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Befreiende und fatale Bibelworte - Andreas Rössler
»Dient einander ...« - Wolfgang Blaich
Buchneuerscheinung: »Das Streben nach dem Gottesreich« - Peter Lange
Staat und Religion (Teil 3) - Jörg Klingbeil
Künstliche Intelligenz - Fluch oder Segen? - Karin Klingbeil
Die Bibel von der ersten bis zur letzten Seite wie einen Roman gelesen zu haben, rühmen sich manche. Es ist aber die Frage, was das bringen soll.
Neugierige Bibelleser werden eher einzelne Schriften im Ganzen lesen. Oder sie bedienen sich eines Lesevorschlags wie der »fortlaufenden ökumenischen Bibellese«. Eine andere, ergänzende Zugangsweise ist das größere Augenmerk auf »Kernstellen« in der Bibel. Das sind gelegentlich ganze Abschnitte wie Ps 1 oder 23, Jes 53, die Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5,3-12), das Vaterunser (Mt 6,9-13), das Hohelied der Liebe (1 Kor 13). Vor allem aber handelt es sich um einen Vers (oder um wenige aufeinanderfolgende Verse), in dem ein wesentlicher Aspekt der biblischen Botschaft verdichtet ist. Es kann ein Grundgesichtspunkt der frohen Botschaft von Jesus als dem Christus sein (etwa Mk 1,15, Joh 1,14, Joh 3,16, 1 Joh 4,16b). Es kann sich um eine Formulierung des Willens Gottes handeln, etwa Mi 6,8, die »Goldene Regel« (Mt 7,12) oder das Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28-31). Es kann aber auch eine weisheitliche Lebensregel sein, die zu befolgen zugleich dem Willen Gottes und dem allgemeinen menschlichen Klugheitsempfinden entspricht (etwa 1 Thess 5,21 oder Mt 10,16b).
Der heilsamen, befreienden Botschaft entsprechende biblische Kernstellen zeichnen sich dadurch aus, dass sich in ihnen in herausragender Weise Lebenserfahrungen, insbesondere ursprüngliche religiöse Erfahrungen, verdichtet haben und dass dies bei nachdenklichen, Wahrheit suchenden Menschen zu eigenen Erfahrungen führt. Gotteserfahrungen spiegeln sich etwa in Gen 32,23-33 (Jakobs Kampf am Jabbok) mit dem Spitzensatz Gen 32,27b (»Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«) oder in Joh 6,68 f.
In der seit Jahrhunderten immer wieder revidierten Bibelübersetzung Martin Luthers ist eine Menge von markierten Kernstellen angeboten. Bei der Bibellektüre stößt man aber auch auf Bibelverse, die in keiner der bisherigen Luther-Bibel-Ausgaben markiert sind, die man aber selbst hervorheben wird, weil man von ihnen besonders beeindruckt ist. Ich denke etwa an das für das Verständnis Gottes ungemein wichtige Argument in Ps 94,9: »Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören? Der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen?«
Heilsame Bibelstellen gewinne ich, wenn mich Bibelworte treffen und ich einfach sagen muss: »Ja, so ist es.« Zudem finde ich solche heilsamen Bibelstellen, wenn sie Antwort auf eigene Fragen geben. Wer etwa darum ringt, wie sich das Leid in der Welt mit der Güte Gottes vereinbaren lässt, findet Hilfe in Bibelstellen, in denen von der Unergründlichkeit Gottes die Rede ist (etwa Jes 55,8 f. und 1 Kor 13,12).
Manche Bibelworte müssen völlig falsch verstanden werden, wenn man sie aus ihrem Zusammenhang herauslöst. Ein Paradebeispiel ist Ps 14,1. Dort steht »Es ist kein Gott«, aber im Zusammenhang von »Die Toren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott«. Bibelstellen kann man aber aus ihrem Zusammenhang herauslösen, wenn der isolierte Vers als solcher einen guten Sinn macht und dieser Sinn mit dem im Zusammenhang gelesenen Text zusammenstimmt (wie zumeist in den Herrnhuter »Losungen«). Nur wird der isolierte Vers gegenüber der ursprünglichen Situation universalisiert. Zu denken ist etwa Mk 9,24 (»Ich glaube; hilf meinem Unglauben!«) aus Mk 9,14-28 (Heilung eines besessenen Knaben); oder an Mk 2,5 (»deine Sünden sind dir vergeben«) aus Mk 2,1-12 (Heilung eines Gelähmten); oder an Mk 5,36 (»Fürchte dich nicht, glaube nur!«) aus Mk 5,35-43 (Auferweckung der Tochter des Jairus).
Ein Sonderfall sind »geflügelte Bibelworte«, die in den Zitaten-Schatz eingegangen sind. Sie bewähren sich auch in einem ganz verweltlichten Umfeld als lebenskluge Sätze, meist ethischen Inhalts: »Hochmut kommt vor dem Fall« (Spr 16,18b). »Des vielen Büchermachens ist kein Ende« (Pred 12,12). »Mein Sohn, wenn dich die bösen Buben locken, so folge nicht« (Spr 1,16). »Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein« (nach Spr 26,27). »Der Mensch denkt, Gott lenkt« (nach Spr 16,9).
Die Markierung mancher Bibelstellen ist ein Spezifikum der Bibelübersetzung Luthers, in all ihren Revisionen im Lauf der Jahrhunderte. Von Ausgabe zu Ausgabe wurden manche Markierungen fallen gelassen, manche hinzugefügt. Sie sind das Werk von Kommissionen, die bei der jeweiligen Neuausgabe tätig wurden.
Im Vergleich der Markierungen in den Luther-Bibeln von 1984 und 2017 fällt auf, dass 2017 der in der lutherischen politischen Ethik verhängnisvoll gewordene Vers Röm 13,1 nicht mehr hervorgehoben ist, dafür aber jetzt das friedensethische Wort von der Umwandlung der »Schwerter zu Pflugscharen« (Jes 2,4 und Mi 4,3), das in der friedlichen Revolution in Deutschland 1989 eine wichtige Rolle gespielt hat, und auch die Forderung, die Fremden anzunehmen und zu lieben (Lev 19,33 f.). Worte dagegen, in denen vom Zorn Gottes, seinem Gericht und seinem Verwerfen die Rede ist (wie Mk 16,16 und Gal 6,7), sind eher zurückgenommen. Dafür ist jetzt Tit 3,3 f. markiert, wo von der »Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes« die Rede ist. Die Luther-Bibel 2017 hebt auch eher Bibelverse hervor, in denen das Wirken und das Heilshandeln Gottes universalistisch gesehen wird. So ist jetzt Mal 1,11a unterstrichen (»Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang ist mein Name herrlich unter den Völkern«), ferner Joh 14,2a (»In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen«).
