Die Warte des Tempels

Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 166/1 - Januar 2010

 

 

Grenzerfahrungen - und biblische Vielfalt

Jesus und Nikodemus (Johannes 3, 1-12)

Der genannte Textabschnitt aus dem Johannesevangelium beschreibt eine Begegnung zwischen Jesus und Nikodemus. Thema des Gesprächs ist das "Neugeborenwerden" als Voraussetzung für die Teilhabe am Reich Gottes. Kurz spricht der Evangelist Johannes mit Wasser und Geist die Taufe an, wie sie von den ersten Christen praktiziert wurde. Die Anfänge jener Vorstellung, die der Taufe zugrunde liegen, stammen aus uralter Zeit. Im Alten Testament finden wir das Bild des "Reingewaschenwerdens": bei Mose stehen all die Vorschriften, nach denen durch Gebrauch von frischem Wasser kultische Unreinheit beseitigt wird; deshalb gibt es das Ritual der Reinigung in der Miqwe, dem jüdischen Tauchbad. In Psalm 51 bittet David Gott, ihm seine Sünde mit Bathseba zu vergeben und verwendet dafür ebenfalls die Reinigung durch Wasser im übertragenen Sinne: »Wasche mich rein von meiner Missetat, und reinige mich von meiner Sünde; denn ich erkenne meine Missetat ...« Die Taufe durch Johannes dem Täufer zum Zeichen der Buße und der Umkehr ist eine Fortführung dieser Vorstellung.

Doch gerade Johannes der Täufer weist darauf hin, dass nach ihm einer kommen werde, der stärker sei als er: »Ich taufe euch mit Wasser, aber er wird euch mit dem heiligen Geist taufen!« sagt er in Markus 1, Vers 8. Wie wir wissen, wird diese Aussage auf Jesus hin interpretiert. Von ihm selbst wird bekanntlich in den Evangelien nicht berichtet, dass er einen Taufakt mit Wasser vollzogen hätte - seine "Taufe" der Menschen besteht in der sie überzeugenden Verkündigung, ist also ein geistiger Akt.

In unserem Johannes-Text wird die Unterscheidung in der Formulierung "vom Fleisch geboren" und "vom Geist geboren" gemacht - sie macht den qualitativen Unterschied zwischen dem Vorher und dem Nachher des "Neugeborenseins" aus. Der Begriff "Fleisch" bezeichnet dabei den Bereich alles Irdischen, Menschlichen und Leiblichen, der der Vergänglichkeit unterworfen ist. Dem gegenüber steht die Sphäre Gottes, die durch den Begriff "Geist" gekennzeichnet ist. Gott hat diesen Geist in seine Schöpfung gegeben, aber für den Menschen ist er unverfügbar.

Können wir also an diesem Prozess, diesem "Neu-Geboren-werden aus dem Geist", Anteil bekommen? Können wir überhaupt selber etwas dazu tun oder weht Gottes Geist, wo er will, wie es im Text heißt?

Nikodemus sehe ich als einen, der Gott sucht. Einer, dem durch Jesu Verkündigung zumindest Fragen an der Art seiner Religionsausübung gekommen waren. Diese Zweifel haben mit seiner Gotteserkenntnis zu tun, denn die Pharisäer waren ja davon überzeugt, dass sie durch ihr Tun gottgefällig lebten. Sie wollten Gottes geschriebenes Gesetz bis in alle Einzelheit hinein erfüllen und waren der Meinung, es bedürfe nur jenes einen Tages, an dem alle Juden alle Gesetze hielten, damit der Messias kommen und die Herrschaft Gottes aufrichten könne.

Wenn wir unseren Text weiter lesen, heißt es: »Und niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist, nämlich der Menschensohn. Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.«

Dieses Gottesbild, das des Johannes, ist ein anderes als das der Juden, und es ist eng verknüpft mit einem Jesusbild, das wiederum gar nicht unserer templerischen Auffassung entspricht: während für den Evangelisten Johannes das Essentielle, alles Verändernde der Glaube an Jesus, den Christus, ist, bemühen wir Templer uns darum, wie oder mit Jesus an Gott zu glauben.

