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Neues aus dem Archiv

Sophie Rinker verh. Dyck

Eine der ersten Volksschullehrerinnen in Württemberg

Vor kurzem erschien eine umfangreiche Neuauflage der Ortschronik des Filderstädter Ortsteils Plattenhardt, herausgegeben vom städtischen Archiv. Darin wird u.a. das Schulwesen im 19. Jahrhundert in der damals noch selbständigen, landwirtschaftlich geprägten Gemeinde nach­gezeichnet.

Ein Bezug zur Tempelgesellschaft ergibt sich aus einem Beitrag der Heimatforscher Eva-Maria Klein und Herbert Neef über die erste Lehrerin an der Plattenhardter Volksschule, Sophie Rinker, die am 3. September 1835 bei Münsingen zur Welt kam. Ab 1859 besuchte sie das Privatlehrerinnenseminar in Ludwigsburg, die erste Ausbildungsstätte für Lehrerinnen evangelischen Glaubens in Württemberg. Erst im Jahr zuvor war die Einstellung von Lehrerinnen für Mädchenschulen - nur in den unteren Klassen - erlaubt worden, d.h. sie durften Unterlehrer und Lehrgehilfen, jedoch nicht Schulleiter werden. Sophie Rinker gehörte also zu den ersten Lehrerinnen in Württemberg überhaupt. Am Martinitag (11. November) des Jahres 1861 trat sie ihren Dienst in Plattenhardt an, vermutlich durch Vermittlung ihres Bruders Karl Ludwig, der an der dortigen Volksschule schon zweiter Lehrer war. Sophie übernahm nun die Stelle des dritten Lehrers, des sog. Lehramtsgehilfen. Gerhard und Sophie Dyck um 1890Im Jahr 1867 folgte sie ihrem Bruder nach, der sich wegen ständiger Querelen mit dem Schulleiter (Schulmeister) wegversetzen ließ und kurz darauf auswanderte. Alle drei Lehrer lebten bis dahin in einem Schulhaus, Sophie und ihr Bruder in zwei kleinen Mansarden unterm Dach. Bereits ein Jahr nach der Anstellung attestierte der Ortspfarrer, der die Aufsicht über die Schule innehatte, der neuen Lehrerin gute Erfolge bei der Erziehung der Kinder, aber besonders im Hinblick auf die Reinlich­keit der Schüler und des Schulgebäudes, ein wichti­ges Qualitätsmerkmal in der damaligen Zeit, das der Schulmeister - wie aus den Akten der Ortsschul­behörde hervorgeht - offenbar jahrelang vernachlässigt hatte. Nun kam es immer wieder zu Reibereien mit den beiden Nachwuchslehrern. Zur Ehrenrettung des Schulleiters muss allerdings gesagt werden, dass die männlichen Lehrer in den württembergischen Gemeinden mehr »Nebenaufgaben« zu erledigen hatten als ihre weiblichen Pendants. So mussten sie Mesnerdienste in der Kirche leisten, waren zum Vorsingen an der Orgel und zum Mitsingen bei Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen verpflichtet, mussten in der Kirche verwendete Tücher und Chorhemden waschen, die Kirchturmuhr aufziehen, die Kirche reinigen und die Schule heizen. Außerdem wurden auf das Gehalt des Schulmeisters in Plattenhardt auch »Natura­lien« in Form von zwei Äckern und einem Garten angerechnet, so dass er sich das Gehalt teilweise erst durch zusätzliche körperliche Arbeit verdienen musste - alles Erschwernisse, von denen seine junge Kollegin, deren Gehalt nicht wesentlich niedriger als seins war, verschont blieb. Kein Wunder, dass das Verhältnis zwischen ihnen belastet war. Hierzu trug vermutlich auch bei, dass der konservativ eingestellte Schulmeister aus der Unterschicht stammte, während die junge und tüchtige Kollegin als Tochter eines Schulleiters aus der Mittelschicht kam. Er empfand sie wohl auch als soziale Konkurrenz, die seine Position zu schwächen drohte. Pfarrer und Gemeinderat haben es aber offenbar nicht bereut, eine der ersten württembergischen Lehrerinnen eingestellt zu haben, denn in den Schulberichten wird Sophie Rinker immer wieder lobend erwähnt (»ohne Anstoß, anständig und ziemlich eingezogen«), während der Kirchenkonvent zur Versetzung des Schulmeisters wegen »Unverträglichkeit« riet. Bis Ende 1869 blieb Sophie Rinker noch in Plattenhardt und schied 1872 auf eigenen Antrag aus dem württembergischen Schuldienst aus.