Unverständlich ist der Wegfall der Markierungen in der Lutherbibel 2017 aus manchen Versen, die für den christlichen Lebensvollzug höchst bedeutsam sind. So zeigt das Jesus-Wort Joh 7,16 f. zweifelnden Menschen einen Weg zur Glaubensgewissheit: »Meine Lehre ist nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat. Wenn jemand dessen Willen tun will, wird er innewerden, ob diese Lehre von Gott ist oder ob ich aus mir selbst rede.« Und dass in einer Zeit, in der in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit gezielt Lügen verbreitet werden, ausgerechnet Jes 5,20 nicht mehr markiert ist, muss befremden. Dort heißt es: »Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen!«
Grundsätzlich zeigt das Markieren von Bibelstellen, das Luther begonnen hat, ein bestimmtes Bibelverständnis: Es gibt in der Bibel Zeitübergreifendes und Zeitbedingtes, Erstrangiges und Nachgeordnetes.
Heilsame Bibelstellen bauen auf, befreien, machen Mut, schenken Zuversicht zu Gott. Fatale Bibelstellen dagegen machen Angst und zwängen ein. Sie sind nicht dadurch fatal, dass Schlimmes und Böses benannt wird. Die Bibel wäre ein weltfremdes Buch, wenn sie die Augen davor verschließen würde, wie es in der Welt zugeht. Fatal ist es aber, wenn Schlimmes und Böses ohne Wertung hingenommen wird oder, vor allem, wenn es als von Gott so gewollt hingestellt wird. Dann erscheint Gott nicht mehr als barmherzig und liebevoll, sondern als dämonisch.
Fatale Bibelstellen sind solche Abschnitte und Verse, die mit der »Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn« (Röm 8,39), nicht vereinbar sind, die also dem von Luther genannten innerbiblischen Maßstab (»was Christum treibet«) und dem von Albert Schweitzer skizzierten »Geist Jesu« zuwiderlaufen. Fatale Bibelstellen passen nicht zusammen mit dem »roten Faden« der Bibel, der Botschaft von der Gnade Gottes und seiner unbedingten Forderung, der von Gott ausgehenden und der von ihm geforderten Liebe. Freilich gibt es in der Bibel auch andere »Fäden«, gewissermaßen »Blutspuren«. Was entspricht der Wahrheit? Die »Blutspuren« oder dass der wahre Charakter des Seinsgrundes die Liebe ist? Das ist eine Glaubensentscheidung, die aber schon rational das für sich hat, dass die »Blutspuren« zu Zerstörung und Selbstzerstörung führen, die Macht der Liebe aber versöhnt, ermutigt und heilt.
Werden auf dieser Grundlage heilsame und fatale Bibelstellen unterschieden, dann muss man allerdings einkalkulieren, dass wir in die Gefahr geraten, unhistorisch zu denken und geschichtliche Entwicklungen zu übersehen, indem wir an heutigem ethischem Empfinden, das durch die Botschaft Jesu und die Aufklärung hindurchgegangen ist, Archaisches und Antikes messen. So gehört der alttestamentliche Satz »Auge um Auge, Zahn um Zahn« (Ex 21,24), der hinter Jesu Liebesbotschaft zurückbleibt (Mt 5,38-42), nicht im strengen Sinn zu den fatalen Bibelstellen, weil er immerhin einen Fortschritt gegenüber ungehemmter Blutrache bedeutet. Zu fragen ist, wie in der historischen Betrachtungsweise die Duldung der Polygamie in Teilen des Alten Testaments zu beurteilen ist, wie das biblische Ja zur Sklaverei einzuordnen ist, wie die Unterordnung der Frau gegenüber dem Mann, und wie die fraglose Unterordnung unter die »Obrigkeit«. Selbst bei Jesus sind geistig-geistliche Entwicklungen zu beobachten, etwa von einer Fixierung auf das Volk Israel zu einer Hinwendung auch zu Menschen anderer Kulturen und Religionen.
Fatale Bibelstellen sind insbesondere solche, (a) in denen unmoralisches Verhalten nicht eindeutig verurteilt wird (etwa Lk 16,1-8); (b) in denen ungerechte Verhältnisse wertfrei akzeptiert werden (Mk 4,25); (c) in denen Menschen um eigenen Vorteils willen an Stärkere und Gewalttäter preisgegeben werden (Gen 19,4-8); (d) der Wunsch nach Vernichtung feindlicher Menschen und Gruppen (Ps 137,9); (e) in denen Menschenopfer praktiziert werden (Ri 11,29-40); (f) die Todesstrafe und andere drakonische Strafen, und zwar auch schon für kleinere (oder angebliche) Vergehen verhängt und vollzogen (Lev 18,22-30; 20,13; Dtn 21,18-21; 22,20-24); (g) Kriege, in denen ganze Ortschaften und Regionen ausgerottet werden, mit Haut und Haar, also Genozide im Kleinen und im Großen (Jos 6,16-24); (h) die Vernichtung Andersgläubiger (1 Kön 18,20); (i) die Ankündigung von Höllenstrafen bis zu ewiger Verdammnis (Offb 19,17-21).
Aufmerksame Bibelleser werden auch hilfreiche Bibelverse entdecken, die nicht gerade auf der Linie herkömmlicher kirchlicher Normaltheologie liegen. Etwa: Sympathie mit zweifelnden Menschen in Jud 22 (»Erbarmt euch derer, die zweifeln«). - Eine universalistische Tendenz im Alten Testament, nach der Offenbarung und Erwählung nicht auf das Volk Israel einzugrenzen sind (Am 9,7). - Eine universalistische Tendenz in ethischer Hinsicht (Phil 4,8). - Die volle Menschlichkeit Jesu, zu der auch seine Unterordnung unter Gott und das Nein zu eigener Selbstverabsolutierung gehört, wird deutlich in Jesu Antwort an einen reichen jungen Mann, der ihn mit »guter Meister« angeredet hat: »Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als der eine Gott« (Mk 10,18).