Jeder interpretiert die Verkündigung Jesu in einer ganz bestimmten Art und Weise, nämlich so, wie er persönlich sie als wahrhaftig erfasst hat. Wir bedienen uns der kritischen Bibelauslegung, argumentieren darüber, was von den von Jesus überlieferten Aussprüchen authentisch sein könnte und was uns aus gewissen Gründen nicht als jesuanisch erscheint. Dabei müssen die Aussagen rationalen und logischen Kriterien standhalten. Wenn uns die Wahrhaftigkeit auch im Glauben wichtig ist, können wir nicht anders vorgehen. Aber wir müssen uns immer bewusst sein, dass wir durch diese Vorgehensweise möglicherweise auch etwas ausschließen, das für Jesus doch ein wichtiges Element gewesen sein mag, und außerdem: als Menschen, die nur überlieferte Schriften zur Verfügung haben, können wir nur interpretieren. Wir sehen Jesus als Menschen, nicht als Gott selbst. Da, wo er von Gott gesprochen hat, hat er seine Erkenntnis vermittelt - und dass manches recht unterschiedlich bei denen angekommen ist, die sein Reden und Tun niedergeschrieben haben, sehen wir schon an der unterschiedlichen Darstellung bei den Evangelisten. Bei den Lesern der Bibel setzt sich noch weiter fort, dass diese überlieferten Aussagen wiederum ganz unterschiedlich ankommen. Das äußert sich dann darin, dass selbst innerhalb des Christentums, für das die Bibel die gemeinsame Grundlage ist, so viele verschiedene Auffassungen entstanden sind.

Wir Menschen stoßen immer wieder an Grenzen, und diese Grenzen können wir nicht überwinden. Hier sind es die Grenzen des Verstehens - denn was können wir mit unseren Kräften überhaupt erfassen vom Geheimnis Gottes?

Sicher, seit jeher versucht der Mensch, in seiner Erkenntnis der Welt weiter und weiter zu kommen. Das gelingt ihm auch bis zu einem gewissen Grad: der Mensch kann mittlerweile Gene entschlüsseln und verändern, Erkenntnisse über die Entstehung der Welt gewinnen. Aber gerade, wenn ich an die Theorie des Urknalls denke, die heute als Moment der Entstehung der Welt gilt, so bleibt doch die Frage nach der "Initialzündung", des absoluten Anfangs. Er stellt eine Grenze der Erkenntnis dar, über die wir Menschen eben nicht sehen können.

In Jesu Verkündigung sehen wir in erster Linie die Betonung in der Gnade und Barmherzigkeit Gottes und seiner Liebe zu uns Menschen, und, verbunden damit, unsere Verpflichtung zur "Weitergabe" dieser empfangenen Liebe an unsere Mitmenschen. Damit liegt für uns in der Verkündigung des Reiches Gottes - und dem Trachten danach - ganz wesentlich das Bemühen darum, durch unseren Einsatz das Leben unserer Mitmenschen lebenswerter zu machen. Das ist ein durch und durch diesseitiger Aspekt - der jenseitige, der für Jesus durchaus ebenfalls gegeben war, wird bei uns nicht thematisiert. Denn auch hier empfinden wir eine Grenze, an der wir nicht weiter kommen. Was sein wird und wie es sein wird, wenn unser irdisches Leben an sein Ende kommt, wissen wir nicht.

Aber bleiben wir doch beim diesseitigen Aspekt: die Grenzen, an die wir auch hier immer wieder stoßen, kennen wir alle: immer könnten wir liebevoller mit unseren Mitmenschen umgehen, nehmen wir uns nicht genügend Zeit, stellen immer wieder unsere eigenen Befindlichkeiten an erste Stelle. - Wie ist es also mit dem Neugeborenwerden?

Die Grenzen, die wir erfahren, können uns auch bewusst machen, dass wir in unserem Leben niemals an einem Punkt unserer Erkenntnis stehen bleiben können - immer wieder wird es neue Aspekte geben, werden Zusammenhänge nicht eindeutig sein und daher von verschiedenen Menschen unterschiedlich aufgefasst werden. Wie oft haben wir schon erfahren, dass etwas, das in einer Hinsicht gut war, in einer anderen negative Auswirkungen hatte. Das Leben, unsere Welt, geht nicht auf in gut oder böse, in schwarz oder weiß.

