, denn die durften die Kirche ja nicht verlassen. Und es gehörte noch mehr Mut dazu, denn ihr Verhalten war ein klarer Rechtsbruch. Sie hätten alle vor Gericht landen können. Das ist zum Teil wohl auch geschehen, aber meines Wissens nicht mit schwerwiegenden Folgen.
Denn mit der Zeit zeigte sich, dass der Staat dieses Kirchenasyl akzeptierte, das in keinem Gesetz steht. Es ist eine uralte Tradition in vielen Religionen: dass ein heiliger Ort (Gebetsplatz, Tempel, Kirche) nicht durch Gewalt geschändet werden darf. In Judentum und Christentum, geht es auf das Alte Testament zurück. Dort wird noch ein anderes Motiv deutlich. Es sollte helfen, die Blutrache einzudämmen. Es galt nicht für vorsätzlichen Mord, sondern für die, die spontan im Zorn Gewalt (bis hin zum Totschlag) verübt hatten. Und es war zeitlich begrenzt. Diese Zeit sollte ermöglichen, dass die Emotionen abkühlten und eine Lösung - durch Zahlung einer Entschädigung - gefunden und von allen akzeptiert werden konnte.
Und diesem Ziel soll auch das moderne Kirchenasyl dienen: Zeit zu gewinnen, natürlich nicht für eine Entschädigung, sondern für eine gerechte Entscheidung. Und das wurde in erstaunlichem Maß erreicht: etwa 80 Prozent der Asyl-Initiativen waren erfolgreich: die Fälle wurden noch einmal überprüft, die Flüchtlinge erhielten Asyl. Die Gründe kennen wir nicht. Fast immer berichteten zumindest die regionalen Medien über diese Fälle. Vielleicht führte das zu mehr Liberalität oder mehr Gewissenhaftigkeit der Richter.
Heute gibt es keine Berichte mehr über Kirchenasyl. Und das hat einen schlimmen Grund. Inzwischen hat die EU eine effektivere Methode gefunden, sich gegen den Flüchtlingsstrom abzuschotten: Als in den 90er Jahren die Grenzkontrollen zwischen EU-Staaten aufgehoben wurden, wurde bestimmt, dass Flüchtlinge ihren Asylantrag in dem Land stellen müssen, in dem sie zuerst EU-Boden betreten. Werden sie in einem anderen Land aufgegriffen, werden sie in dieses »sichere Drittland« zurückgeschickt.
Dieses ist zwar theoretisch ebenso an die europäischen Regeln – Prüfung der Asylanträge - gebunden, aber ob es sich daran hält, kontrolliert niemand. Damit haben sich die mittel- und nordeuropäischen Staaten das Problem vom Halse geschafft, auf Kosten der südlichen Mittelmeer-Anrainer, vor allem Italiens. An dessen langen, teils unwegsamen Küsten konnten die Flüchtlinge unbemerkt abgesetzt werden in der Hoffnung, sich illegal durchschlagen zu können.
Das funktionierte nicht, fast alle werden aufgegriffen und in stacheldrahtbewehrte Auffanglager gebracht, in denen durch die Überfüllung die Lebensbedingungen menschenunwürdig sind. Als das europaweit bekannt wurde, baute die EU eine besser ausgerüstete Grenzschutztruppe namens Frontex auf, die es inzwischen wohl schafft, die Engstellen des Mittelmeers (vor Gibraltar und Sizilien) so zu kontrollieren, dass nur noch wenige Boote durchkommen und dieser Fluchtweg für die Schleuser unattraktiv geworden ist.
Das ist einerseits ein Segen. Es wird geschätzt, dass bei der Mittelmeerüberquerung etwa die Hälfte der Flüchtlinge umkamen (genaue Zahlen gibt es naturgemäß nicht), weil die meist seeuntüchtigen, überfüllten Schleuserboote kenterten oder tagelang im Meer trieben, ohne Wasser und Proviant.
Der Flüchtlingsstrom, vor allem aus Afrika und Nahost, riss deshalb nicht ab. Er suchte sich – genauer: die Schleuser suchten - einen anderen Weg: zu Land, und damit an die (fast) einzige Stelle, wo die EU für die Flüchtlinge erreichbar ist: die 200 Kilometer lange Grenze zwischen dem europäischen Teil der Türkei und Griechenland. Dort kommen nun geschätzte 30.000 pro Monat illegal über die Grenze - und werden umgehend in stacheldrahtbewehrte Flüchtlingslager gesperrt, die so überfüllt sind, dass die Menschen schichtweise auf dem Boden schlafen, zwischen Dreck und Ratten, weil es keine Kanalisation gibt; ohne ausreichende Ernährung und medizinische Versorgung; und es wird berichtet, dass ihre Asylanträge ungelesen im Papierkorb landen.
Das ist eine Schande, weniger für Griechenland als für die EU. Griechenland schrammt seit Wochen am Staatsbankrott entlang und mutet seiner Bevölkerung harte Einschnitte zu - es kann keine größeren Summen für unwillkommene Flüchtlinge aufbringen. Die EU könnte und müsste helfen, nicht nur, wie geschehen, mit einer Frontex-Einheit (die es wohl inzwischen schafft, den Zustrom etwas einzudämmen), sondern indem sie Griechenland einen Großteil der Flüchtlinge abnimmt und sie proportional auf alle Mitgliedstaaten verteilt. Aber einem solchen Beschluss müssten alle 27 Regierungen zustimmen, und das ist wohl ausgeschlossen.
Das ist die europäische Flüchtlingspolitik, die die Vertreter der Asyl-Initiativen so scharf verurteilen. Zu Recht - das, was da geschieht, ist unerträglich. Nur, wie kann man es ändern?
Daran, dass Hunderttausende in die Festung Europa drängen, wird sich in naher Zukunft nicht viel ändern. Die meisten von ihnen sind Elendsflüchtlinge, sie kommen, weil sie sich und ihre Familien nicht ernähren können und keine Hoffnung sehen, wie sich daran etwas ändern könnte. Dass sie weiterhin kommen, obwohl die Risiken inzwischen bekannt sind, zeigt, wie verzweifelt sie sind.
