Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 181/2 - Februar 2025

 

 

Albert Schweitzer als liberaler Theologe - Prof. Dr. Werner Zager

Vom Streiten und Richten - Jörg Klingbeil

Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon - Karin Klingbeil

Vorbilder der Toleranz? - Jörg Klingbeil

 

Wir danken Prof. Dr. Werner Zager, Präsident des Bundes für Freies Christentum, sehr herz­lich für die Abdruckerlaubnis seines Artikels über Albert Schweitzer als liberalen Theologen für den nächsten Albert-Schweitzer-Rundbrief, den er uns schon heute für die Veröffentlichung in der „Warte“ überlassen hat. In Absprache mit dem Autor haben wir hier die Fußnoten wegge­lassen.

Albert Schweitzer als liberaler Theologe

Zur Aktualität seiner Theologie

Wenn auch vielen Zeitgenossen Albert Schweitzer nur noch als praktizierender Humanist und Begründer des Tropenhospitals in Lambarene bekannt ist, so darf darüber der theologische und philosophische Denker nicht vergessen werden. Schweitzer war nämlich von seiner aka­demischen Laufbahn her Theologe und blieb dies auch bis zu seinem Lebensende.

Im Folgenden werde ich versuchen, in vier Abschnitten die Aktualität seiner Theologie he­rauszuarbeiten: 1. Mut zum eigenen Denken, 2. „Ehrfurcht vor der geschichtlichen Wahrheit“, 3. Den­ken und Frömmigkeit verbindende Predigt, 4. „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“. Darauf folgt noch ein Exkurs: Albert Schweitzer und die Mystik. Schließen möchte ich mit einem Resümee, das Schweitzers Einsichten für uns heute auf den Punkt bringt, sowie mit einem Ausblick.

1. Mut zum eigenen Denken

Da das, was das theologische Profil des Straßburger Neutestamentlers ausmacht, bereits in seiner Kindheit und Jugend angelegt ist, wähle ich einen biographischen Einstieg. Albert Schweitzer wuchs in einem liberalen Pfarrhaus im oberelsässischen Günsbach auf. In der Tra­dition liberaler Theologie stand bereits sein Großvater mütterlicherseits, den der kleine Albert freilich nicht mehr kennengelernt hat. In seiner Schrift „Aus meiner Kindheit und Jugendzeit“ charakterisierte Schweitzer ihn als einen „Eiferer für Aufklärung“: „Er hatte noch ganz den Geist des 18. Jahrhunderts an sich. Nach der Kirche teilte er den Leuten, die ihn auf der Straße erwarteten, die politischen Nachrichten mit und machte sie auch mit den neuesten Entdeckungen des Menschengeistes bekannt. War etwas am Himmel zu sehen, so stellte er abends vor seinem Hause das Fernrohr auf und ließ jedermann hineinschauen.“

Für die religiöse Erziehung im Günsbacher Pfarrhaus war es kennzeichnend, Fragen zuzu­lassen und zum eigenständigen Denken zu ermutigen. Dazu passt, dass Louis Schweitzer sei­nem achtjährigen Sohn auf dessen Bitten hin ein Neues Testament schenkte, in dem dieser eifrig las. Albert Schweitzer erinnerte sich später als Erwachsener: „Zu den Geschichten, die mich am meisten beschäftigten, gehörte die von den Weisen aus dem Morgenland. Was haben die Eltern Jesu mit dem Gold und den Kostbarkeiten gemacht, die sie von diesen Män­nern bekamen? fragte ich mich. Wie konnten sie nachher wieder arm sein? Ganz unbegreiflich war mir, daß die Weisen aus dem Morgenland sich später um das Jesuskind gar nicht mehr bekümmerten. Auch daß von den Hirten zu Bethlehem nicht erzählt wird, sie seien nachher Jünger Jesu geworden, gab mir schweren Anstoß.“ Es fällt auf, wie nahe verwandt solche religiösen Kinderfragen mit historisch-kritischer Exegese sind, die ihr Augenmerk nicht zuletzt auf Spannungen und Brüche in den biblischen Texten richtet.