(vom Verfasser durchgesehene und stark gekürzte Fassung seines gleichnamigen Aufsatzes in: Hg. Markus Wriedt / Raphael Zager, Notwendiges Umdenken. Festschrift für Werner Zager zum 60. Geburtstag, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2019, S. 25-40)
Der erste Petrusbrief richtet sich an Christen in der Verfolgung in verschiedenen kleinen Gemeinden in Kleinasien im ersten Jahrhundert. Sie befanden sich in der Minderheit in einem andersgläubigen Umfeld. Das Schreiben ist ein Trostbrief an die damaligen Christen in ihrer schwierigen Situation. Wir leben nicht in einer so exponierten und daher gefährlichen Umgebung. Gleichwohl gibt der Text ein Fundament für ein Zusammenleben in einer Gesellschaft, die sich nicht mehr so ausschließlich an dem Glauben an die Botschaft Jesu orientiert. Der Verfasser ermutigt, Hoffnung zu behalten, besonnen und nüchtern zu bleiben und am Gebet festzuhalten.
Im Brief sind Regeln aufgestellt, wie sich Gemeindeglieder innerhalb der Gemeinde verhalten sollen, um diese zu stärken und zu stützen. Es wird betont, dass sie vor allen Dingen an der beständigen Liebe bleiben sollen. Denn die Liebe ist ein Grundpfeiler des christlichen Glaubens. Und - zur Ausübung von Liebe gehört das Dienen. »Dient einander ...«. Hier werden weltliche Maßstäbe auf den Kopf gestellt. Bei Jesus hat das Streben nach persönlicher Ehre und Macht keinen Wert. »Wer unter euch groß sein will, der diene«, sagt er zu zwei Jüngern, welche um einen Vorrangplatz in dieser oder jener Welt suchen. Weltliche Hierarchien sind bei Jesus bedeutungslos. Er hat seinen Jüngern die Füße gewaschen; Jesus war sich dafür nicht zu schade.
So wird im Petrusbrief jeder aufgefordert, es ihm gleich zu tun, damals und heute. Und das mit der Gabe, die wir empfangen haben. Jeder hat Gaben, Talente mitbekommen. Keiner kann alles und keiner kann nichts. Jeder kann etwas. Diese uns geschenkte Gabe dürfen bzw. sollen wir nutzen zum Wohle eines Nächsten, zum Wohl der Gemeinschaft. Ein solidarischer Einsatz wird sich als eigenes Wohl zeigen. Wenn wir Gutes tun, stellt sich Zufriedenheit auch bei uns selber ein.
Wir Menschen sind im Grunde soziale Wesen und wollen in den meisten Fällen helfen, mit unserem Dienen zum Bestand einer Gemeinschaft beitragen. Ich kann die Gabe, welche ich empfangen habe, einsetzen. So bedeutet das Wort für mich, dass von einem Menschen nur das verlangt wird, was er auch tatsächlich auf Grund seiner Begabung leisten kann. Niemand kann von einem Menschen alles erwarten. Das ist gleichzeitig Schutz vor Überforderung eines Einzelnen und Aufforderung, notwendige Aufgaben zu teilen. Heißt es denn nicht im Text, dass wir gute Haushalter der von Gott uns geschenkten Gaben sein sollen? Dann wird die Gabe als Geschenk wahrgenommen werden können und nicht als Last. Dann bleibt noch Kraft, dankbar zu sein.
Es ist schon einige Zeit her, dass ein Schriftsteller die Geschichte unserer Tempelgesellschaft in vollem Umfang verfasst hat. Die oben erwähnte britische Autorin hat dies im letzten Jahr unternommen. Ihr Buch enthält mit 152 Seiten verständlicherweise nur einen gedrängten Geschichtsüberblick (Originaltitel: »Seeking a State of Heaven - The German Templers«, erschienen 2018, ISBN 978-0-85398-613-3, in englischer Sprache, jedoch bei vorhandenem durchschnittlichem Sprachschatz gut zu verstehen).
Carolyn Fox ist von ihrer Ausbildung her eine Bratschistin und war in der Vergangenheit Solistin im Scottish Chamber Orchestra Edinburgh und dem BBC British Symphony Orchestra Glasgow. Als Christin fühlte sie sich in ihrem Leben stets auf der Suche nach einer Spiritualität, die ihrem inneren Wesen die eigentlich wichtigen Antworten geben würde. Nach vielen Lebensstationen begegnete sie 1992 einer Bahá’í-Gemeinde in Schottland und trat daraufhin der Bahá’í-Religion bei.
Wie es der Zufall manchmal so will, hat uns vor kurzer Zeit Herr Gisbert Schaal von der Stuttgarter Bahá’í-Gemeinde im Templer-Archiv besucht und uns ein Exemplar des Buches von Frau Fox überreicht, das wir überaus dankend angenommen haben, nachdem wir bisher von dieser Neuerscheinung noch nichts erfahren hatten. Zu der Autorin haben wir inzwischen herausgefunden, dass sie vor drei Jahren schon einmal ein Buch geschrieben hat mit dem Titel: »The Half of it was Never Told«, das sich mit drei auf verschiedenen Kontinenten lebenden Adventisten befasst, die mit dem Bahá’í-Glauben ihren Höhepunkt erreichen.
Ihr Motiv für das vorliegende Buch wird aus ihrer Darstellung der Templergeschichte deutlich: es ist die Feststellung einer zeitlichen Koinzidenz. Zentral behandelt die Autorin in ihrem Buch nämlich das Zusammentreffen des Templers Georg David Hardegg mit dem Bahá’í-Führer Bahá’u’lláh (»der Erleuchtete«) in Akko bei Haifa am 2. Juni 1871, bei dem Hardegg allerdings nur mit Bahá’u’llás Sohn, Abbás Effendi, ein Gespräch führen konnte. Im Juli des darauffolgenden Jahres hatte der Bahá’í-Führer einen »Verkündigungsbrief« (Tablet Lawh-i Hartik) an Hardegg als den Leiter der neu gegründeten deutschen Kolonie gesandt. In diesem Brief wird Jesus, gemäß Johannes-Evangelium das »Wort«, dem »Großen Meer« von Bahá’u’lláhs Offenbarung vergleichend gegenüber gestellt.