Vom christlichen Standpunkt aus müssten wir sie alle aufnehmen - sie sind die Mühseligen und Beladenen, auf deren Unterstützung uns Jesus verpflichtet hat. Aber wenn wir das täten, hätten wir wahrscheinlich bald bürgerkriegsähnliche Zustände, und damit würde nichts besser. Das ist unbarmherzig. Aber wir müssen akzeptieren, dass wir nicht von jetzt auf gleich die Not in der Welt abschaffen können. Vielleicht sollte man das offen sagen, auch z.B. in Afrika, um wenigstens einige von diesem hoffnungslosen Weg abzuhalten.
Manches dagegen könnten wir durchaus tun. Am Beispiel der Flüchtlingslager: ein gemeinsamer Beschluss der EU ist wohl unerreichbar. Aber ein einzelnes Land, z.B. Deutschland, könnte sich sehr wohl bereit erklären, einige Tausend Flüchtlinge pro Jahr aufzunehmen. Das wäre problemlos zu verkraften, und vielleicht würden einige andere Länder dem Beispiel folgen. Aber ich habe noch nie gehört, dass jemand das vorgeschlagen hätte.
Oder: zwei oder drei französische Priester haben begonnen, an den Plätzen, wo die Fluchtwilligen oft monatelang darauf warten, von Schleusern mitgenommen zu werden, eine Ausbildung zu einem einfachen Handwerk und einfache Geräte dazu anzubieten (finanziert aus Spenden), mit denen die Leute sich im Land eine Existenz aufbauen können - offenbar mit Erfolg.
Das ist ein Tropfen auf einen heißen Stein. Aber vielleicht sind es gerade diese kleinen Tropfen, die auf lange Sicht etwas verändern können: mit persönlichem Einsatz an einer Stelle etwas zum Besseren wenden und darauf vertrauen, dass es weiterwirkt. Auch die Organisation von Minikrediten war zunächst nur ein solcher Tropfen. Heute wird das Prinzip an vielen Stellen in der Welt praktiziert und hat für viele Menschen das Leben besser gemacht, nicht nur materiell, auch darüber hinaus: es hat Gemeinschaften entstehen lassen und Hoffnung geweckt.
Auch die Kirchenasyl-Bewegung war und ist ein solcher Tropfen. Sie konnte und kann immer nur für wenige Familien ein Zeichen der Barmherzigkeit setzen. Aber sie hat ein wenig dazu beigetragen, die Einstellung von Staat, Kirchen und Gesellschaft ein wenig zu verändern. Dass sie heute eine öffentliche Tagung abhalten und international dazu einladen kann, ist ein kleiner Beweis.
Wir können nicht alle nach Afrika gehen und Brunnen graben. Aber es gibt inzwischen viele Hilfsorganisationen, die nach diesem Prinzip des kleinen Tropfens arbeiten. Wir können sie unterstützen, durch Mitarbeit oder Spenden.
Im Übrigen: das ist genau das, was Jesus uns vorgelebt hat. Auch er konnte nicht die Not abschaffen, strebte es wohl auch gar nicht an. Aber er hat, wo immer er konnte, geholfen, seelisch und leiblich. Und er hat, auf lange Sicht, viel damit bewirkt.
Dieser Sinnspruch hat mich unmittelbar angesprochen, als ich ihn zum ersten Mal las. Er bietet sicher in verschiedenerlei Hinsicht Anlass zum Nachdenken. Vordergründig will er uns bewusst machen, wie vieles es gibt, für das wir bei einigem Nachdenken dankbar sein dürfen. Sicher, wir sind wahrscheinlich noch dankbarer für das, was uns unmittelbar begegnet und Freude macht, für das, was uns - auch ohne langes Nachdenken - schön und gelungen erscheint. Dankbarkeit empfinden wir wohl immer dann besonders, wenn wir spüren, dass wir nichts dazu beigetragen haben und es quasi überraschend oder unverdient, ohne unser Zutun erhalten haben und genießen dürfen. So wie die Früchte des Feldes und die Gaben der Natur. Wir können uns an den Formen und Farben und an ihrer Vielfalt begeistern, weil wir wissen oder zumindest spüren, dass wir selber das nicht bewerkstelligen könnten und dass in der Natur eine Kraft am Werke ist, die wir nur ansatzweise begreifen und nachvollziehen können, so sehr wir uns auch bemühen.
Das ist mir bei der diesjährigen Jahrestagung des Bundes für Freies Christentum, dem die Tempelgesellschaft korporativ angehört, wieder bewusst geworden. Die Tagung stand unter dem Motto: »Gott im Werden der Welt«; dahinter stand die Fragestellung, wie wir angesichts der aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse noch von Gott reden können, wo also gewissermaßen Gott noch Platz haben soll in unserer scheinbar weithin erforschten Welt. Vorgeführt wurden aktuelle Erkenntnisse, die einerseits immer weiter in das Weltall hinaus bis zu dessen Ursprung führen (Kosmologie), andererseits aber auch hinein in den unvorstellbar kleinen Bereich des Mikrokosmos unseres Gehirns (Hirnforschung). Es ist schon faszinierend sich bewusst zu machen, welche bislang einzigartige Konstellation unsere Erde aufweist, die sich quasi in einer klimatischen Komfortzone rund um die Sonne bewegt: Gerade in einem idealen Sicherheitsabstand, so dass die Erde weder nur aus Wüste noch nur aus Gletschern bestehen konnte, dass eine Atmosphäre zum Atmen und zur Entstehung von Lebewesen entstehen konnte. Ob es außerhalb unseres Sonnensystems und unserer Galaxie (die selbst rund 200 Milliarden Sterne aufweist), in einer der bis jetzt abschätzbaren rund 100 Milliarden anderen Galaxien, intelligentes Leben gibt, wissen wir nicht. Und man mag auch einwenden, wenn es der Zufall nicht so gefügt hätte, wären wir jetzt gar nicht in der Lage darüber nachzudenken. Mir fällt es jedenfalls schwer, angesichts der scheinbaren Einzigartigkeit der kosmologischen Bedingungen der Entstehung unserer Erde an Zufall zu glauben.