Und so verwundert es nicht, dass der Konfirmand Albert Schweitzer innerlich protestierte, wenn sein Konfirmator im Unterricht die Meinung vertrat, „daß vor dem Glauben alles Nach­denken verstummen müsse“. Vielmehr war er schon damals davon überzeugt, „daß die Wahr­heit der Grundgedanken des Christentums sich gerade im Nachdenken zu bewähren habe“. Wahrer Glaube ist denkender Glaube. Dementsprechend setzte sich Schweitzer als Vikar an St. Nicolai in Straßburg zum Ziel seines Konfirmandenunterrichts, den ihm anvertrauten Ju­gendlichen „die Grundwahrheiten der Religion Jesu als etwas mit dem Denken zu Vereinen­des“ nahezubringen.

In der Zeit der Pubertät wurde der Heranwachsende von einem Drang zu diskutieren be­herrscht. Schweitzer wörtlich: „Mit jedem Menschen, der mir in den Weg geriet, wollte ich über die Fragen, die gerade berührt wurden, eingehende und vernunftgemäße Überlegungen an­stellen, um dabei die Irrtümer der Gewohnheitsmeinungen aufzudecken und das Richtige zur Geltung zu bringen.“ Mochte er auch Jahre später sein damaliges Verhalten als unausstehlich beurteilen, das Streben nach Wahrheit im Gespräch mit anderen blieb für ihn unaufgebbar. 1924 bekannte er: „Eigentlich bin ich geblieben, was ich damals wurde. Klar habe ich gefühlt, daß, wenn ich von meinem Enthusiasmus für das im Denken erkannte Wahre und Zweckmäßi­ge abließe, ich damit mich selber aufgeben würde. So bin ich eigentlich noch so unausstehlich wie damals. Nur suche ich es, so gut ich kann, mit der im Umgang erforderlichen Gesittung zu vereinigen [...].“

Bereits in seinem ersten Studienjahr an der Straßburger Universität machte der junge Theo­logiestudent eine seine weitere theologische Arbeit bestimmende Entdeckung: Während eines Militärmanövers, das er im Herbst 1894 abzuleisten hatte, bereitete er sich innerhalb der ihm verbleibenden freien Zeit zur Erlangung eines Stipendiums auf eine Prüfung über die synop­tischen Evangelien - d.h. über das Matthäus-, Markus- und Lukasevangelium - vor. Nachdem er bereits im Sommer zuvor den Synoptikerkommentar seines Lehrers und Prüfers, Heinrich Julius Holtzmann (1832-1910), studiert hatte, befasste er sich nun mit den griechischen Texten selbst. Daraus resultierte die durch eigene Reflexion gewonnene Einsicht, „daß Jesus nicht ein von ihm und den Gläubigen in der natürlichen Welt zu gründendes und zu verwirklichendes Reich verkündet habe, sondern eines, das mit dem baldigen Anbruch der übernatürlichen Weltzeit zu erwarten sei“.

Während der folgenden Studienjahre beschäftigte sich Schweitzer auch weiterhin „in selb­ständiger Weise mit der Evangelienfrage und den Problemen des Lebens Jesu“, wobei er häu­fig die anderen theologischen Disziplinen vernachlässigte. In seiner Autobiographie bemerkt er dazu: „Wie dankbar empfand ich es, daß die deutsche Universität den Studenten in seinen Studien nicht so bevormundet und ihn nicht durch ständige Examen so in Atem hält, wie es in andern Staaten der Fall ist, und daß sie ihm die Möglichkeit selbständiger wissenschaftlicher Arbeit bietet!“ Angesichts der im Zuge des Bologna-Prozesses sich vollziehenden Verschulung des Studiums kommt Schweitzers Plädoyer für selbstständiges Denken und wissenschaftli­ches Arbeiten eine besondere Aktualität zu. Aber auch innerhalb von Kirche und Gesellschaft ist es eine stets neu wahrzunehmende Aufgabe evangelischer Theologie, dem Wahlspruch der Aufklärung Geltung zu verschaffen: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

2. „Ehrfurcht vor der geschichtlichen Wahrheit“ oder: Auf dem Weg zu einem wahrhafti­gen Christentum

1906 in erster Auflage unter dem Titel „Von Reimarus zu Wrede“ erschienen, bietet die „Ge­schichte der Leben-Jesu-Forschung“ - so der Titel seit der zweiten Auflage von 1913 - einen glänzend geschriebenen Forschungsbericht, der sich über 150 Jahre erstreckt. Im Sinne Schweitzers bilden die Namen von Hermann Samuel Reimarus (1684-1768) mit seiner post­hum von Lessing ohne Nennung des Verfassers herausgegebenen Abhandlung „Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger“ und von William Wrede (1859-1907) mit seiner Untersuchung „Das Messiasgeheimnis in den Evangelien“ (1901) die beiden Pole, zwischen denen sich die Leben-Jesu-Forschung bewegt.