Und: aus unseren ureigenen Bezügen können wir nicht ausbrechen, von einem Tag auf den anderen ein anderer Mensch werden. Wir alle haben unsere genetische Disposition und unsere Prägung erhalten: durch unsere Erziehung, die Gesellschaft, die Tradition, in der wir groß geworden sind, durch positive und negative Erlebnisse, durch Begegnungen und Erfahrungen mit anderen Menschen. - Wenn wir also geprägt sind, bedeutet das dann, dass wir gar nicht die Möglichkeit haben, unser Verhalten zu ändern?

Ich denke, doch. Wesentlich ist, und das finden wir bei Nikodemus, dass wir immer wieder unsere Auffassungen und Verhaltensweisen hinterfragen. Oft sind diese unbewusst übernommen und haben sich in uns festgesetzt - dadurch werden sie von uns aber gar nicht mehr als fremde Prägung wahrgenommen, sondern scheinen zu uns selbst zu gehören. Wir kommen oft gar nicht auf die Idee, zu fragen: wer oder was ist für dieses Verhalten bei mir verantwortlich? Das aber ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg meiner Selbsterkenntnis, die mir den Umgang mit meinen Prägungen ermöglicht. Dabei ist wichtig, dass wir uns auch unsere positiven Prägungen bewusst machen und dafür dankbar sind. Bei den negativen sollten wir nicht in Schuldzuweisungen verharren, sondern versuchen, an diesen zu arbeiten. Das kann ein langwieriger und mühevoller Prozess sein, aber darin liegt die einzige Möglichkeit, aus unseren Fehlern zu lernen und nicht immer wieder dieselben Fehler zu machen. Dazu ein Zitat von Theodor Fontane (1819 -1891): »Wir müssen innerlich ein wenig an uns arbeiten und suchen, milder in unserem Urteil, anspruchsloser in unseren Forderungen zu werden. Wir müssen anfangen, die Leute zu nehmen, wie sie sind, und zur Erleichterung dieser Arbeit immer eingedenk sein, dass es in Nord und Süd, West und Ost immer wieder die alte Geschichte ist, dass wir selber die Fehler teilen, die wir an anderen rügen und verdammen.« Bei anderen sieht man solche Zusammenhänge immer recht deutlich, aber bei uns selbst gibt es sie auch!

Auch bei Nikodemus vollzog sich der Wandel nicht von einem Moment zum anderen. Er war zu Jesus gekommen, war aber trotzdem nicht imstande, direkt in die Nachfolge Jesu einzutreten. Aber als er zum zweiten Mal wieder auftaucht, zeigt sein Verhalten, dass er die Begegnung offenbar nicht vergessen, dass sie in ihm etwas angestoßen hat. Wir erfahren nichts Konkretes über ihn, aber die Tatsache, dass er dann auch noch überaus wertvolle Salben für Jesu Leichnam stiftet, zeigt seine tiefe Verehrung.

Jesus begegnet uns sehr radikal. Er reißt seine Jünger aus ihrem Familienverbund, und seine Forderungen an Einzelne gehen oft über deren Kräfte - erinnern wir uns an den reichen Jüngling -, und etliche Ansprüche aus der Bergpredigt fallen uns in der Umsetzung außerordentlich schwer, wenn wir sie überhaupt in der geforderten Intensität umsetzen können - wieder eine Grenze.

So ist das Nachdenken über unseren Text zu einem Bewusstwerden unseres Eingegrenztseins geworden. Und die Lösung, die uns der Evangelist Johannes anbietet, nämlich an Jesus zu glauben und dadurch neu geboren zu werden, ist wohl für jene eine Lösung, die dieser Auffassung folgen können und Jesus als Herrn direkt anbeten. Da wir aber davon überzeugt sind, dass Jesus selber sich nicht in den Mittelpunkt des Glaubens an Gott hat stellen, sondern immer auf ihn hat hinweisen wollen (s. die Synoptiker), ist diese - wenn auch biblische - Lösung nicht unsere.