Und auch die Erkenntnisse der Hirnforschung beinhalten ein fast unvorstellbares Zahlenwerk: Unser Gehirn verfügt über rund 100 Milliarden Nervenzellen, die durch etwa 100 Billionen Synapsen eng miteinander verbunden sind. Durchschnittlich ist eine Nervenzelle also mit 1.000 anderen Nervenzellen verbunden. Die Forschung macht zwar Riesenfortschritte, aber es ist doch immer wieder erstaunlich, wenn nicht sogar beruhigend, wenn man selbst von renommierten Forschern hört, dass jede neue Entdeckung zehn neue Fragen aufwirft und das Staunen umso größer wird, je tiefer man vordringt. Denn selbst wenn man Gehirnströme messen und Reaktionen lokalisieren kann, so weiß man doch nicht, noch nicht, welche Gedanken sich gerade abspielen. Wer die Wunder dieser Welt, im Kleinen wie im Großen betrachtet, kann aus meiner Sicht nicht anders als dankbar zu sein.
Wir können das Sprichwort »Wer denkt, der dankt« aber auch zum Anlass nehmen, uns immer wieder bewusst zu machen, wie gedankenlos wir die Gaben der Natur in Anspruch nehmen und wie wenig verantwortungsbewusst wir zumeist damit umgehen. Denn das Nachdenken über den Entstehungsprozess der Welt, so wie sie ist und wie sie uns umgibt, muss eigentlich unweigerlich über das Staunen hinaus zur Einsicht führen, dass wir eine ungeheure Verantwortung für das haben, was uns wie ein unverdientes Geschenk in den Schoß fällt und was wir oft wie selbstverständlich gebrauchen, verbrauchen und verschwenden. Nun ist natürlich klar, dass der Mensch diese Welt vielfältig selbst gestaltet und verändert hat und dass uns die Natur in der Regel nur als Ergebnis eines sehr langen Gestaltungsprozesses, als von Menschenhand gestalteter Kulturraum begegnet. Dennoch bleibt der Auftrag an uns, unsere Dankbarkeit gegenüber der Schöpfung in Verantwortung umzupolen und unsererseits eine Gegenleistung für das große Geschenk der Schöpfung und für die Gaben der Natur abzuliefern, eben in Form eines rücksichtsvollen, gerechten und liebevollen Umgangs damit. Das gilt aber auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen. Auch hier wäre oft etwas mehr Dankbarkeit angebracht, die von Herzen kommt, statt den Dank nur floskelhaft zu gebrauchen.
In Abwandlung des eingangs genannten Sinnspruchs könnte man in Bezug auf die Tempelgesellschaft und deren religiöse Ausrichtung ergänzen: Danke, dass wir denken dürfen. Ich habe gelegentlich den Eindruck, dass viele Mitglieder der Tempelgesellschaft gar nicht wissen, welchen Freiraum des religiösen Denkens sie genießen dürfen, was das wert ist und wie dankbar sie dafür eigentlich sein dürfen. Bei den einen mag das daran liegen, dass sie es nicht anders kennen. Wer die Unterschiede im Vergleich zu den großen Volkskirchen kennt, wird den Freiheitsgewinn natürlich anders empfinden als derjenige, der außer der Tempelgesellschaft nie eine andere religiöse Heimat hatte. Bei der Mehrheit der Mitglieder dürfte es aber wohl eher mit einem Desinteresse an theologischen Fragestellungen zu tun haben. Damit befinden sie sich ja auch in einer guten Tradition, denn auch Christoph Hoffmann hat bekanntlich das praktische Christentum propagiert und von der Theologie selbst nicht allzu viel gehalten. Dennoch meine ich, müssen wir uns auch die Bedeutung der von der Tempelgesellschaft vertretenen Theologie immer wieder bewusst werden. Man kann sie im positiven Sinn als radikal bezeichnen. Radikal kommt vom lateinischen Radix = die Wurzel, und die Tempelgesellschaft greift tatsächlich auf die Wurzeln des Christentums zurück, auf die Zeit, als die dogmatischen Festlegungen über die Natur von Jesus, die Rolle des Heiligen Geistes und die Trinität noch in weiter Ferne lagen. Es geht verkürzt gesagt darum, wie Jesus zu glauben, nicht an ihn. Die Zeitgebundenheit der Dogmen tritt dadurch in den Hintergrund und das sollte unsere Auffassung für viele rational denkende Menschen heute attraktiv machen. Die Tempelgesellschaft verkörpert eine so konsequent liberale Glaubensauffassung, dass sich eigentlich die meisten Christen bei uns gut aufgehoben fühlen müssten, gerade weil sie bei genauerer Prüfung der dogmatischen, historisch bedingten Glaubensgrundlagen ihrer eigenen Kirche Zweifel bekommen müssten. Deshalb sollten wir auch unser Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern immer wieder mutig unsere Alleinstellungsmerkmale offensiv nach außen vertreten. Ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal ist und bleibt sicher die Geschichte; die wird der Tempelgesellschaft auch keiner wegnehmen können und sie ist ja auch auf jeder Israelreise wieder lebendig. Aber mindestens genauso wichtig und künftig noch wichtiger muss für uns das theologische Profil sein, weil es viele Christen gibt, die zwar mit der Siedlungsgeschichte Palästinas nichts am Hut haben, aber auf der Suche nach einer religiösen Heimat sind und Zweifel an den kirchlichen Lehrmeinungen haben. Wenn uns dies gelingt, können wir auch über das 150. Jahr unseres Bestehens hinaus hoffnungsvoll in die Zukunft schauen.