In einer früheren Fassung des Beitrags von 1993 war an dieser Stelle Schluss mit der Beschreibung des Lebenswegs der ersten Plattenhardter Lehrerin, zumal es keine persön­lichen Aufzeichnungen von Sophie Rinker gab. In der Zwischenzeit konnte der Ko-Autor Herbert Neef jedoch - auch mit Unterstützung unseres Archivs - ihr weiteres Schicksal aufklären. Denn Sophie Rinker war wohl Ende der 1860er Jahre zu den Templern gestoßen und brach - nachdem ihre Mutter gestorben und vier ihrer Brüder ausgewandert waren - am 8. September 1872 gemeinsam mit 26 weiteren Personen nach Palästina auf, worüber die »Süddeutsche Warte« kurz darauf berichtete: »Außer diesen ist noch Fräulein Sophie Rinker zu nennen, die seit mehr als zehn Jahren als Lehrerin der vaterländischen Schule gedient hat, nun aber infolge eines Rufes des Herrn Hoffmann aus dem württembergischen Schuldienst ausgetreten ist, um in Jaffa an der dortigen Mädchenschule zu arbeiten. Bei der kleinen Anzahl von Schülern waren in der dortigen Schule die Mädchen und Knaben nicht getrennt. Nachdem nun aber die Schülerzahl sich vergrößert hat und das Pensionat für Knaben eröffnet und immer mehr von fremden Zöglingen besucht ist, war die Trennung der Geschlechter und die Gründung einer besonderen Mädchenschule ein unabweisbares Bedürfnis. Sophie und Gerhard Dyck um 1905Wir benutzen diese Gelegenheit, um der württembergischen Schulbehörde unseren Dank auszusprechen für die Bereitwilligkeit und Uneigennützigkeit, mit welcher sie diese tüchtige Lehrerin unserem Missionswerk abgetreten hat.«

Es war wohl an der Schule in Jaffa, wo Sophie Rinker den aus Russland eingewanderten und von Mennoniten abstammenden Lehrer Gerhard Dyck kennenlernte, den sie am 7. Februar 1875 heiratete. Nach der Heirat schied sie aus dem Schuldienst aus; 1877 wurde die erste Tochter Sophie Kathari­na, 1879 die zweite Tochter Gertrud geboren. 1879 wechselte Gerhard Dyck an eine Mädchenschule nach Haifa; 1893 kam er als Lehrer an das Lyzeum der Templerkolonie in Jerusalem. Im Jahre 1907 schließlich wechselte er als Lehrer an die Schule der neuen Tempelkolonie Wilhelma, wo er anfänglich gemeinsam mit Frau und Tochter Gertrud (für weibliche Handarbeiten) unterrichtete. Sophie Dyck wurde abgelöst, als 1908 Johann Dreher aus Sarona als zweiter Lehrer eingestellt wurde. In der »Jerusalemer Warte« vom 12. April 1915 findet sich ihre Todesanzeige, aus der hervorgeht, dass sie nach neunmonatiger Krankheit am 30. März 1915 in Wilhelma verstarb. Dort wurde sie auch beerdigt.

Als im Verlauf des Ersten Weltkriegs die Bewohner der Südkolonien interniert wurden, unterrichtete Gerhard Dyck zusammen mit einigen Hilfskräften die in Jaffa/Wilhelma inter­nierten Schulkinder weiter und setzte seine Tätigkeit auch im Internierungslager Al Hayat bei Helouan in Ägypten fort. 1920 durfte ein Teil der Templer wieder nach Palästina zurückkehren, darunter auch Gerhard Dyck. Er unterrichtete zunächst an der Schule der Kolonie Betlehem; nach einem Jahr kehrte er aber wieder nach Wilhelma zurück. Erst 1923, im Alter von 79 Jahren, trat er in den Ruhestand und zog zur Familie seiner Tochter Sophie Katharina nach Jerusalem, wo er am 11. Dezember 1932 starb. Entsprechend seinem Wunsch wurde er auf dem Friedhof in Wilhelma begraben. Nach der Auflassung des Friedhofs nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auch die sterblichen Überreste von Sophie und Gerhard Dyck in das Sammelgrab auf dem Templerfriedhof in Jerusalem umgebettet.

Die jüngere Tochter Gertrud blieb unverheiratet und starb 1963 in Boronia. Ihre ältere Schwester Sophie Katharina heiratete 1904 in Jerusalem Christian Imberger und starb 1947 in Jerusalem. Das Ehepaar hatte sieben Kinder, deren zahlreiche Nachkommen heute in Australien und in Deutschland leben.

Das Stadtarchiv war schon seit langer Zeit auf der Suche nach Fotos der ersten Lehrerin Plattenhardts. Erfreulicherweise konnten wir nun zwei Aufnahmen, die Sophie mit ihrem Ehemann zeigen und die jetzt in der Ortschronik abgedruckt sind, zur Verfügung stellen, was Stadtarchivar Dr. Back als »fast wie Weihnachten« bezeichnete. Ein herzliches Wort des Dankes gilt unsererseits auch Birgit Arnold, die insbesondere zu den Vorfahren von Sophie Rinker wichtige Informationen beisteuern konnte.

Jörg Klingbeil

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