Die Geschichte der historischen Jesusforschung sieht Schweitzer durch drei große Entwe­der-oder bestimmt: „Das erste hatte [David Friedrich] Strauß gestellt: entweder rein geschicht­lich oder rein übernatürlich; das zweite hatten die Tübinger und [Heinrich Julius] Holtzmann durchgekämpft: entweder synoptisch oder johanneisch; nun das dritte: entweder eschatolo­gisch [d.h. von endzeitlicher Naherwartung bestimmt] oder uneschatologisch!“ Nachdem die beiden ersten Entweder-oder bereits entschieden sind, plädiert Schweitzer beim dritten für die „Lösung der konsequenten Eschatologie“. Danach sind - über Johannes Weiß (1863-1914) hi­nausgehend - nicht nur Jesu Predigt und Selbstverständnis, sondern auch seine gesamte öf­fentliche Wirksamkeit im Lichte jüdischer Endzeiterwartung zu interpretieren.

Den Ertrag der Leben-Jesu-Forschung des 18. und 19. Jahrhunderts beurteilte Schweitzer als negativ: Abgesehen von der Vielfalt der Jesusbilder, die die Leben-Jesu-Forschung hervor­brachte, ist es vor allem die Einsicht, dass der historische Jesus den religiösen Vorstellungen seiner Zeit verhaftet war und sich mit der Naherwartung des Reiches Gottes irrte, die es unmöglich macht, auf den historischen Jesus den christlichen Glauben zu gründen. So wirft Schweitzer in der Schlussvorlesung seines Kollegs „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ die Frage auf:

„Ist Jesus in dem Sinne noch Autorität in der christlichen Religion wie bisher?“ Seine „Ant­wort: Nein. Er ist es schon lange nicht mehr gewesen; denn Autorität in dem Sinne, wie man ihn postuliert, daß die Gleichung gilt: Jesus = christliche Religion, ist er nicht gewesen. Seine Anschauungen von Gott und Welt sind nicht die unsrigen. Seine ethische Begründung ist nicht die unsrige. Das fühlte man und hat darüber hinweggeschaut, um diese Frage nicht herbeizu­ziehen, und nun ist durch den Ausgang der Leben-Jesu-Forschung diese Frage herbeige­zwungen worden. Es ist nachgewiesen, daß Jesus, historisch, in einer ganz andern Welt steht als die, in der wir leben, und daß die Welt, die für ihn die Zukunft war, nicht eingetreten ist; denn unsere Welt ist eine andere, und Jesus ist nicht Autorität, weil er sich geirrt hat, weil etwas von dem, was er voraussagte, nicht eingetroffen ist.“

Das ändert aber nichts daran, dass die Leben-Jesu-Forschung als ein „Wahrhaftigkeitsweg“ zu rühmen ist, der letztlich nicht zur Auflösung der christlichen Religion, sondern zu deren tieferem Verständnis führt. Der Ruhm der wissenschaftlichen Theologie besteht nach Schweit­zer darin, „daß sie es wagte wahrhaftig zu sein“.

Jesus kann also Schweitzer zufolge für uns keine Autorität der Erkenntnis sein; denn er hat sich in der Naherwartung des Reiches Gottes geirrt. Aber er kann sehr wohl eine „Lebens­autorität“ sein - so wie bereits für die frühen Christen. Jesu Lebensautorität verwirklicht sich in der „mystischen Lebensgemeinschaft“ mit ihm, die ursprünglich durch das Leiden vermittelt war.