Die Besucher unseres Saals am 7. November hatten die Freude, mitzuerleben wie ein Kreis junger Gemeinde-Angehöriger einen solchen Gottesdienst gestalten kann. Als Thema hatten sich die jungen Leute das Vaterunser-Gebet vorgenommen. Schon beim Eintreten ins Gemeindehaus konnte man an den Wänden des Treppenhauses großformatige farbige Tafeln des Gebets in verschiedenen Sprachen bewundern. So wurden die Besucher gleich beim Hereinkommen in das Thema des Nachmittags eingestimmt.
Zur Einleitung erklang ein eindrucksvoller Gesang mit etwas fremdartig anmutendem Text. Inga Reck klärte uns über deren Herkunft auf:
»Das, was wir soeben gehört haben, war passend zum heutigen Thema "Vaterunser" - allerdings haben wir es auf Aramäisch gehört. Warum denn mit dem Vaterunser auf Aramäisch beginnen?
Weil die aramäische Sprache zu Jesu Zeit von Palästina bis zum Perserreich und darüber hinaus verbreitet war und Jesus und seine Jünger eine Form des Aramäischen sprachen. War die Musik zu Jesu Zeiten sicherlich auch etwas einfacher, so können wir uns mit dem Gesang in einer für uns fremd klingenden altertümlich anmutenden Sprache weit zurückversetzt fühlen.
In eine Zeit, beinahe zweitausend Jahre zurück, in der das Vaterunser-Gebet sich verbreitete und bis heute von Christen auf der ganzen Welt in allen möglichen Sprachen gesprochen wird.
Das Vaterunser ist aus dem christlichen Alltag nicht wegzudenken. Doch – wo es so allseits bekannt ist und von Christen immer und immer wieder gebetet wird - was bedeutet uns das Vaterunser in der heutigen Zeit, knapp 2.000 Jahre danach? Darüber hat jeder von uns Sprechern sich seine eigenen Gedanken gemacht.
Wenn ich selbst das Vaterunser bete, dann ist das meistens in der Kirche. Sei es im Templer-Saal, in der evangelischen oder in der griechisch-orthodoxen Kirche. Das Schöne ist, dass in allen christlichen Kirchen das Vaterunser gesprochen wird. Nur: wie es von Menschen in jeder Kirche gesprochen wird, das unterscheidet sich manchmal. Für mich persönlich ist es wichtig, dass ich das Vaterunser bewusst spreche, mir etwas dabei denke. Manchmal weiß ich nicht, ob alle das Vaterunser bewusst sprechen oder manche es einfach nur herunterleiern, als eines von vielen Gebeten. Zugegeben, mir fällt es auch schwer, in manche Zeilen einen Sinn zu legen, z.B. in die Worte "Vater unser im Himmel". Was verstehe ich unter "Himmel"? Doch die Zeilen, die für mich Sinn machen, wie z.B. "und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern", die spreche ich bewusst.
Das Vaterunser ist das bekannteste Gebet des Christentums und das einzige, das laut Neuem Testament Jesus von Nazaret selbst seinen Jüngern beigebracht hat. In Israel befindet sich heute an der Stelle, an der Jesus seine Jünger das Beten gelehrt haben soll, die Paternosterkirche, die Vaterunser-Kirche.
Dort sind mit Fliesen verzierte Tafeln zu finden, auf denen das Vaterunser in 140 verschiedenen Sprachen geschrieben steht. In dieser Kirche findet man auch Platten mit dem Vaterunser in Blindenschrift, in wichtigen Sprachen wie deutsch, englisch und französisch. Wie die Tafeln aussehen, kann man draußen im Treppenhaus sehen, in dem wir Bilder dieser Tafeln aufgehängt haben
Wenn in den christlichen Kirchen heute das Vaterunser gebetet wird, knüpft der Wortlaut an den Text von Mt 6, 9-13 an. Matthäus stellt das Gebet in die Mitte der Bergpredigt. Dieser Text des Vaterunsers ist jedoch nicht die älteste Form. Traditionsgeschichtlich gab es noch die Form in Lukas 11, 2-4. Dort heißt es:
Vater!
Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag
und vergib uns unsre Sünden;
denn auch wir vergeben allen,
die an uns schuldig werden.
Und führe uns nicht in Versuchung.
Bei Lukas lehrt Jesus die Jünger auf ihre Bitte hin das Beten, wohingegen bei Matthäus die Bitte fehlt und gleich mit der Unterweisung begonnen wird.
Wer es noch nicht gesehen haben sollte: auf jedem Platz liegt eine Schriftrolle, die geöffnet und später auch als Andenken mit nach Hause genommen werden darf. Darin sind die beiden Vaterunser-Versionen nochmals nebeneinander abgedruckt.
Im Vergleich zu dem wohl eher unbekannteren Lukas-Text fällt auf, dass die Fassung von Matthäus drei Erweiterungen enthält:
Aus der Anrede "Vater" ist "Vater unser im Himmel" geworden.
An die Verse "Dein Name werde geheiligt" und "Dein Reich komme" schließt sich der Vers "Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden" an.
Und dem ursprünglich letzten Vers "und führe uns nicht in Versuchung" wird eine positive Ergänzung angefügt: "sondern erlöse uns von dem Bösen" sowie der uns bekannte Abschluss "denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit".
Beten ist Bestandteil christlichen Lebens. Damit ist allerdings noch nichts über die Beziehung jedes Einzelnen zum Gebet ausgesagt. Während den einen das Beten im Alltag eher fremd ist, gilt für andere, dass das Gebet selbstverständlicher Bestandteil des eigenen Lebens ist. Einige beten wiederum nur in Ausnahmesituationen.
Aber kann das im Gottesdienst gesprochene Gebet nachempfunden werden? Sind Gebete Formeln ohne Inhalt, die nicht in Verbindung zum eigenen Leben gebracht werden können? Tatsächlich ist die Anzahl der Gebete, die bei uns im Saal gesprochen werden überschaubar. Es gab sogar einen Zeitraum, von 30 bis 40 Jahren, in dem im Saal gar nicht gebetet wurde. Es ging darum, dass es jedem selbst überlassen werden sollte, wann, wie oder wo er oder sie beten wollte.