Und doch ist es auch für uns die Verkündigung Jesu, die uns hilft, mit diesen Grenzen umzugehen. Es sind auch Bibelstellen, die uns die Hilfestellung dazu geben: Das Gleichnis vom Verlorenen Sohn und die Aussage in Lukas 15,7: »Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.« sind nur zwei davon. An dieser Stelle können wir uns bewusst machen, wie groß die Weisheit derer einzuschätzen ist, die beiderlei Texte für den Kanon der Bibel zugelassen haben - und damit auch eine Vielfalt im Glauben. Wenn Jesu Botschaft von Gott wirklich bei uns angekommen ist - und zwar völlig gleichgültig, ob nach den Worten der Synoptiker, von Paulus oder Johannes -, dann vermittelt sie uns jene Liebe und Gnade Gottes, derer wir bedürfen, um nicht vor unseren Grenzen zu kapitulieren, sondern sie als Möglichkeit zu unserer Weiterentwicklung zu sehen. Dann, und davon bin ich überzeugt, weht der Geist Gottes und berührt auch uns.

Karin Klingbeil, Morgenfeier vom 25. Oktober 2009, gekürzt

Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes - aber nicht zu sehr? - Teil 2/2

Das Reich Gottes und die Freude

Für mich war der Ausgangspunkt eine Textstelle aus dem Lukas-Evangelium Kap.12, 31 - 34:

(Voraus geht die bekannte Mahnung: »Fragt nicht, was ihr essen und trinken sollt und macht euch keine Unruhe... Nach dem allen trachten die Heiden in der Welt.« Jesus fährt fort:)

»Trachtet vielmehr nach seinem Reich, so wird euch das alles zufallen. Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es hat eurem Vater wohlgefallen, euch das Reich zu geben.Verkauft, was ihr habt, und gebt Almosen. Macht euch Geldbeutel, die nicht veralten, einen Schatz, der niemals abnimmt, im Himmel, wo kein Dieb hinkommt, und den keine Motten fressen. Denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein.«

Auf den ersten Blick ist das eine denkbar radikale Absage an irdischen Besitz und irdische Bedürfnisse. Und gerade deshalb frage ich mich, ob es wörtlich zu verstehen ist. Jesus redet oft und gerne in übersteigerten Bildern, um den Punkt deutlich zu machen, auf den es ihm ankommt (z.B. »Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge« - kein Mensch kann einen Balken im Auge haben). »Verkauft (verschenkt), was ihr habt« - wenn alle das täten, wäre es das Ende allen vernünftigen Wirtschaftens.

Es gibt zwei einleuchtende Erklärungen: die Rede galt nur den Jüngern - sie lebten tatsächlich so: ohne Besitz und Einkommen, nur aus Gottvertrauen; und Jesus erwartete das Kommen des Gottesreichs noch in seiner Generation – dann war der Fortbestand von Wirtschaft und Gesellschaft irrelevant. Dann betrifft dieser Aufruf uns eigentlich gar nicht.

Trotzdem habe ich das Gefühl, es geht mich an, wenn auch nicht im wörtlichen Sinn. Wesentlich ist der letzte Satz: denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz. Da wird deutlich, dass es nicht um realen Besitz geht, sondern um eine innere Haltung, - wie immer bei Jesus. Dann ist der Schatz das, was wir so sehr haben oder erreichen wollen, dass wir dem alles andere unterordnen. Das kann für den einen Besitz sein, für andere Karriere und Ansehen, oder auch die Durchsetzung einer Idee – das Recht des eigenen Volks, des eigenen Glaubens usw. Das alles ist nicht an sich selbst schlecht, es kann aber gefährlich und manchmal böse werden, wenn es zur Besessenheit führt.

Schatz in diesem Sinne darf nur eines sein: »Trachtet vielmehr (zuerst) nach seinem Reich«. Was heißt das? Weiter unten heißt es »Macht euch einen Schatz, der niemals abnimmt, im Himmel«, dem weder Motten noch Rost noch Diebe etwas anhaben können - der unvergänglich ist. Auf den ersten Blick interpretiert man: ein Konto von guten Taten im Jenseits, von dem wir nach unserem Tod profitieren werden. Das scheint logisch und gerecht.

Aber es gibt mir das Gefühl, dass es mich nichts angeht, und ich nehme an, dass es vielen von uns so geht. Wir leben nicht mehr jenseitsbezogen, wir sehen die Welt mit ihren Schätzen nicht als etwas, das wertlos ist, weil es ja vergeht, und unsere wichtigste Aufgabe nicht darin, Schätze im Himmel zu sammeln und uns so auf das Jenseits vorzubereiten.