Angesichts der veränderten Weltsituation sei jedoch an die Stelle der „Gemeinschaft des Leidens“ die „Gemeinschaft des Wirkens und Wollens“ getreten. Und mit diesem Gedanken hat Schweitzer die Lösung des hermeneutischen Problems angebahnt, d.h. wie wir als aufge­klärte Menschen einen Zugang zu Jesus finden können: Lässt man zeitgebundene Vorstel­lungen beiseite, die Jesus als Mensch seiner Zeit teilte, so ist ein „Verstehen von Wille zu Wille“ möglich.

Schweitzer formuliert:

„Unser Verhältnis zum historischen Jesus muß zugleich ein wahrhaftiges und ein freies sein. Wir geben der Geschichte ihr Recht und machen uns von seinem Vorstellungsmaterial frei. Aber unter den dahinter stehenden gewaltigen Willen beugen wir uns und suchen ihm in unse­rer Zeit zu dienen, daß er in dem unsrigen zu neuem Leben und Wirken geboren werde und an unserer und der Welt Vollendung arbeite. Darin finden wir das Eins-Sein mit dem unendlichen sittlichen Weltwillen und werden Kinder des Reiches Gottes.“

Zum Wandel im Vorstellungsmaterial rechnet Schweitzer, dass wir das Reich Gottes nicht mehr wie Jesus von einem endgültigen Eingreifen Gottes in die Geschichte erwarten. Vielmehr ist dessen Realisierung in unsere Hände gelegt.

„Nur darauf kommt es an“ - so Schweitzer -, „daß wir den Gedanken des durch sittliche Arbeit zu schaffenden Reiches mit derselben Vehemenz denken, mit der er [sc. Jesus] den von göttlicher Intervention zu erwartenden in sich bewegte, und miteinander wissen, daß wir imstande sein müssen, alles dafür dahinzugeben.“

Werner Zager

 

Fortsetzung in der nächsten Ausgabe

Vom Streiten und Richten

Gedanken zum Römerbrief Kapitel 14

Wir spüren nicht nur im aktuellen Bundestagswahlkampf, wie groß die Versuchung ist, die Ge­sellschaft zu spalten und den politischen Gegner verächtlich zu machen. Wir merken, wie drin­gend notwendig der faire Umgang miteinander und auch der Respekt vor der abweichenden Meinung anderer ist (auch wenn das manchmal schwerfällt). Wir brauchen mehr denn je ein gemeinsames Verständnis von dem, was uns trägt, und von den Werten, für die wir eintreten wollen. Ich finde es dabei hilfreich, wenn wir uns nicht zu wichtig nehmen und uns den göttlichen Urgrund allen Seins immer wieder bewusst machen. Jeder Mensch ist doch ein einzigartiges, unverwechselbares Wesen, ausgestattet mit den gleichen unveräußerlichen Rechten, jeder auf der Suche nach Glück für sich und die Menschen, die er liebt. Jeder ist anders, wir sind alle anders - aber doch dem Wesen nach gleich. Als gläubige Menschen können wir die tröstende Gewissheit haben, dass wir aufgehoben sind und dass unser Leben einen Sinn hat, auch wenn wir ihn nicht immer erkennen mögen. Das kann zu mehr Duldsam­keit, Gelassenheit und Empathie führen. So können wir vielleicht auch die Lebenskraft spüren, die unser Herz und unseren Atem bewegt, die Energie, die in uns hinein- und aus uns herausströmt. Durch diese Lebenskraft können wir eins werden mit dem göttlichen Wesen über uns und um uns, aber auch mit den anderen Menschen, die in gleicher Weise, mit den gleichen Wünschen und Sorgen vor Gott stehen, der sich uns in dieser Verbundenheit zugleich offenbart.

 

Gott, du offenbarst dich in all den Beziehungen,
die wir im Leben erfahren;
in den Verpflichtungen, die wir erfüllen,
und in den Zeichen deiner Güte,
die wir täglich erleben.
Du bist Vater und Mutter für uns;
du bist der Ursprung, von dem wir kommen
und zu dem wir zurückkehren.
Du bist unser Ziel und unser Trost auf dem Lebensweg.

Amen.