Die Bahá’í sehen in der Erscheinung Bahá’u’lláhs eine Wiederkunft von Jesus Christus eingewoben. Das nahezu gleichzeitige Erscheinen der Templer und der Bahá’í-Anhänger in Haifa ist für die Buch-Autorin Fox (und für die Bahá’í insgesamt) ein ganz besonderes Zeichen göttlicher Fügung. Nicht ohne diesen Beweggrund verfolgt deshalb Carolyn Fox unsere Geschichte bis in die heutige Zeit hinein, »in der es noch Tempelgemeinden gibt, sowohl in Australien wie auch in Degerloch«, und ebenso Bahá’í-Gemeinden in aller Welt (»Die Koinzidenz hat Früchte getragen«).
Bei der detailgetreuen Angabe der geschichtlichen Fakten in dem Buch habe ich mich gleich gefragt, wo Carolyn Fox denn wohl das Wissen über unsere Geschichte hergeholt hat. Sie hat eine ausführliche Bibliographie im Buch veröffentlich, in der natürlich auch Paul Sauers Templer-Chronik in englischer Sprache »The Holy Land Called: The Story of the Temple Society« (1991) enthalten ist. Eine entscheidende Quelle darüber hinaus ist jedoch Christoph Hoffmanns »Mein Weg nach Jerusalem«, allerdings in der sehr gerafften englischen Version »Jerusalem Journey« (TGD-Archiv Nr. T-058), herausgegeben 1968 von Gertrud Paulus-Reno, Long Beach, Kalifornien, einer Enkelin des Bildhauers Christoph Paulus. Es ist auffallend, dass sich die Buchverfasserin Fox bisher nicht direkt mit uns in Verbindung gesetzt hat. Vielleicht wird das noch erfolgen, oder wir schaffen den Kontakt von uns aus.
Von einiger Bedeutung für unsere eigene Geschichtsforschung ist die Angabe von Carolyn Fox, dass drei Besuche von Bahá’u’lláh in der deutschen Kolonie in Haifa stattfanden und dass bei einer Besichtigung des von Wilhelm Deiss angelegten Zypressenhains am Karmelhang der Bahá’í-Führer den Wunsch äußerte, dass sein Sohn genau an dieser Stelle ein Mausoleum für den Offenbarungs-Verkündiger »Báb« erstellen möge. Wie wir wissen, ist dann 1935 dieser Wunsch mit dem Bau des Schreins mit der goldenen Kuppel in Erfüllung gegangen. Der Zypressenhain befindet sich auf der Rückseite des Gebäudes zur Karmelhöhe hin. Ein Jahr, nachdem die Anweisung des Bahá’í-Gründers ausgesprochen worden war, ist er in der Nähe von Akko gestorben, ohne den Heiligen Schrein noch gesehen zu haben.
Ich möchte zum Schluss noch eine inhaltliche Bemerkung zum Buch machen. An verschiedenen Stellen heißt es, die Templer hätten ihr Ziel Jerusalem »in Erwartung der Wiederkunft Christi« gesehen. Auch Christoph Hoffmann selbst unterstellt die Autorin, in dieser Erwartung gelebt zu haben. Ich denke, dass dies kritisch hinterfragt werden muss. Im deutschen Text von »Mein Weg nach Jerusalem« ist solches nicht zu entdecken. Die Zielsetzung der Auswanderer war bekanntlich die Sammlung eines Gottesvolkes in Jerusalem, was keinerlei abwartende Haltung, sondern im Gegenteil ein tätiges Handeln für eine Reform christlicher Gemeinschaft nahelegt.
Hier hat Carolyn Fox offensichtlich adventistische Erwartungen unberechtigterweise mit der Templergeschichte verwoben. In ihrer Autobiografie heißt es, dass sie sich selbst oft mit Gedanken über einen wiederkommenden Christus befasst habe. Zwar hatte die Brüdergemeinde Korntal, in der Hoffmann aufgewachsen war, fest an die von Johann Albrecht Bengel für das Jahr 1836 vorausberechnete Wiederkehr Christi geglaubt, doch es war dort, nachdem dieses Jahr ohne besondere Ereignisse vorübergegangen war, eine Ernüchterung dieses Glaubens eingekehrt. Hoffmann schreibt darüber in »Mein Weg nach Jerusalem«: »Bengels prophetische Zeitrechnung, der mein Vater und seine Freunde so unbedingt vertrauten, hatte sich entschieden als Irrtum herausgestellt.« Geblieben ist bei ihm jedoch die von den altisraelitischen Propheten verkündete Idee der »Sammlung eines Gottesvolkes in Jerusalem«, die zu einer »unentbehrlichen Wahrheit führen« würde. Die Templer sind in der Zeit nach Christoph Hoffmann allerdings auch von dieser Idee wieder abgerückt.
Auch wenn die (rechtlichen) Wurzeln der deutschen Religionsfreiheit im fortschrittlichen altpreußischen Staatskirchenrecht liegen, so lohnt sich doch ein Blick über den Tellerrand, insbesondere wegen der Entwicklung in den USA und in Frankreich:
Die Religionsfreiheit in den USA geht auf die Siedlerzeit zurück, zumal Neuengland zunächst von puritanischen Glaubensflüchtlingen besiedelt wurde. Bereits 1647 wurde in Rhode Island erstmals die staatsunabhängige Glaubensfreiheit und damit die Niederlassungsfreiheit eines Siedlers unabhängig von seiner Konfession verankert. Im Geiste der Aufklärung wurden dann im 18. Jahrhundert in Virginia unter dem Einfluss von Thomas Jefferson, dem Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dritten Präsidenten der USA, mit der Declaration of Rights (1776) und dem Statute for Religious Freedom (1786) maßgebliche Gesetzeswerke geschaffen. In der amerikanischen Verfassung von 1787 findet sich zwar kein Gottesbezug, jedoch wird im 1791 ratifizierten Ersten Zusatzartikel (First Amendment) die Trennung von Staat und Kirche sowie die Religionsfreiheit verankert: »Der Kongress soll kein Gesetz erlassen, das eine Einrichtung einer Religion zum Gegenstand hat oder deren freie Ausübung beschränkt, ...«. Dies wurde lange Zeit - auch aufgrund der Rechtsprechung des Supreme Court - als striktes Trennungsgebot von Staat und Religion verstanden. Inzwischen wird eine Zusammenarbeit zwischen Staat und Religionsgemeinschaften für zulässig erachtet, soweit der Staat nicht eine bestimmte Religionsgemeinschaft gegenüber anderen bevorzugt (»wohlwollende Neutralität«).