Ich bin mir sicher, dass es so auch nicht gemeint ist. Es passt nicht zur Gesamtheit von Jesu Botschaft. Deren Hauptsinn war das Reich Gottes, und das zieht sich auch durch unseren Text, der mit unserem Losungswort beginnt. »Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es hat eurem Vater wohlgefallen, euch das Reich zu geben.« Die Zeitbestimmung ist nicht klar. Es kann heißen: er wird es euch geben - im Jenseits. Es kann aber auch heißen: er hat es euch gegeben, im Hier und Jetzt. Ihr habt, schon jetzt, teil daran; aber auch: es ist - zumindest teilweise - in eure Verantwortung gegeben, es liegt an euch, etwas davon zu verwirklichen. Und beides ist ein Grund nicht nur zum Vertrauen, zur Freiheit von Angst, sondern zur Freude, denn das macht unser Leben wertvoll, gibt ihm einen Sinn. Das schwingt mit in diesem Wort, auch wenn das Wort Freude nicht vorkommt.

Und das fügt sich nahtlos in Jesu Gesamtbotschaft. Wenn er vom Reich Gottes spricht, verwendet er nicht jenseitige Bilder, sondern beschreibt Diesseitiges: das Gottesreich kann wachsen wie ein Senfkorn, man kann es ergreifen wie der Kaufmann die Perle, es kann "inwendig in uns sein" - als eine Kraft, die uns erfüllt und trägt oder "mitten unter euch", also in unseren Beziehungen zu anderen Menschen, man kann daran teilhaben oder ihm nahe sein, wie der Pharisäer, der sich zur Nächstenliebe als höchstem Gebot bekennt. Die Zitate zeigen: Reich Gottes ist etwas Geistiges, das niemand beschreiben kann, aber es ist etwas Geistiges, das im Diesseits geschieht. Dann ist das Diesseits mehr und etwas anderes als der Prüfungsraum für das Jenseits, wo man Schätze für den Himmel sammelt.

Wo sind dann aber die "Schätze im Himmel", auf die wir verwiesen werden?

"Himmel" ist bei den Evangelisten manchmal - bei Matthäus oft - ein Synonym für Reich Gottes. Viele der Reich-Gottes-Gleichnisse beginnen: »Das Himmelreich ist gleich...« Dann ist ein Schatz im Himmel alles, was dem Reich Gottes dient, was dazu hilft, ein kleines bisschen Welt ein kleines bisschen Reich-Gottes- ähnlicher zu machen.

Das habe ich schon oft gesagt, so oder so ähnlich sagen wir es immer wieder. Und wenn man fragte, was dazu vor allem nötig sei, würden wir alle die Nächstenliebe nennen; weil Jesus uns das gelehrt und vorgelebt hat, weil es uns einleuchtet, weil wir es immer wieder selbst erfahren können, das dort, wo sie, wenn auch unvollkommen geübt wird, ein Stückchen Welt ein bisschen besser wird. Ganz sicher ist sie der größte "Schatz im Himmel".

Aber ist sie der einzige? Eben habe ich wieder einmal einen Bericht gehört darüber, was in frommen christlichen Gemeinden alles verboten oder verpönt war: Wirtshaus und Tanz, Theater und Konzert, weltliche Literatur usw., weil es nicht dem Seelenheil, nicht dem Reich Gottes diente. Wir wissen alle, wie viele Werke der Nächstenliebe solche Gemeinden verwirklicht haben - aber in einer solchen Welt der ängstlichen Verbote wollte ich nicht leben. Natürlich ziehen wir heute die Grenzen viel weiter, aber das Grundproblem bleibt, wenn man, wie es auch unser Text bei oberflächlicher Betrachtung tut, irdische und himmlische Schätze diametral gegeneinander stellt. Was mir dabei zu kurz kommt, ist die Freude.