 

Gott, du offenbarst dich in all den Beziehungen, die wir im Leben erfahren. So heißt es in die­sem tiefgründigen jüdischen Gebet. Zwischenmenschliche Beziehungen kommen auch in der Bibel immer wieder zur Sprache, insbesondere bei dem wohl bedeutendsten Gratwanderer zwischen der jüdischen Welt und dem jungen Christentum, nämlich Paulus. Er hat dieses ge­prägt wie sonst kaum ein anderer, obwohl er am Beginn seiner Karriere ein fanatischer Christenhasser war. Inhaltlich spiegeln sich auch im 14. Kapitel seines Briefes an die junge Gemeinde in Rom die Erfahrungen seiner bisherigen Missionstätigkeit wider, insbesondere die Auseinandersetzungen um die Beachtung des Gesetzes, das heißt der jüdischen Religionsvor­schriften. Seine zahlreichen Mahnungen und Ratschläge, die im 12. Kapitel beginnen, bezie­hen sich auf die Bewältigung innergemeindlicher Spannungen wegen unterschiedlicher Auffas­sungen über den richtigen christlichen Lebensstil. Da geht es um die strengen Speisevorschrif­ten ebenso wie um die Beachtung der jüdischen Feiertage oder das Thema der rituellen Be­schneidung.

In der Luther-Übersetzung von 2017 ist das Kapitel überschrieben mit dem Titel „Von den Starken und den Schwachen im Glauben“, wobei mit den „Schwachen“ offenbar diejenigen gemeint sind, die die strengen vorchristlichen Vorschriften noch nicht überwunden hatten und sich an die jüdischen Regeln halten wollten. Ihnen gegenüber standen die „Starken“, also die „Heidenchristen“, die die strengen jüdischen Vorschriften als für sich nicht relevant betrachte­ten. Hier ermahnt Paulus nun, die gegenseitigen Standpunkte zu respektieren und nicht über Meinungen zu streiten. Das finde ich bei allen Problemen, die mir sonst die christologische Ausrichtung bei Paulus bereitet, eine ganz wunderbare Aussage. Für ihn haben die jeweiligen Standpunkte zum Thema Speisegebot oder Sabbatgebot offenkundig keinen Bekenntnischa­rakter, sondern stellen „Meinungen“ dar, die nicht existenziell wichtig sind. Paulus weiß, wie zerbrechlich die jungen Gemeinden mit der unterschiedlichen Herkunft ihrer Mitglieder noch sind. Ihnen sagt er, lasst die andern bei ihrer Meinung, so wie ihr auch eure haben könnt. We­nig später schreibt er dann: Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander. Zerstöre nicht um der Speise willen Gottes Werk. Oder fast noch deutlicher in Vers 22: Den Glauben, den du hast, behalte bei dir selbst vor Gott. Selig ist, der sich selbst nicht zu verurteilen braucht, wenn er sich prüft.

Nach Ansicht des Paulus entscheidet sich in einer Gemeinschaft die Frage, wer in Glau­bensdingen Recht hat, nicht im Verhältnis untereinander, sondern im bilateralen Verhältnis des einzelnen zu Gott. Nicht die private Überzeugung, sondern die Verantwortung vor Gott ist für ihn das Entscheidende. Wenn man sich klar macht, welche dogmatischen Verrenkungen die Kirchen in den Jahrhunderten danach vollführt haben, um Gehorsam in Glaubensfragen einzufordern und Abweichler auszugrenzen, dann wird deutlich, wie weit wir uns seither von dem Toleranzappell des Paulus entfernt haben. Heute brauchen wir „Frieden und Erbauung untereinander“ (Vers 19) mehr denn je, nicht nur im Bereich der Konfessionen und Religionen.

Es geht aber nicht nur ums Streiten, sondern auch ums Richten, das ja - wie wir wissen - leider oft genug mit dem Streit eng verbunden ist. Denn wer streitet, hat eine bestimmte Meinung, die er für die richtige hält, und er hält fast automatisch die abweichende Meinung anderer für falsch. Weil dabei häufig genug Emotionen im Spiel sind, droht im Streit eine nur schwer beherrschbare Eskalation. In den Versen 10-13 spricht Paulus den Mitgliedern der Ge­meinde nun das Recht ab, andere zu richten oder sogar zu verachten. Diese Herausforderung gilt auch für uns bis heute.