Mittlerweile wurde aber das Gebet aus der für uns zentralen Bergpredigt aufgenommen und immer wieder gebetet. Das Vaterunser steht bei uns in der Gemeinde an erster Stelle. Grund genug, sich über speziell dieses Gebet Gedanken zu machen.«
Jeder Sprecher hatte sich eine Textstelle aus dem Vaterunser ausgewählt gehabt und sich seine ganz persönlichen Gedanken dazu gemacht. Weitere Beiträge werden wir in den nächsten Heften wiedergeben.
»Jeden Tag lehrte Jesus im Tempel. Am Abend ging er dann auf den Ölberg und blieb die Nacht über dort. Früh am Morgen war schon wieder das ganze Volk im Tempel versammelt und wollte ihn hören.« (Lk 21,37-38)
Es ist ein kurzer Abschnitt, der hier für sich allein zwischen zwei längeren Berichten steht. Ein knapp formulierter Einschub. In ihm ist nichts Inhaltliches der jesuanischen Lehre enthalten, sondern es wird lediglich aufgezeigt, wie Jesus gewöhnlich den Tag zubrachte. Und auch: welche Rolle er im Leben der Bevölkerung spielte. In der Bibelübersetzung der "Guten Nachricht" wird dazu die Überschrift gewählt: "Jesus, der Lehrer des Volkes"! Das Volk wollte diesen Mann hören, der eine Botschaft verbreitete, die Aufsehen erregte.
Wir erkennen das an den Worten: "Er lehrte jeden Tag im Tempel". Bemerkenswert: sein Auftreten dort erfolgte nicht irgendwann im Tagesverlauf, nein, "früh am Morgen" begann er mit seinen Reden. Müssen wir nicht daraus folgern, dass es ihm so brennend wichtig war mit seiner Botschaft, dass er damit nicht ein, zwei Stunden warten wollte? Er ging bewusst das Risiko ein, dass am frühen Morgen vielleicht noch kein Zuhörer da war. Doch es waren schon Leute da, es heißt sogar: das ganze Volk. Ihnen war es nicht zu früh, denn das, was er verkündete, war für sie so neu und überwältigend, dass sie die Unbequemlichkeit der frühen Stunde willig auf sich nahmen.
Noch etwas Weiteres entnehme ich den kurzen Sätzen des Textes: Jesus, der Lehrer des Volkes, blieb des Nachts nicht in der Stadt, wo er wahrscheinlich Unterkunft hätte finden können. Nein, er geht am Abend auf den Ölberg und bleibt die Nacht über dort. Vermutlich hat er sich bei Dunkelheit in eine Decke gehüllt und auf dem Boden unter den Olivenbäumen geschlafen. Ich denke, dass er nach des Tages Mühen die Einsamkeit suchte, um über das, was ihn umtrieb, in Ruhe nachzudenken. Um zu innerer Ruhe zu kommen und sich zu sammeln.
Wie oft tun wir eigentlich solches? Wäre es nicht wichtig, dass wir in unserem Tageslauf immer auch Zeiten einlegen, in denen wir innere Einkehr halten und über das Wesentliche unseres Lebens nachsinnen? Solche Zeiten brauchen nicht im Kalender vorgemerkt zu werden, sie sollten sich von selbst ergeben, wenn wir einen Waldspaziergang machen oder in einer klaren Nacht an den Sternenhimmel schauen. Das Nachdenken über die Werte des Lebens kann sich beim Betrachten einer Blume oder beim Anhören einer guten Musik einstellen. Für Städter ist es wichtig, hinaus zu gehen und den Atem der Natur zu spüren.Dann kann uns mancher Ort zum Ölberg werden, wo wir ganz zu uns selbst und zum Sinn unseres Tuns finden.
Unter dieser Überschrift berichtet Ingrid Turner im Oktoberheft des Templer Record von der Radio-Dokumentation über ein Ereignis, das sich vor einigen Jahren in den USA zugetragen hat:
Das Programm begann damit, dass Polizisten mit freudigem Erstaunen berichteten, dass sie schon wieder ein ganzes Wochenende lang nicht zu einem tödlichen Unfall mit Halbwüchsigen gerufen worden seien (offenbar etwas ganz Ungewöhnliches). Der Moderator ergänzte, dass andere Polizeistationen der Region dasselbe berichteten, und dass das zusammenfalle mit einer Darbietung, die an den Schulen in diesem Gebiet gehalten worden sei:
Ein junger Mann (wohl noch Schüler, aber schon im Besitz eines Führerscheins - ca. 17 Jahre alt?) stellte sich selbst und einen älteren Mann, der ihn begleitete, vor. Dann berichtete er von seinem besten Freund, mit dem er zusammen aufgewachsen war, und von einer Party, auf der sie alle exzessiv getrunken hätten, von dem Spaß und der Hochstimmung. Dann seien sie beide ins Auto gestiegen und hätten den Weg nach Hause zu einer aufregenden Abenteuerfahrt durch die nachtdunkle Landschaft gemacht. Dann das Schleudern, ein Schreien, das Kippen, der Aufprall - die Stille. Er schluchzte, als er beschrieb, wie er in der Dunkelheit seinen Freund suchte, fand und erkannte, dass er tot war.
An diesem Punkt übernahm der ältere Mann den Bericht und sagte, dass er der Vater des umgekommenen Jungen sei. Er beschrieb sein Entsetzen, als er von dem Unfall erfuhr, zur Unfallstelle hetzte und sah, wie Polizisten den toten Körper seines Sohnes aus dem zertrümmerten Auto hoben; aber auch, wie er spontan den hysterisch schluchzenden Jungen umarmte, der den Wagen gefahren hatte.