Es gibt einen wunderschönen Satz, ich weiß leider nicht mehr von wem: »Die Seele nährt sich von dem, worüber sie sich freut«. Freude macht uns lebendig. Und zwar ganz, oder fast, unabhängig davon, worüber man sich freut. Es gibt unendlich viele Dinge, über die man sich freuen kann, und es sind für jeden wieder andere. Bücher oder Filme, ein Fußballspiel oder ein Bad im Meer, ein Abenteuer oder eine Wanderung, ein Hobby oder ein neues Wissensgebiet, in das man sich vertieft; und immer wieder Schönheit: die Schönheit einer Blume oder eines Kunstwerks oder einer Landschaft; das vertrauensvolle Anschmiegen eines Säuglings oder das freundliche Lächeln eines Unbekannten - und unendlich viel mehr. Das sind alles Dinge, an die wir normalerweise nicht denken, wenn wir vom religiösen Fühlen und Denken sprechen. Und doch kann davon manches oder vieles davon ebenso tief berühren, uns mit Freude erfüllen, für einen Moment oder für immer, immer wieder, meist umso mehr, je intensiver wir uns ihnen hingeben.

»Denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein«. Wir in unserer viel beschäftigten Wohlstandsgesellschaft messen unsere Schätze meist nicht so sehr in Geldwert als in Zeit. Und wir haben oft Hemmungen, unsere knappe Zeit zu vergeuden für Dinge, die "nur" Freude machen, die eigentlich egoistisch sind. Mit deshalb interpretieren wir den zitierten Satz in dem Sinn: hängt euer Herz nicht an unwesentliche Dinge, die vergänglich sind. Nach dem Kontext ist er wahrscheinlich so gemeint.

Trotzdem möchte ich ihn umgekehrt interpretieren: Habt den Mut, eure Zeit,und euer Herz auch an Dinge zu hängen, die nur Freude machen, denn auch unsere Seelen nähren sich von dem, was sie erfreut. Die vielen kleinen und großen Freuden machen unser Leben und damit die Welt reicher und vielgestaltiger. Insofern ist Freude, auch die, die ich zunächst nur für mich selbst genieße, nicht egoistisch, erst recht dann nicht, wenn ich versuche, sie mitzuteilen. Denn Freude steckt an. Es gibt Menschen, die sich leichter begeistern und unbefangener davon erzählen als andere. Sie sind ein Geschenk für viele, denn auch ihre Freude macht uns fröhlich - auch dann, wenn wir uns für ihr Thema gar nicht so sehr interessieren. Wir fühlen uns mit ihnen oft wohler als mit solchen, die mit heiligem Ernst ein gutes Leben führen (und damit uns ein schlechtes Gewissen machen). Insofern stiftet Freude auch Gemeinschaft. Religiös gesprochen: für mich ist Freude ein wichtiger, ein unverzichtbarer Bestandteil des Reiches Gottes, und damit sind es unsere kleinen und großen Freuden auch.

Ein Bestandteil, nicht der wichtigste. Das ist und bleibt, wie schon zu Beginn gesagt, die Nächstenliebe. Wenn mein Freund, mein Nächster mich braucht, oder auch nur kommt und mit mir reden will, dann ist das im Augenblick wichtiger als mein hochinteressantes Buch.

Freude kann man sich nicht machen, zumindest nicht immer. Aber man kann offen dafür sein, bereit, die vielen Anlässe, die es immer gibt, wahrzunehmen, bereit, sich mit zu freuen.

Und, um noch einmal auf den Text zurückzukommen: ich glaube, dass unsere Freuden, auch die weltlichen, Schätze sind, die nicht vergehen; nicht für uns selbst und nicht für die Welt. Die Erkenntnis, die ich aus einem Buch gewonnen habe, bleibt mir. Der Eindruck, den mir ein Bild gemacht hat, kann so lebendig sein, dass ich es auch später immer wieder vor meinem geistigen Auge habe. Und wenn es mit gelingt, etwas von meiner Freude weiterzugeben, trägt das ein kleines bisschen dazu bei, die Welt fröhlicher und damit ein wenig Reich-Gottes-ähnlicher zu machen.