Woher nimmt der Mensch das Recht zu richten? Diese Frage hat mich zugegebenermaßen früher mehr als heute beschäftigt. Aber die Frage nach der Berechtigung zum Richten richtet sich ja nicht nur an Juristen. Schwierige und manchmal sogar unangenehme Entscheidungen bleiben einem in keinem Beruf und auch im Privatleben nicht erspart. Entscheidungen, bei de­nen man sich hinterher vielleicht fragt, ob man richtig entschieden hat, ob man alle Aspekte berücksichtigt und das Für und Wider richtig abgewogen hat. Das war wohl immer so und wird immer so sein.

Ich denke aber, Paulus hat eine andere Art von Entscheiden und von Richten gemeint mit seiner vorwurfsvollen Frage: „Du aber, was richtest du deinen Bruder?“ So ähnlich sagt es ja auch Jesus: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ (Matthäus 7,1). Wir können uns im Grunde eine Gesellschaft ohne Gerichte, ohne Strafen, ohne belastende Entscheidungen gar nicht vorstellen. Würde das nicht gerade zur Anarchie, zur Willkür und zur Ungerechtigkeit führen? Aber Paulus hat ja nicht gesagt, dass es im gesellschaftlichen Zusammenleben keine harten Entscheidungen und keine Verurteilungen geben darf. Verurteilungen eben in dem Sinne einer Zuweisung von Verantwortung, einer Klärung, dass ein bestimmtes Handeln auch bestimmte Konsequenzen haben muss. Paulus ging es primär um das innere Gemeindeleben und vor allem um Glaubensfragen. Er wollte den Gemeindemitgliedern deutlich machen, dass sie sich gegenseitig nicht abqualifizieren oder gar verdammen sollen, darauf konnte man eine Gemeinschaft nicht aufbauen. Nicht das Beachten oder Nichtbeachten der religiösen Gebote war für ihn das Problem, sondern dieses entstand nur dann, wenn jemand seine eigene Meinung, seine eigene Lebensweise, die er für sich als richtig erkannt hatte, auch zur Norm für andere machen wollte. Auch wir werden als Gesellschaft immer Normen und Regeln brau­chen, damit wir in Frieden miteinander leben können. Aber wir können und müssen es auch ertragen, wenn jemand eine andere Meinung hat als wir, wenn er andere Regeln beachtet. Und wir können abweichende Meinungen leichter aushalten, wenn wir uns bewusst machen, dass sich letztlich jeder selbst vor Gott zu verantworten hat.

Jörg Klingbeil in der Ansprache beim Gemeindenachmittag am 12. Januar 2025

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon

(Lukas 16,13)

Was Jesus mit diesem Satz sagen will, verstehen wir intuitiv, zumal das aramäische Wort ‚Mam­mon‘ ein biblischer Begriff für jenen Reichtum ist, der den entwürdigenden Einfluss eben dieses Reichtums beschreibt. In unserem Sprachgebrauch denke ich da etwa an das Sprichwort „Geld verdirbt den Charakter“. Und Beispiele dafür kennen wir wahrscheinlich alle - aber wenn das eine Platitude ist, warum wird der Ausspruch von Jesus in der Bibel übermittelt?

Wenn wir uns einmal ansehen, in welchem Zusammenhang der Ausspruch Jesu steht, stel­len wir fest, dass er im Anschluss an das bemerkenswerte Gleichnis vom untreuen Verwalter steht. Dieses hat schon immer Anstoß erregt, weil hier Jesus eine zweifelhafte Handlung als vorbildlich darstellt.

Dabei wird Reichtum im Alten Testament nicht negativ gesehen, auch wenn es Warnungen dazu gibt. Aber hier wird er eher als Segen Gottes verstanden - die Erzväter werden als reich beschrieben und bei Salomo heißt es: Der Segen des Herrn bringt Reichtum. Auch Hiobs Geschichte endet damit, dass Gott ihn mit einem langen Leben und dem Doppelten seines frü­heren schon reichhaltigen Besitzes segnet.

Dagegen hat Jesus eine kritische Haltung zum Umgang mit Geld und denkt ganz anders. Für ihn sind Geld und Besitz an sich kein besonderes Thema; wo es in seinen Gleichnissen um Reichtum und Besitz geht, denkt Jesus mehr an die negativen Begleiterscheinungen von Habgier und Geiz - Wo dein Schatz ist, ist auch dein Herz! Deshalb verzichten er und sein engster Jüngerkreis gänzlich darauf und leben vom Almosen anderer. Almosen kann allerdings auch nur der geben, der etwas besitzt - und offenbar gehören auch begüterte Menschen zu Jesu Anhängern, denn Jesus war oft mit einer größeren Gruppe unterwegs, konnte bei Freunden einkehren, wo alle verköstigt wurden.