Er beschrieb sein tiefes Leid, aber auch, dass ihm von Anfang an bewusst gewesen sei, dass es genauso gut sein eigener Sohn hätte sein können, der den Wagen gefahren hatte. Er hätte den »Mörder« seines Sohnes hassen können, ihm aus dem Weg gehen und ihn seiner Verzweiflung überlassen. Stattdessen nahm er ihn an »as his own« - wie seinen eigenen Sohn, in seine eigene Verantwortung. Er kümmerte sich um ihn und half ihm. Vor Gericht kämpfte er mit Zähnen und Klauen dafür, dass der Junge nicht die vorgeschriebenen zwei Jahre ins Gefängnis musste, und plädierte dafür, dass er stattdessen diese zwei Jahre lang öffentlich jungen Leuten die Geschichte des Unfalls erzählen sollte und davon, was das für ihn bedeutete. Der Vater verpflichtete sich, ein Jahr Urlaub zu nehmen und den Jungen durch das erste Jahr des Berichtens zu begleiten und ihm beizustehen.
Unter diesen ganz besonderen Umständen setzte sich der Richter über den eigentlich vorgegebenen Maßstab der Präzedenzfälle - der die genannten zwei Jahre Gefängnis bedeutet hätte - hinweg und folgte dem Vorschlag des Vaters.
(Zur Erklärung: Angelsächsisches - und damit amerikanisches - Recht ist, im Unterschied zum kontinentaleuropäischen, vom Ursprung her Fall-Recht: es beruht weniger auf allgemeinen Gesetzen mit verbindlichem Strafmaß für alle Einzelfälle [»wird mit Gefängnis zwischen 2 und 4 Jahren bestraft«], sondern auf »precedents«, der Summe aller in ähnlichen Fällen schon ergangenen Urteile. Natürlich haben sich daraus im Lauf der Jahrhunderte auch allgemeine Maßstäbe entwickelt, aber sie sind nicht so absolut wie in unserem Recht. Das kann einerseits manchmal zu eklatanten Fehlurteilen führen [z.B. während des irischen Freiheitskampfes], ermöglicht aber andrerseits eine bessere Anpassung der Urteile an den Einzelfall. Der Richter tat also nichts Ungesetzliches, aber etwas ganz und gar Ungewöhnliches.)
Diese »Strafe« war für den Vater sowieso ein freiwilliges Opfer, für den Jungen sicher etwas viel Schwereres als ein Gefängnisaufenthalt. Aber während sie dieser Auflage nachkamen, ergab sich der eingangs erwähnte Effekt: in jedem Bezirk, in dem sie, meist in den Schulen, aufgetreten waren, ging für mindestens ein Vierteljahr die Zahl der tödlichen Unfälle auf Grund von Alkoholfahrten Jugendlicher fast auf Null zurück. Auch wenn uns ein Vierteljahr kurz erscheint, es sind viele Menschenleben, die dadurch gerettet wurden. Und ich möchte glauben, dass die Wirkung auch noch länger anhielt, nur eben nicht mehr ganz so durchschlagend wie zu Beginn.
Und auch für die beiden selbst veränderte sich etwas. Ingrid schreibt: »They began to heal their lives a little«: sie heilten ihr Leben. Sie waren beide durch das entsetzliche Geschehen aus ihrem bisherigen Leben herausgerissen, sie hätten in Verzweiflung versinken können, die Verzweiflung des Verlusts und der Schuld. Stattdessen machten sie es zu einem Vermächtnis des Toten, Menschenleben zu retten, und gaben damit ihrem eigenen Leben einen neuen Inhalt. Und: durch die gemeinsame Arbeit für dieses Ziel entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen.
Soweit Ingrids Bericht, sinngemäß, d.h. nicht immer ganz wörtlich, von mir, ebenso im vorgehenden Abschnitt an einer Stelle eine in den Text eingearbeitete Verdeutlichung.
Ingrid erzählt dieses Ereignis als modernes Beispiel zum Text vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 25-39). Aber sie setzt ein Fragezeichen hinter die Überschrift. Ich denke, nicht weil es fraglich ist, ob das Beispiel passt. Auf den ersten Blick passt es. Aber zugleich ist es viel mehr als der Samariter geleistet hat; der versorgte den Verletzten, pflegte ihn noch einen Tag lang, zahlte für seine weitere Pflege und zog dann weiter, zurück in sein eigenes Leben. Das ist viel, und es ist das, was wir unter einem Samariterdienst verstehen.
Aber was nach dem Unfall in den USA geschah, ist viel mehr, weil der Helfer den Hilfsbedürftigen in sein eigenes Leben aufnahm. Es liest sich wie ein kleines Wunder. Wäre es erfunden, würden wir wohl denken: das ist zwar wunderschön, aber zu schön, um real zu sein. Dazu, dass ein solches Wunder real werden konnte, gehörte vieles, auch manches, was die beiden, der Junge und der Vater, nicht in der Hand hatten: die Tatsache, dass der Vater den Jungen, den besten Freund seines Sohnes seit Kindheitstagen, sicher kannte; die klare Erkenntnis des Vaters, dass sein Sohn genauso gut der Täter hätte sein können, quasi mitschuldig war; die Spontaneität, mit der er den heulenden Jungen in die Arme nahm, ohne Rücksicht auf die Schuld; die Hartnäckigkeit, mit der er sich für ihn einsetzte, und die Fantasie, eine Strafe zu finden, die nicht nur Vergeltung war, sondern vielleicht fruchtbar werden konnte; ein Richter, der bereit war, vom bequemen Weg der Regelstrafe abzuweichen; und schließlich, vielleicht das Unwahrscheinlichste: die Bereitschaft des Vaters, ein Jahr seines Lebens an diese »Rettungsaktion« - im doppelten Sinn - zu setzen (anders hätte sich wohl der Richter auf diese Lösung nicht eingelassen).
Dazu gehörte nicht nur Opferbereitschaft, sondern auch Mut. Nicht nur, weil das sicher eine finanzielle Einbuße bedeutete - davon erfahren wir nichts. Aber weder er noch der Junge konnten wissen, wie sie die Tortur bestehen würden, jeden Tag von neuem den Zuhörern und damit auch sich selbst das Schreckliche wieder lebendig zu machen. Aber vielleicht hat gerade das ihnen geholfen, das Schreckliche zu bewältigen: sie konnten beginnen, »ihr Leben zu heilen«. Und so konnte das Wunder real werden.