Ich denke, es ist deutlich geworden: Wir, Herta und ich gehen von verschiedenen Voraussetzungen aus, benutzen verschiedene Argumente, und sind doch nicht zum gleichen, aber zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Mich hat das gefreut - deshalb habe ich einen Artikel daraus gemacht. Es gibt verschiedene Wege zu einem Ziel. Und das ist gut so. Vielleicht spricht den einen der eine Weg mehr an, den anderen der andere. Und wenn das Ziel dadurch ein bisschen weniger eindeutig wird, dann können die kleinen Unterschiede der Ansatzpunkt sein für einen neuen Gedankenweg.

There is a crack, a crack in everything - That's where the light comes in.

Brigitte Hoffmann

Der zweite Besuch des Tempelvorstehers in Deutschland

Bei meinem Besuch der TGD in Stuttgart vom 3. bis 20. Oktober war es mir vor allem darum zu tun, möglichst viele Gespräche mit Mitgliedern hier zu führen. Alles in allem war es für mich ein erfolgreicher Aufenthalt.

Der Tag nach meiner Ankunft begann mit dem Morgen-Kaffee im Templer-Verwaltungsbüro. Diese morgendliche Kaffeerunde ist eine schöne Gelegenheit, das Neueste aus dem Leben der Stuttgarter Gemeinde zu erfahren. Abends nahm mich dann Karin Klingbeil mit zu Brigitte Hoffmann, in deren Wohnung im Kreis der Gemeindeältesten eine Redaktionsbesprechung für die nächste »Warte«-Ausgabe stattfand.

Anschließend daran sprach ich einige Themen an, über die ich die Meinung der TGD-Ältesten einholen wollte:

Ich brachte zum Ausdruck, dass die TSA mit ihren Verbindungen zu den Progressiven Christen in Australien und die TGD mit ihrer Mitgliedschaft im Bund für Freies Christentum in Deutschland Beispiele dafür seien, wie ein Gemeindeleben auch ohne religiöse Dogmen gelingen könne.

Dann kam für mich die jährliche Mitgliederversammlung der TGD, bei der ich die Grüße der Templer in Australien überbrachte und kurz über das dortige Gemeindeleben berichtete. Am folgenden Morgen kam das Dankfest mit seinem religiösen Teil. Ich sprach zuerst darüber, wie die Tempelgesellschaft frei ist, Naturwissenschaft und Religion in einem Gesamtbild zu betrachten. In der Religion hören wir gewöhnlich Geschichten aus längst vergangenen Tagen, die das Weltbild ihrer Zeit zur Grundlage haben und mit der Zeit dogmatisch fixiert wurden. Wir sind aufgerufen, durch die dogmatische Erstarrung hindurch zu den eigentlichen religiösen Erkenntnissen der Damaligen durchzudringen. Peter Lange schloss sich mit einer Ansprache über die Dankbarkeit daran an. Die Saalbühne war mit Blumen und Früchten des Herbstes reich dekoriert, und die musikalischen Darbietungen von Rumi Hornung waren wundervoll. Wir Australier beneiden die TGD um diese großartige Musik.

An einem anderen Tag nahm mich Brigitte Hoffmann mit auf eine Wanderung durch Wald und Weinberge, um mir zu zeigen, dass man in höchstens zehn Minuten von der Stuttgarter Innenstadt aus "ins Grüne" gelangen kann. Beim Mittagessen konnten wir uns über Templer-Themen unterhalten.

Tags darauf begleitete mich Norle Henker ins Hoffeld-Heim, wo wir Elfi Frank besuchten, die mich sofort erkannte. Und am nächsten Tag fuhr Eberhard Bitzer mit mir an den Bodensee und zeigte mir interessante Orte und Landschaften. Wir frischten alte Erinnerungen an die Tage im Lager von Tatura auf.

Auch Eugen und Helene Pankratz bereicherten mein Besuchsprogramm, indem sie mit mir zum Probenabend ihres Degerlocher Chors gingen.

Der 17. Oktober war ein Höhepunkt meines Aufenthalts. Mit Otto Hammer und seiner Enkelin Thesi durfte ich nach Möttlingen zum Blumhardt-Haus fahren, wo ein Ortskundiger vom das Leben des Pfarrer Blumhardt erzählte. Blumhardt war durch seine Heilungen im Land bekannt geworden, durch die nach seiner Erkenntnis das Reich Gottes sichtbar wird. Sein Wirken hat damals auch die Templer beeinflusst.