In Frankreich wirkte sich die amerikanische Entwicklung im Zuge der Französischen Revolution auf die »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« vom 26. August 1789 aus, zumal einer der Initiatoren, der Marquis de Lafayette, selbst Teilnehmer am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, bei der Abfassung von Thomas Jefferson beraten wurde. Die Präambel beruft sich zwar auf »Gegenwart und Schutz des höchsten Wesens«, allerdings bestimmt Artikel 10: »Niemand soll wegen seiner Anschauungen, selbst religiöser Art, belangt werden, solange deren Äußerung nicht die durch das Gesetz begründete öffentliche Ordnung stört.« In der Folgezeit entwickelte sich in Frankreich eine radikale Politik gegen Klerus und Adlige. Die nach der Hinrichtung des Königs 1793 verabschiedete Verfassung sollte den »neuen Menschen« begründen. Der Begriff »Religion« fehlte, lediglich die »Freiheit der Kulte« wurde gewährleistet. Im Zuge einer regelrechten »De-Christianisierung« wurden per Dekret alle Kirchen geschlossen und teilweise in »Tempel der Vernunft« umgewandelt. Bis zum Sommer 1794 schaffte das Terrorregime unter Robbespierre die Religionsfreiheit faktisch ab. Im Februar 1795 wurde vom Direktorium die Freiheit der Kulte wieder garantiert; zugleich wurde aber auch bestimmt, dass die Republik keinerlei Kulte mehr finanzieren dürfe. Ab 1794 führten die durch Generalmobilmachung rekrutierten französischen Revolutionstruppen erfolgreich Krieg gegen mehrere europäische Staaten, die sich zu einer Koalition gegen Frankreich verbunden hatten. Dabei tat sich vor allem der junge Brigadegeneral Napoleon Bonaparte (1769-1821) hervor, der 1796 Oberbefehlshaber des Italienfeldzugs wurde, durch den der Einfluss Österreichs in Europa erheblich beschnitten wurde. Im November 1799 übernahm Napoleon als Erster Konsul faktisch die Macht und präsentierte bereits einen Monat später eine neue Verfassung. Darin wurde - wohl um den sozialen Frieden nicht zu gefährden - die durch die Revolution erreichte Besitzverschiebung garantiert, d.h. die Güter königlicher, kirchlicher oder adliger Herkunft blieben rechtmäßiger Besitz derjenigen, die sie im Zuge der Revolution erlangt hatten. Den Emigranten, die ihren Besitz verloren hatten, wurde eine staatliche Entschädigung angeboten, was etwa 140.000 Personen zur Rückkehr veranlasste. Auch mit dem Vatikan gelangte Bonaparte zu einem Ausgleich: Im Konkordat von 1801 wurde der Katholizismus als Mehrheitsreligion der Franzosen anerkannt und die freie Religionsausübung an Sonn- und kirchlichen Feiertagen gestattet. Andererseits blieb es bei der Trennung von Staat und Kirche und der Enteignung von Kirchenbesitz. 1802 ließ sich Napoleon per Volksabstimmung zum Konsul auf Lebenszeit wählen und krönte sich 1804 selbst zum Kaiser.
Die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Frankreich hatten auch erheblichen Einfluss auf die Entwicklung in Deutschland: Im Frieden von Lunéville, der den Koalitionskrieg beendete, mussten 1802 alle linksrheinischen deutschen Gebiete von Österreich an Frankreich abgetreten werden. Dem folgte eine territoriale Neugliederung des Deutschen Reiches, denn die enteigneten deutschen Fürsten wurden rechtsrheinisch entschädigt. Dies geschah im »Reichsdeputationshauptschluss« von 1803, durch den auf die jeweiligen Landesherren die Kirchengüter (Säkularisation) und - bis auf wenige Ausnahmen - die dem Kaiser bisher direkt unterstellten Städte und Gebiete (Mediatisierung) übertragen wurden. Zugleich wurde die deutsche Kleinstaaterei im Wesentlichen beendet. 45.000 km² Land und fast fünf Millionen Menschen erhielten neue Landesherren. Von den 300 Territorien mit und den etwa 1400 ohne Reichsstandschaft, die es 1789 gab, blieben nur noch 39 Territorien mit Reichsstandschaft übrig. 1806 schlossen sich 16 Fürsten (unter der Schutzherrschaft von Napoleon) zum Rheinbund zusammen und traten aus dem Reich aus. Damit kam es auch zur Aufhebung fast aller Adelsherrschaften und Reichsgrafschaften. Nun legte auch der (österreichische) Kaiser, Franz II., die Reichskrone nieder und erklärte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation für aufgelöst.
Im Reichsdeputationshauptschluss erhielt z.B. Württemberg als Entschädigung für verlorene linksrheinische Territorien (wie etwa die Grafschaft Mömpelgard) insgesamt neun Reichsstädte, ein Dorf und acht geistliche Herrschaften. Die Reichsstädte Schwäbisch Hall, Esslingen, Reutlingen, Heilbronn, Weil der Stadt, Rottweil, Aalen, Giengen und Schwäbisch Gmünd gingen in württembergischen Besitz über. 1805 verbündete sich der nun zum Kurfürsten erhobene Friedrich mit Napoleon und wurde dafür 1806 mit der Königswürde »belohnt«. Württembergs rechtsrheinisches Gebiet verdoppelte sich, insbesondere kam das vorher zu Österreich und verschiedenen Klöstern gehörende katholische Oberschwaben dazu. In Baden fiel der Gebiets- und Bevölkerungszuwachs sogar noch größer aus.