»Er begann als schwäbischer Rebell und starb als frommer Mann am Berg Karmel« schreibt ein Journalist über Georg David Hardegg, der mit 21 weiteren Häftlingen in einer neuen Ausstellung auf dem Hohenasperg, dem »Demokratenbuckel«, dargestellt wird. Dass Hardegg viele Jahre in diesem einstigen Gefängnis zugebracht hat, ist vermutlich unseren Lesern weniger bekannt als seine spätere Rolle im Freundeskreis »auf dem Salon« und bei der Gründung der Tempelgesellschaft auf dem Kirschenhardthof und der sich später daran anschließenden Auswanderung der Templer nach Palästina. Es mag deshalb für manchen interessant sein, Näheres über den ersten Lebensabschnitt des Ludwigsburgers zu erfahren.
Georg David wurde am 2. April 1812 als Sohn des Hirschwirts zu Eglosheim bei Ludwigsburg geboren. Die Eltern freuten sich über seine Fortschritte am Ludwigsburger Gymnasiums, als 1829 völlig überraschend sein Vater starb und die um 18 Jahre jüngere Mutter nun für die Familie und die Erziehung der fünf Kinder sorgen musste. Die Vielzahl der Pflichten der Hirschwirtin erlaubte ihr nicht, sich viel um die Kinder zu kümmern. Es war das Jahr, in dem Georg David in Ludwigsburg eine kaufmännische Lehre begann.
Es war eine bewegte Zeit voller Spannungen. Der Ruf nach Freiheit ertönte weit und breit und wurde besonders auch von den schwäbischen Dichtern aufgenommen. Aufnahmebereit horchte der junge Hardegg den Stimmen von Schiller, Uhland und Hölderlin. Er ließ sich von diesen Rufen begeistern und verfolgte die Nachrichten über die politischen Ereignisse mit besonderer Aufmerksamkeit. So war er zum Beispiel 1830 stark berührt von der Nachricht, dass Belgien, das damals noch zu den »Vereinigten Niederlanden« gehört hatte, seine Selbständigkeit erklärt habe. Kurz entschlossen reiste er nach Belgien, um seinen Freunden und Gesinnungsgenossen zuhause vom Brennpunkt der vermeintlichen Revolution berichten zu können. Er fand Arbeit in einem Amsterdamer Handelshaus, verlor die Stelle aufgrund der ungünstigen Wirtschaftslage jedoch schnell wieder. Auf der Suche nach einem Auskommen verschlug es ihn nach Antwerpen, wo er wieder, wenn auch für wenig Geld, in einem Handelshaus Arbeit fand.
Da das Geschehen in Belgien seinen Erwartungen nicht entsprach, kehrte er bald nach Eglosheim zurück. In den Wirtshäusern erzählte er von den Revolutionen in Frankreich und Belgien und redete, wo er konnte, über seine Ideen. »Auf eine Weise, die überall auffiel,« warb er für die Sache der Republik. So zog er beispielsweise in der Neujahrsnacht durch die Straßen von Ludwigsburg und rief »Lafayette!« und »Republik oder Tod!«. Dann entschloss er sich im Juli 1831, nach Paris, dem eigentlichen Herd der Revolution, zu reisen: »Ich wollte unter keinen Verhältnissen mehr zu Hauß bleiben«. Er lernte dort einige deutsche Flüchtlinge kennen, denen eine deutsche Republik als erstrebenswertes Ideal vorschwebte. Zum näheren Vertrauten gewann er den Stuttgarter Buchhändler Gottlob Franckh, der die Zeitung »Le Siècle« mitbegründen half. Beide besuchten sie den Club »Les amis du peuple«.
Es gärte in Württemberg, Baden, Hessen und besonders in der Rheinpfalz. Die Idee eines geeinigten deutschen Vaterlandes, in dem Freiheit und Menschenrechte nach republikanischem Vorbild Geltung haben sollten, hatte schon weite Kreise erfasst und gewann mehr und mehr an Boden. Franckh und Hardegg, die im Herbst 1831 nach Württemberg zurückkehrten, waren davon überzeugt, dass bald auch für Deutschland die Freiheitsstunde schlagen werde und eine Umwälzung nahe bevorstehe. Hardegg übersiedelte nach Tübingen, wo er ein Medizinstudium begann. Mit Eifer trat er für den Gedanken einer gesamtdeutschen Republik ein. Er bemühte sich, weitere entschlossene Republikaner zu werben.
Im April 1832 lernte er Ernst Ludwig Koseritz kennen. Der ehemalige Hohenasperger Oberleutnant hatte sich von den revolutionären Ideen der von ihm bewachten Demokraten anstecken lassen und plante den militärischen Umsturz in Württemberg zusammen mit Gleichgesinnten in Hessen. Gleichzeitig mit dem Sturm der Hauptwache in Frankfurt sollte die Festung Hohenasperg gestürmt werden. Mit den erbeuteten Waffen wollten die Verschwörer den württembergischen König stürzen und die Republik ausrufen.
Hardegg wusste wohl noch nicht, dass das »Hambacher Fest«, der große Volksaufstand im alten Hambacher Schloss am 27. Mai 1832, den damaligen Bundestag so in Alarm versetzt hatte, dass er die völlige Unterdrückung der Presse- und Versammlungsfreiheit veranlasste. Er wusste somit auch nicht, dass mit diesen äußerst scharfen Abwehrmaßnahmen alle Aufstandsplanungen aussichtslos geworden waren.