Otto gab mir ein Buch von Johannes Seitz, der der Tempelgesellschaft beigetreten war, aber später zusammen mit Martin Blaich wieder austrat. Seitz war stark vom Denken Blumhardts geprägt und schrieb, wie sehr er auch von Hoffmanns Ideen vom Gottesreich beeindruckt gewesen sei. Doch er habe erkannt, dass er mit Hoffmann nicht den gleichen Weg gehen könne, wenn dieser in seinen Sendschreiben die religiösen Riten wie die Taufe als nutzlos ansieht, sofern man nicht seine Gesinnung ändert.

Dies waren nur einige wenige Beispiele für die interessanten Tage, die ich bei meinem kurzen Aufenthalt in Stuttgart verbrachte, und für die zahlreichen Freunde, die sich in dieser Zeit um mich gekümmert und mich hierhin und dorthin begleitet haben. Es waren ereignisreiche Tage für mich, und ich möchte allen herzlich danken, die mir ihre Zeit und Aufmerksamkeit zuwandten. Ich werde gerne wiederkommen.

Dr. Rolf Beilharz, Carlton

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Der Schlüssel zum Verständnis Jesu

»In dieser Zeit kam auch Jesus von Nazareth in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen. Als er aus dem Wasser stieg, sah er, wie der Himmel sich auftat und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Dabei hörte er eine Stimme vom Himmel sagen: Du bist mein geliebter Sohn, dich habe ich erwählt.«

(Mk 1,9-11, Übersetzung: Fritz Maass)

Diese prägnanten Anfangssätze aus dem Markusevangelium enthalten für unser Verständnis der Person Jesu wichtige Informationen. Man kann sie als einen Schlüsseltext bezeichnen. Die Kunde von Jesu Leben und Tod war noch nicht, wie später oftmals, mit spekulativen Deutungen über seine Herkunft und Mission ausgeschmückt worden.

Da erfahren wir gleich im ersten Satz, dass Jesus »aus Nazareth in Galiläa« an den Jordan gekommen war. Nichts deutet auf eine Heimat in Judäa hin. Seine Geburt in Bethlehem ist ihm nachträglich angedichtet worden, weil er in späterer Deutung wegen seines kraftvollen Auftretens ein Nachkomme Davids war, der - im Rückbezug auf eine altprophetische Weissagung - von dort kommen musste.

Weiterhin hat der Evangelien-Verfasser keinerlei Bedenken, Jesus als einen "Taufwilligen" darzustellen, der das Untertauchen im Jordan durch den Täufer als eine Tilgung von Schuld und Sünde und als eine Umkehr auf einen gottgefälligen Weg verstand. Die Auffassung von seinem sündlosen Wesen hat sich erst danach entwickelt. In den späteren Evangelien (Matthäus, Johannes) wird Jesus vom Täufer sofort als Messias erkannt, der in seiner Bedeutung weit über ihn hinausreicht.

Der eigentliche Höhepunkt der Taufschilderung ist sicherlich das Gotteserlebnis des Jesus. Der Bibelwissenschaftler Fritz Maass schreibt in seinem Markus-Kommentar, dass es nicht zu klären sei, ob Jesus sich erst bei der Taufe seiner Sendung bewusst geworden ist oder schon vorher eine messianische Berufung in sich gespürt hat. Doch das beschriebene Erlebnis vom göttlichen Geist und von der Stimme vom Himmel herab wirft ein bezeichnendes Licht auf die Wende, die im Leben des Mannes aus Nazareth eingetreten sein musste und die ihn zum Verkünder eines neuen Gottesverständnisses werden ließ. Manche zweifeln an der Geschichtlichkeit der Szene am Jordan. »Aber man muss vermuten, dass es einen solchen oder ähnlichen Vorgang im Leben Jesu gegeben hat«, wie ein Bibelforscher meint, »auch wenn er nicht überliefert worden wäre.«

Für uns erschließt sich aus der Schilderung der Taufe am Jordan die ganze Menschlichkeit Jesu. Einschneidende Erlebnisse im Leben eines Menschen gibt es auch heute. Sie können dem Betroffenen "die Augen öffnen" und zu einer neuen Welt- und Lebenssicht verhelfen. Oft auch zu religiöser Besinnung und Einkehr.

Peter Lange

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