Durch die Auflösung der geistlichen Fürstentümer setzte sich ab 1803 eine Toleranzpolitik gegenüber den drei christlichen Konfessionen (katholisch, lutherisch, reformiert) reichsweit durch. Größere weltliche Fürstenstaaten wie Baden oder Württemberg mussten wegen der Integration der neu hinzugewonnenen Gebiete ihre bisherige konfessionelle Einheitlichkeit aufgeben. Insofern erwies sich der Reichsdeputationshauptschluss als »Katalysator der Religionsfreiheit« in den deutschen Staaten, wobei jedoch Juden und andere Nicht-Christen von der Tolerierung vorerst ausgenommen blieben.
Der weitgehenden Enteignung der kirchlichen Besitztümer stand übrigens eine Verpflichtung zum fortwährenden Unterhalt gegenüber, denn die Landesherren verpflichteten sich unter anderem, die kirchlichen Würdenträger künftig zu besolden. Trotz des mehrfachen staatlichen Umbaus, vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (bis 1806) bis hin zur Bundesrepublik Deutschland (ab 1949), änderte sich an dem Anspruch der Kirchen auf Entschädigung aber nichts. Dabei waren die Staatsleistungen schon den Autoren der Weimarer Verfassung ein Dorn im Auge. In Artikel 138 stellten sie klar: »Die (...) Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.« Diese Regelung wurde 1949 in das Grundgesetz durch Artikel 140 übernommen. Dennoch blieb der Gesetzgeber untätig, der Auftrag der Verfassung ist bis heute unerledigt. Es geht dabei ja auch um beachtliche Beträge; die sog. Staatsleistungen der Bundesländer an die beiden großen Kirchen belaufen sich jährlich auf derzeit mehr als 500 Mio. Euro, die aus den Steuereinnahmen und mithin auch von Nicht-Kirchenmitgliedern bestritten werden. Hinzu kommen die vom Staat eingetriebene Kirchensteuer und sonstige Unterstützungsleistungen für die karitative Arbeit der Kirchen. Sowohl die Bischofskonferenz als auch die EKD zeigen sich übrigens hinsichtlich einer endgültigen Abfindung gesprächsbereit, nennen aber wohlweislich keine Summen. Und die Politik will offenkundig am Status Quo nicht rütteln und weicht der durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und die Weimarer Reichsverfassung von 1919 gestellten Hausaufgabe aus.
Die bereits durch das Allgemeine Preußische Landrecht und auch im Rheinbund eingeführten Grundsätze der Religionsfreiheit und Gleichordnung der Konfessionen blieben trotz der militärischen Niederlage Napoleons und der folgenden Restauration durch den Wiener Kongress erhalten. So sieht die Deutsche Bundesakte von 1815 in Art. XVI vor: »Die Verschiedenheit der christlichen Religionsparteien kann in den Ländern und Gebieten des deutschen Bundes keinen Unterschied in dem Genuss der bürgerlichen und politischen Rechte begründen.« Mit »Religionsparteien« sind allerdings weiterhin nur die katholische, die lutherische und die reformierte Konfession gemeint. Entsprechende Regelungen finden sich in den kurz darauf folgenden Verfassungen der süddeutschen Länder Bayern und Baden (1818) sowie Württemberg (1819). Immerhin erhielt Art. XVI der Bundesakte noch den Arbeitsauftrag an die Bundesversammlung, zu prüfen, »wie auf eine möglichst übereinstimmende Weise die bürgerliche Verbesserung der Bekenner des jüdischen Glaubens in Deutschland zu bewirken sei.« Der endgültige Durchbruch zu einer umfassenden Religionsfreiheit im modernen Sinne und zur klaren Trennung von Staat und Kirche erfolgte aber erst mit der Paulskirchenverfassung von 1848/49 in ebenso schnörkellos wie überzeugend formulierten Bestimmungen. So heißt es im fünften Artikel in § 144: »Jeder Deutsche hat volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren.« und in § 145: »Jeder Deutsche ist unbeschränkt in der gemeinsamen und öffentlichen Ausübung seiner Religion.« § 147 Absatz 3 führt mit der religiösen Vereinigungsfreiheit eine grundlegende Neuerung ein: »Neue Religionsgesellschaften dürfen sich bilden; einer Anerkennung ihres Bekenntnisses durch den Staat bedarf es nicht.« Dieser Dreiklang aus Gewissens-, Kultus- und Vereinigungsfreiheit war auch Vorbild für spätere Verfassungen wie die der Weimarer Republik (1919) und die der Bundesrepublik Deutschland (1949). Gemäß § 146 »wird durch das religiöse Bekenntnis der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte weder bedingt noch beschränkt.« Und § 147 Absatz 2 stellt klar: »Keine Religionsgemeinschaft genießt vor anderen Vorrechte durch den Staat; es besteht fernerhin keine Staatskirche.« § 147 Absatz 1 betont überdies die Autonomie der Religionsgemeinschaften: »Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig, bleibt aber den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen.« Leider fiel die Paulskirchenverfassung - wie wir wissen - alsbald restaurativen Kräften zum Opfer und wurde nicht in Kraft gesetzt. Ihr Einfluss auf spätere Regelungen zur Religionsfreiheit und zum Staatskirchenrecht ist aber bis heute unbestritten. Die Positionierung des damaligen Abgeordneten Christoph Hoffmann verdient indessen eine gesonderte Betrachtung.
(Fortsetzung folgt)
Unter diesem Titel hielten wir vom 10.-12. Mai auf dem Schönblick unser diesjähriges Wochenendseminar ab. Angesichts täglicher Meldungen in den Medien wollten wir herausfinden, ob uns Künstliche Intelligenz (KI) eher als bedrohlich denn als hilfreich erscheint und was die möglichen Auswirkungen und ethischen Aspekte der Thematik sind.
In einer ersten Aussagerunde konnten die Teilnehmer, die mit der Einladung einschlägige Texte erhalten hatten, ihre Meinung äußern, ob und inwiefern das Thema sie tangiert. Insgesamt war der Grundtenor eher positiv, Befürchtungen betrafen in erster Linie die missbräuchliche Nutzung oder Manipulation der Technik.