Jesu Thema war das Reich Gottes - und mit Geld kann man es sich nicht erkaufen. Wer Geld hat, hat Macht - es vermittelt Sicherheit und Unabhängigkeit, und deshalb fürchten die Besitzenden um dessen Verlust. Für Jesus ist das ohnehin eine falsche Sicherheit, weil die wahre für ihn im Gottvertrauen liegt - und das verleiht dann auch wahre Unabhängigkeit.

Der untreue Verwalter hat zumindest verstanden, dass es nicht das Geld ist, das ihm Zukunft gibt, deshalb verwendet er es dafür, sich Freunde zu machen: schließlich ist es die Le­bens- und Gütergemeinschaft der Freunde, die über Glück und Unglück der Menschen entscheidet. So könnte man in Abwandlung vielleicht sagen: Ihr könnt Gott dienen mit dem Mammon!

Karin Klingbeil

Vorbilder der Toleranz?

Vor 500 Jahren entstand die Täuferbewegung

Als „linker Flügel der Reformation“ wurde sie später mitunter bezeichnet, die Täuferbewegung. Sie propagierte die Erwachsenentaufe, weil Grundlage der Taufe nur der in mündiger Verant­wortung bekannte Glauben des Einzelnen sein könne. Sie wollten selbstbestimmt entscheiden, ob und wann sie sich als Erwachsene taufen lassen. Die Täufer betonten die Glaubens- und Gewissensfreiheit und traten für eine Kirche ohne Hierarchie und Klerus ein, jedenfalls für radi­kalere Reformen im Christentum als beispielsweise Martin Luther und Ulrich Zwingli. Dadurch gerieten sie in Gegensatz zu den weltlichen und geistlichen Autoritäten der Reformationszeit. Sie lehnten Eide ebenso ab wie den Militärdienst, was sie in den Augen der Obrigkeit beson­ders suspekt machte.

Die erste Erwachsenentaufe erfolgte im Januar 1525 bei einer Versammlung in Zürich. Nach dem Geschichtsbuch der Hutterischen Brüder war der ehemalige römisch-katholische Priester Jörg Blaurock der erste, der den Prediger Konrad Grebel bat „um Gottes Willen, dass er ihn taufen möge mit der rechten christlichen Taufe auf seinen Glauben und seine Erkenntnis“. Die­ser nahm daraufhin eine Schöpfkelle voll Wasser und goss sie über den Täufling. Alle anderen Anwesenden ließen sich ebenfalls taufen - ungeachtet eines kirchlichen Verbots. Kurz zuvor hatte der Zürcher Rat jedem mit der Verbannung gedroht, der sein Kind nicht innerhalb von acht Tagen nach seiner Geburt taufen lässt. Außerdem wurden die Prediger mit einem Rede­verbot belegt - dennoch kam es zur Massentaufe. Danach verschärfte sich die Auseinander­setzung. Im März 1526 drohte die Stadt Zürich jedem Täufer mit dem Tod; ein Prediger wurde 1527 in der Limmat ertränkt. Viele Täufer flohen und ließen sich woanders nieder. Hauptsäch­lich in Mähren, im Elsass, am Niederrhein und in den Niederlanden, später auch in Amerika, gründeten sie neue Täufergemeinden. Auf diese Weise verbreitete sich die radikale Reform­bewegung von der Schweiz aus fast weltweit. Reformatoren wie Luther und Melanchthon wa­ren besorgt, dass die weitere Unterstützung der Reformation durch ihre Landesherren schwin­den könnte, wenn die radikalen Täufer die Oberhand gewinnen sollten. Sie drängten daher auf eine strenge Verfolgung. Der Reichstag in Speyer verhängte 1529 die Todesstrafe; im „Augs­burger Bekenntnis“ von 1530 wurden die Täufer als Ketzer gebrandmarkt. Überall im Reich loderten die Scheiterhaufen; auch Jörg Blaurock wurde 1529 hingerichtet.