So war es zu erwarten gewesen, dass der Koseritz'sche Plan scheitern musste. An einem der letzten Januartage des Jahres 1833 verbreitete sich in Tübingen die Nachricht, dass eine militärische Formation im Anmarsch auf die Stadt sei. Hunderte von Studenten liefen den Soldaten entgegen, darunter auch Christoph Hoffmann, der in seinem ersten Studiensemester stand und den das Schicksal 15 Jahre später mit Hardegg zusammenführen sollte. Mit klingendem Spiel rückte das Bataillon in Tübingen ein. Neugierig verfolgten die Studenten das Vorgehen des Militärs, und mit Entrüstung wurde vernommen, dass Durchsuchungen und Verhaftungen stattfanden. Unter den Verhafteten befand sich auch Georg David Hardegg, der auf den Hohenasperg abgeführt wurde.
Der erst 21 Jahre zählende Hardegg war von seiner Verhaftung und Gefangennahme aufs schwerste getroffen. Von der Richtigkeit der von ihm vertretenen liberalen und revolutionären Grundsätze war er völlig überzeugt. Nach Kräften widersetzte er sich dem harten Zugriff der Staatsgewalt. Die Aufseher und selbst die Richter waren für ihn »Henkersknechte« und »verfluchte Seelenmörder«, doch dadurch verschlimmerte er nur noch seine Lage, aus der ihn niemand befreien konnte.
Die Ermittlungen der Untersuchungskommission dauerten fünf Jahre, die ursprünglich ausgesprochene Verurteilung »wegen im Complott versuchten Hochverraths« zu 14 Jahren Haft wurde 1839 in 9 Jahre Zuchthaus - unter Anrechnung der Untersuchungshaft - gemildert. Die Unterbringung erfolgte im Zuchthaus Gotteszell. In einem Brief an seine Mutter kurz vor Abreise nach Gotteszell schreibt er: »Meine natürliche Jugend ist dahin, ich habe fast nie eine solche gehabt. Ich muss nun nach der ewigen Jugend, der Wiedergeburt trachten.« Ein weiterer Brief von ihm enthielt eine Beilage: »Inliegend auch ein Brieflein nach Kirchheim. Ich weiß jetzt eine Person zu schätzen, die auch im Unglück treu ist. Besuchen soll mich niemand.« Hardegg war insgeheim verlobt mit Sabine Dorothea Hartmann aus Kirchheim am Neckar, von der er wusste, dass sie ihm auch im Unglück die Treue halten würde. Er heiratete sie, als er 1840 unter der Bedingung begnadigt worden war, dass er ins Ausland gehen würde, und gründete mit ihr in Schaffhausen seine junge Familie. 1846 wurde die Verbannung aufgehoben und er kehrte mit seinen Angehörigen nach Ludwigsburg zurück, wo er am Marktplatz eine Lederhandlung eröffnete.
Hardeggs Denken und Empfinden hatte während der Gefangenschaft auf dem Hohenasperg eine vollkommen neue Richtung bekommen, eine Richtung, die für sein ganzes weiteres Leben bestimmend werden sollte. Er hatte sich durch die Lektüre von Bibel und anderen Schriften, wie z.B. das Buch von Thomas a Kempis »Nachfolge Christi«, der Religion zugewandt und war besonders von einer Form der Mystik angezogen. Er hatte in dieser Hinsicht einen grundlegenden Wandel durchgemacht. Er war zwar evangelisch getauft, aber nicht religiös erzogen worden, und mit seiner liberalen Gesinnung und seiner frühen Entscheidung für die revolutionäre Politik hatte er sich sogar entschieden gegen die Religion gewandt. Hardegg war durchdrungen von der Hoffnung auf Erfüllung der Paulinischen Verheißung einer Verleihung der »Gaben des Geistes« nach 1. Korinther 12. Dieses Ziel hat er später als den »Stein zum Bau des geistigen Tempels« erklärt.
Auch wenn die Tempelgesellschaft nach dem Ausscheiden Hardeggs aus ihr eine andere Theologie als er verfolgte, war er doch eine prägende Persönlichkeit in der Entstehungszeit unserer freien christlichen Glaubensgemeinschaft und in der anfänglichen Umsetzung ihrer Ziele gewesen. Der Ausschuss des Tempels hat anlässlich seines Todes am 10. Juli1879 in der »Warte des Tempels« geschrieben: »Trotz der Differenzen, die seit Jahren uns von dem Entschlafenen trennten und welche die entstandene Kluft immer mehr erweiterten, haben wir doch nie aufgehört, Achtung für einen Mann zu haben, der das Tempelwerk mitbegründen half und dessen Name von den künftigen Geschlechtern stets mit dem Werk zusammen genannt werden wird«.
Sein Sohn Ernst charakterisierte seinen Vater Georg David Hardegg wie folgt: »Seiner Grundnatur nach Melancholiker, war er ein Mann von derber Geradheit, beherrschendem Verstand, der immer über großen Entwürfen brütete und seine Ideen mit eiserner Konsequenz und dämonischer Rastlosigkeit auszuführen strebte. Ein Mann voll maßlosen Ehrgeizes und idealstem Streben, mit hochkultiviertem Gemeinsinn, der unter einer wahrhaft soldatischen Außenseite ein seltenes Feingefühl verbarg und einen Wohltätigkeitssinn, der ihn mit dem Armen den letzten Bissen teilen ließ.« Peter Lange
Dieser Darstellung sind folgende Quellen zugrunde gelegt: Gottlob David Sandel, »Georg David Hardegg - Revolutionär, Mitbegründer und Vorsteher der Deutschen Tempelgesellschaft« in »Lebensbilder aus Schwaben und Franken« Band 9, 1963; Joachim Baur, »Vom Asperg nach Palästina« in: Franz Quarthal/Karl Moersch (Hrsg.), »Hohenasperg oder ein früher Traum von Demokratie«, 1998; Angaben des Ludwigsburger Stadtchronisten Albert Sting sowie Dokumente aus dem Besitz der Familien Loytved und Hardegg.
Die Dauerausstellung »Hohenasperg - Ein deutsches Gefängnis« des Hauses der Geschichte Baden Württemberg im Arsenalbau von Hohenasperg ist von April bis Oktober donnerstags bis sonntags von 10-18 Uhr geöffnet.