Zunächst erläuterte Jörg Klingbeil »Entwicklungslinien der KI«. Wie auch spätere Referenten betonte er, dass der Begriff KI eigentlich unklar ist, weil es schon keine allgemeine Definition von "Intelligenz" gibt. Im positiven Sinne sollen technische Assistenten aus Hard- oder Software (also Roboter und/oder Softwareprogramme) den Menschen entlasten, was dann aber auch menschliche Arbeit überflüssig machen kann. Diese praxisnahe Perspektive wird als "schwache" KI bezeichnet und entspricht auch der Strategie der Bundesregierung, die sich zudem von einer Datenethikkommission beraten lässt. Diese soll ethische Leitlinien für den Schutz des Einzelnen, die Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenlebens und die Sicherung des Wohlstands im Informationszeitalter entwickeln und konkrete Regelungsvorschläge unterbreiten. Inzwischen hat auch der Bundestag eine Enquetekommission zu KI eingesetzt. Das negative Szenario befürchtet eine Art "Superintelligenz", die den Menschen beherrscht; sie ist unter dem Begriff "starke" KI eher Gegenstand von Science-Fiction-Filmen.
In seinem Referat ging Jörg auf einige Meilensteine der KI ein, z.B. die ersten Rechenmaschinen und Computer, den von Alan Turing entwickelten Test, mit dem menschliche von maschineller Intelligenz unterschieden werden kann, aber auch auf autonome Fahrzeuge, Erfolge von Computern bei hochkomplexen Spielen (Schach, Go und Poker) sowie Fortschritte in der Robotik. Seit den 1990er Jahren ist vor allem durch das Aufkommen des Internet und leistungsfähigere Hardware eine rasante Entwicklung zu verzeichnen. Mittlerweile können Maschinen Muster, Bilder und Menschen erkennen, Antworten auf komplizierte Fragen geben, Texte in andere Sprachen übersetzen oder gar selbst kreative Texte schreiben, Fahrzeuge zu Land, Wasser und in der Luft steuern, Aktienkurse vorhersagen oder Krankheitsdiagnosen stellen.
Abschließend warf Jörg einige kritische Fragen auf: Wer haftet bei Fehlern der KI (der Programmierer oder der Nutzer)? Wer darf auf die verwendeten Daten zugreifen? Wie können personenbezogene Daten geschützt werden? Wie können generell automatisiert getroffene Entscheidungen, z.B. bei Personalauswahl oder Bonitätsprüfung, überprüft werden? Hier sei mittelfristig auch an eine Qualitätskontrolle von außen, z.B. durch Zertifikate oder Gütesiegel, zu denken.
Als zweiter Referent warf Dr. Martin Schreiber unter der Überschrift »Werden wir durch die KI entmündigt?« zentrale Fragen auf: Was versteht man unter Intelligenz und was erwarten wir von Künstlicher Intelligenz? Haben wir Angst vor der KI? Empfinden wir die KI als »narzisstische Kränkung« (Freud)? Und schließlich: Steht unsere Mündigkeit auf dem Spiel bzw. wie mündig wollen wir sein, bleiben oder werden?
Dabei verstand er unter KI ein kluges Vorgehen von Computern, von Softwareprogrammen, die unsere "natürliche" Intelligenz durch den Einsatz von Algorithmen vor allem an Schnelligkeit, Präzision und ökonomischer Verwertbarkeit übertreffen. Da Algorithmen Abweichungen verstärken, könnten unbrauchbare Ergebnisse herauskommen, weswegen unsere Gefühle hinsichtlich KI ambivalent sind. Von KI könnten wir nicht erwarten, was wir auch von menschlicher Intelligenz nicht erwarten (Gefühle, Ethik und Moral, Emotionen, Scham- und Schuldgefühle, Mitleid, Gewissen), durchaus aber Entscheidungshilfen und in bestimmten Bereichen die Chance zur Reduktion menschlicher Fehlentscheidungen.
Das Unbehagen, die "Angst" vor der KI ist tiefenpsychologisch gesehen, wie alle anderen Ängste auch, von der Urangst vor dem Tod abgeleitet. Würden wir sie verdrängen, gäben wir unsere Mündigkeit auf, daher müssten wir damit umgehen. Dasselbe gilt für die "narzisstische Kränkung", den Trotz, der Antwort auf die Verletzung unserer Selbstliebe ist (Beispiele dafür sind u.a. Kopernikus' Erkenntnis, dass nicht die Erde bzw. der Mensch Mittelpunkt des Universums ist, oder Darwins Evolutionstheorie). Wenn KI unsere geistige Leistungsfähigkeit erreichen oder gar übertreffen kann, wer (oder was) wäre dann die "Krone der Schöpfung"? Da sich Erkenntnisse nicht dauerhaft unterdrücken lassen, müssten wir künftig mit der KI leben. Es liegt aber an uns, ob wir zulassen, dass wir unmündige Opfer einer Fremdbestimmung werden, denn KI ist nicht etwas, das »über uns kommt« - KI ist von Menschen gemacht, ist Werkzeug; Gestalter ist der Mensch. »Das ist der Kern der Aufklärung: Wie unsere Welt ist, ist nicht Schicksal, Fügung, Vorsehung, Folge von Verschwörungen, finsteren Mächten. Unsere Welt ist - soweit sie nicht durch Evolution und Naturgewalten entstanden ist und weiter entsteht - von Menschen gemacht und regiert. ... Und auch mit Evolution und Naturgewalten versuchen wir mündig (beherrschend, vernünftig, vorausschauend) umzugehen.«
Auf die KI bezogen bedeutet das, dass wir Gestalter bleiben müssen und wollen und die KI als Werkzeug dazu nutzen - d.h. also, Mit-Gestalter der eigenen Welt zu sein (materielle Mündigkeit). Ebenso wichtig ist, die "geistige Mündigkeit" zu pflegen, d.h., Mit-Gestalter einer besseren Welt zu sein, denn nie zuvor konnte der Mensch so differenziert hochrechnen, was sein wird oder kann. Wir bekommen vor Augen gehalten, wohin Klima, Müll, Waffen treiben - aber auch, wohin alles gehen könnte, wenn wir (heute) die Variablen ändern.
Martin schloss mit dem Gedanken, dass der letztgenannte Aspekt an das »Reich Gottes auf Erden« erinnere - nicht im Sinne einer Vollkommenheit, sondern einer Vervollkommnung und unser Bemühen darum und dass die KI uns vorher nie gekannte Möglichkeiten dazu eröffnet.