Trotz der zum Teil brutalen Verfolgung gelang es Täufern, bei einer Ratswahl in Münster die Mehrheit zu erringen. Für wenige Jahre entstand das „Täuferreich von Münster“. Die Anführer gingen vom nahenden Weltende aus und verboten Privateigentum; Kirchen und Klöster wur­den gestürmt und verwüstet, Kunstwerke und Bücher verbrannt, Gegner hingerichtet. Schließ­lich bereitete der Fürstbischof von Münster 1535 dem Spuk ein Ende. Seine Truppen stürmten die Stadt; in einer Gewaltorgie wurden Hunderte Täufer getötet. Die verstümmelten Leichen der Anführer wurden zur Abschreckung jahrzehntelang in Käfigen am Turm der Lambertikirche aufgehängt - die (leeren) Käfige hängen heute noch dort.

In der Folgezeit setzten sich bei den Täufern jene durch, die für strikte Gewaltfreiheit eintra­ten. Dennoch geriet die Täuferbewegung für lange Zeit in Verruf. Sie wurde von den etablier­ten Kirchen als „schlimme Verirrung“, als Schwärmerei und Ketzerei gebrandmarkt. Dabei spielten theologische Argumente, aber auch weltliche Gründe eine Rolle. Für den Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann war die Ablehnung der Kindertaufe eine mehr oder we­niger offene Kampfansage an die prominenten Reformatoren. Denn sie bedeutete, „die Erb­sündenlehre bzw. das ihr zugrundeliegende Menschenbild und das mit ihr verbundene Erlö­sungskonzept infrage zu stellen, dazu die Rolle der Amtsgeistlichkeit und nicht zuletzt die Notwendigkeit der Heilsanstalt Kirche. ... Luther hat an der Kindertaufe festgehalten, weil er der Bekenntnistaufe unterstellte, dass der Mensch dadurch etwas für sein Heil tun will. Also hat er letztlich von seiner Rechtfertigungstheologie her gegen die Entscheidungstaufe argu­mentiert.“ Zwingli habe dagegen von seinem Verständnis der Taufe in Analogie zur Beschnei­dung her gedacht: So wie der Beschneidungsritus an Säuglingen vollzogen werde, so solle es auch bei der Taufe sein, diese als Bundeszeichen des Neuen Bundes.

Zu den weltlichen Motiven einer Bekämpfung der Täuferbewegung zählte neben der Furcht vor Anarchie und Chaos auch die Rolle der Kirchenbücher, die damals die Funktion heutiger Melderegister hatten. Sie waren für die Steuererhebung erforderlich, aber auch für die Rekru­tierung von Soldaten. Man konnte nicht Bürger eines Landes sein, ohne getauft zu sein. Die Kindertaufe war deshalb für die Obrigkeit wichtig.

In der direkten Nachfolge der reformatorischen Täuferbewegung sehen sich heute vor allem die Gemeinden der Mennoniten, Hutterer und Amischen. Verbindungslinien gibt es auch zu den Baptisten, die von Anfang an entschieden für Glaubens- und Religionsfreiheit sowie die Erwachsenentaufe eintraten. Diese sehen sich allerdings nicht als echte Nachfolger der Täu­ferbewegung des 16. Jahrhunderts, obwohl sie von den etablierten Kirchen lange in diese Ecke gestellt wurden. Für eine gewisse „Rehabilitierung“ des Täufertums sorgte 1912 der libe­rale Theologe und Religionssoziologe Ernst Troeltsch, der die Täufer, die „Stiefkinder der Re­formation“, als Wegbereiter der Moderne betrachtete. Bei ihnen seien Grundlagen der moder­nen liberalen, demokratischen und pluralistischen Gesellschaften des Westens vorweggenom­men worden. So etwa die Trennung von Kirche und Staat, die Religionsfreiheit und die Auffas­sung, dass die Kirchen freiwillige Gemeinschaften sein müssen, denen die Gläubigen aufgrund persönlicher Überzeugung und eines freien Entschlusses angehören. Auch Thomas Kaufmann plädiert heute für einen neuen Blick auf die Täufer: Sie seien Vorkämpfer moderner Werte und könnten auch Vorbild einer zukunftsfähigen Kirche sein.

Jörg Klingbeil

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