Im nächsten Vortrag »KI in der Medienwelt« führte uns Wolfgang Struve ein wahres Feuerwerk an optischen und akustischen Beispielen vor, wie heute Fotos, bewegte Bilder und Tonaufnahmen manipuliert werden können. Angefangen bei der harmlosen Retusche von Bildern über die Manipulation und Fälschung gab er uns Hörbeispiele von Sprachsimulation und -manipulation, erläuterte Ton- und Musikerzeugung mit Hilfe von KI-Komponieren und führte Kompositionen aus realen und künstlichen Inhalten vor. Frappierend war auch die Vorführung eines Programms, bei dem auf ein Bild (in diesem Fall von George W. Bush und Barack Obama) Sprache, Mimik und Gestik einer anderen Person absolut identisch übertragen wurde - damit kann man ggf. einer beliebigen Person fremde Aussagen und Gesten "unterschieben".
Ähnlich verblüffend waren Videos von humanoiden Robotern, die laufen lernten und sich zunehmend sicher auf unebenem Gelände bewegten - und für die man direkt Mitgefühl entwickelte, als sie immer wieder von Menschen zu Trainingszwecken behindert wurden ...
Im letzten Beitrag ging es um »Beispiele der Anwendung von KI und ethische Fragen« (Karin Klingbeil). Dabei wurde deutlich, dass KI uns bereits weit mehr umgibt, als manchem bewusst sein mag. Beispielsweise können KI-gestützte Programme Kundenanfragen anhand der verwendeten Formulierungen individuell beantworten. In Bewerberauswahlverfahren eingesetzte Programme benötigen angeblich nur 15 Minuten, um die Persönlichkeit eines Menschen zu erfassen. Zwar soll es sich hierbei derzeit nur um Vorentscheidungen handeln, die den Arbeitgebern stundenlange Vorgespräche ersparen; aber sich gegen eine derart getroffene Vorentscheidung durchzusetzen, dürfte schwierig sein. Andererseits stehen diese Programme den Kandidaten völlig vorurteilsfrei und objektiv gegenüber.
In einer ähnlichen Abhängigkeit befinden sich Kreditnehmer, deren Bonität von Bankinstituten zunehmend durch KI-gestützte Programme geprüft wird, die Muster und Zusammenhänge zwischen bestimmten Daten und einer möglichen Insolvenz zu entdecken vermögen. Trotz des Risikos von Fehleinschätzungen ist die enorme Schnelligkeit der Analysen für die Bankenvertreter ein unschlagbares Argument. Weiter hilft KI Banken beim Aufspüren von Kreditkartenbetrug und verdächtigen Transaktionen, sowie Versicherungen, um gefälschte Schadensmeldungen zu erkennen.
KI findet Anwendung bereits in unzähligen Produkten: allen voran Handys, Smartphones, Smart-TVs und Navigationssysteme, Sprachassistenten, "smarte" Staubsauger und Rasenmäher. "Intelligente" Stromzähler sollen beim Stromsparen helfen. Autonome Fahrzeuge werden in der Landwirtschaft schon lange eingesetzt, dort außerdem etliche speziell entwickelte Programme mit den unterschiedlichsten Sensoren zum Säen, Düngen, Ernten, Zurückschneiden, Füttern, Melken und vieles mehr.
Ein wichtiges Einsatzgebiet von KI ist die Medizin. Besonders in der Diagnostik wurden in der letzten Zeit große Fortschritte bei der Entwicklung von Deep-Learning-Algorithmen erzielt. Sie lernen, Muster (z.B. bei Hautveränderungen) ähnlich wie Ärzte zu erkennen, und können enorm viele digitalisierte Informationen (z.B. medizinische Forschungsergebnisse) blitzschnell auswerten. Weil Mustererkennung eine der Grundlagen der KI ist, hilft sie heute also bei der effizienten Krankheitsdiagnose, der Entwicklung von Medikamenten, der personalisierten Behandlung und sogar beim Editieren von Genen. Im Moment konzentriert sich der Einsatz von KI in der Medizin vor allem auf die Gebiete, wo die diagnostischen Informationen bereits digitalisiert vorhanden sind (vornehmlich bildgebende Verfahren). Allerdings werden seriöse Ärzte Wert darauf legen zu wissen, auf welcher Grundlage die Algorithmen zu ihren Entscheidungen kommen - diese Transparenz ist in der Medizin besonders wichtig.
Auch wenn KI bisher vor allem eingesetzt wird, um dem Menschen zu helfen, gibt es auch gegenläufige Entwicklungen, zum Beispiel beim Einsatz der KI in China. Das Land, dessen erklärtes Staatsziel ist, bis 2030 Supermacht im Bereich der KI zu werden, nutzt die mit milliardenschweren Förderprogrammen entwickelte Technik zur flächendeckenden Überwachung und Gängelung seiner Bürger, insbesondere durch eine flächendeckende Kameraüberwachung und eine autoritäre Verhaltenskontrolle. Durch die immense Datenmenge hat sich China schon jetzt einen Vorsprung in der Anwendung von KI-Technologien erarbeitet.
Nicht nur im Hinblick darauf stellen sich für die Anwendung und den Umgang mit der KI ethische Fragen. Wesentlich ist vor allem, dass der Mensch nicht zum Objekt degradiert wird und Systeme bzw. Algorithmen über ihn entscheiden. Eine letzte Kontrolle und Entscheidung sollte immer beim Menschen liegen - nicht bei autonom entscheidenden Maschinen. Wichtig ist auch Transparenz, damit automatisiert getroffene Entscheidungen nachvollziehbar sind. Ferner besteht das Risiko, dass bei KI-Systemen vorgegebene Tendenzen einprogrammiert werden, was zu Diskriminierungen führen kann; noch problematischer ist es, wenn derlei beim maschinellen Lernen unbeabsichtigt und nicht nachvollziehbar geschieht. Schließlich eröffnen die für selbstlernende Systeme notwendigen riesigen Datenmengen einen erheblichen Zielkonflikt mit dem Datenschutz, für den eine sinnvolle Balance gefunden werden muss.
In der abschließenden Aussprache wurden das Thema für gut geeignet und die Vorträge als hilfreich zur eigenen Meinungsbildung befunden. Wichtig sei eben, sich so weit zu damit zu befassen, dass man selbstbestimmt damit umgehen kann und seine Mündigkeit nicht verliert. Insgesamt empfanden alle das Wochenendseminar wieder als sehr harmonisch und freuten sich schon auf das nächste Mal.