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Wer ist ein Christ? - Wer ist ein Protestant? - Wer ist ein Templer? - Jon Hoffmann
Das einsame Gebet - Peter Lange
Was bedeutet »Gemeinde«? - Fabian Pfortmüller
Staat und Religion (Teil 2) - Jörg Klingbeil
Dieser Frage ging Jon Hoffmann (1893-1973) in der »Warte des Tempels« 1959/Oktober-Dezember nach. Da der Beitrag die nach wie vor gültigen Grundlagen beleuchtet, bringen wir ihn leicht gekürzt in dem Monat, in dem sich die Gründung der Tempelgesellschaft zum 158. Male jährt.
Seltsame Frage, wird mancher denken, aber die Antwort ist keineswegs so einfach, wie man meint. So wird uns Templern ja vielfach entgegengehalten, wir seien keine Christen, da wir ja nicht getauft seien ... (und zwar seltsamerweise nicht auf Christus, wie in der Zeit der ersten Christen, sondern auf den »dreieinigen Gott«). Das zeigt uns, dass es zweierlei zu unterscheiden gilt: die Zugehörigkeit zu den sich selbst als christlich bezeichnenden Organisationen, also insbesondere zu den christlichen Kirchen, und die Zugehörigkeit zu Christus (oder richtiger: zu Jesus, da Christus ja kein Name ist, sondern ein Titel mit der Bedeutung der Gesalbte, der König, hebräisch Messias, nämlich der König des Gottesreichs).
Die Frage, wer einer christlichen Kirche oder einer sonstigen christlichen Organisation angehört, ist ... nicht allzu schwer zu beantworten. Dafür bestehen teils satzungsmäßig formulierte, teils auf ein mehr oder weniger zuverlässiges Herkommen gegründete Regelungen. Fast alle christlichen Organisationen, insbesondere fast alle protestantischen, sind sich darin einig, dass die Zugehörigkeit zur christlichen Organisation noch nicht den wirklichen Christen ausmacht, dass es sich hier vielmehr um eine Frage der Gestaltung der Persönlichkeit und der Lebensführung handelt, eine Frage, die der Einzelne nur schwer und der Außenstehende in aller Regel gar nicht beantworten kann.
Wann aber ist eine Organisation christlich? Dafür werden zwei Gesichtspunkte von Bedeutung werden, ein subjektiver und ein objektiver. In subjektiver Hinsicht wird zu fragen sein, ob die Organisation christlich sein will. Eine Organisation, die das nicht will, ... die vielleicht völlig andersartige Ziele propagiert, werden wir schwerlich christlich nennen. ...
Wann ist nun eine Organisation objektiv, rein tatsächlich gesehen, christlich? ... Gemeinschaften religiöser Art, die den Namen ihres Stifters tragen, werden die Befolgung und Förderung dessen im Auge haben, was sie als seine Gedanken und Bestrebungen erkannt zu haben glauben ...; also wäre ein Christ derjenige, dem es um die Verbreitung der Gedanken Jesu und die Lebensgestaltung in seinem Sinn geht.
Welches die grundlegenden Gedanken Jesu sind, ist im Grunde genommen gar nicht so schwer zu erkennen: alle christlichen Organisationen erkennen als Grundlage ihrer Existenz das Evangelium an, die frohe Botschaft Jesu von dem gütigen Vatergott und vom Kommen seines Reiches, und sie sind sich auch darin einig, dass dieses Evangelium uns vor allem ... in den Schriften des Neuen Testaments ... überliefert ist. Eine religiöse Gemeinschaft, für die das zutrifft, ist eine christliche, ihre Anhänger, wenigstens soweit die Anhängerschaft »echt« ist, d.h. der wirklichen Sinnesart dieser Anhänger entspricht, sind mindestens der Absicht ... nach Christen und gehören zu den Menschen ..., die guten Willens sind und denen die Weihnachtsbotschaft Frieden verheißt. Prüfen wir uns ernsthaft, jeder Einzelne sich selbst und unsere Gemeinschaft, heute und immer wieder, ob wir uns mit Recht Christen nennen. Der Name allein tut’s nicht, weder positiv noch negativ ... .
Am 31. Oktober 1517 hatte Martin Luther die berühmten 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen und damit unbewusst die Reformation in Deutschland eingeleitet. Luther fand mit seinen Thesen wie mit den folgenden Schriften bei der Masse des Volkes, aber auch bei einem Teil der Fürsten stürmischen Widerhall, sodass die vom Kaiser auf dem Wormser Reichstag 1521 über Luther ausgesprochene Acht nicht verwirklicht werden konnte, so wenig wie die verlangte Rückgängigmachung der Reformation in den Ländern, deren Landesherren sich ihr angeschlossen hatten. Im Gegenteil: der erste Speyerer Reichstag von 1526 überließ es bis zu einer Konzilsentscheidung ausdrücklich jedem Reichsstand, »sich mit seinen Untertanen so zu verhalten, wie sie es gegen Gott und kaiserliche Majestät verantworten könnten«.
Nachdem der Kaiser durch den Frieden von Cambrai (1529) außenpolitisch wieder mehr Bewegungsfreiheit erlangt hatte, versuchte die päpstliche Partei, das Wormser Edikt wieder in Kraft zu setzen, wonach Luther und das ganze Reformationswerk geächtet sei. Das gelang allerdings nicht, wohl aber ging der Reichstagsabschied des zweiten Speyerer Reichstags 1529 dahin, dass bis zu einem Konzil jede Veränderung in kirchlichen Sachen, praktisch also jede weitere Ausbreitung der Reformation, unterbleiben solle.
Die Evangelischen waren darüber sehr erregt. Was sollte nun geschehen? Sollte die unterdrückte Minderheit diesem Reichstagsbeschluss, der das Todesurteil des Evangeliums bedeutete, sich fügen? Das war nicht möglich. Sie saßen beieinander, die Ritter des Schwertes und die Ritter des Geistes, um Melanchthon geschart, dessen Weisheit hier leuchtete wie die Sonne, dass alles sich verwunderte, wie der Mann des stillen Studierstübleins so geschickt war, politische Knoten zu lösen. Man war darüber einig geworden, dass es Feigheit sei und Untreue gegen die Wahrheit Gottes, wenn man diese Vergewaltigung ruhig ertrüge. Und so entschloss man sich zu einem feierlichen Protest, der dann zu der Bezeichnung »Protestanten« für die Verfasser führte. ...
Die Speyerer Protestanten glaubten, genauso wie Luther, in der Verbundenheit der einen »katholischen« Kirche zu stehen und unter Anerkennung der unverbrüchlichen, vollen und alleinigen Autorität der Heiligen Schrift nur einzelne Missbräuche abzulehnen. Aber die Formulierung »in Sachen Gottes Ehre und der Seelen Seligkeit betreffend muss ein jeglicher für sich selbst vor Gott stehen« und »kann kein Beschluss der Mehrheit gelten« greift - ohne dass die Protestanten sich dessen voll bewusst waren - viel, viel weiter. Hier wird in der Tat das »protestantische Prinzip« der Selbstverantwortung des Einzelnen aufgerufen, mit dem z.B. die von Melanchthon gebilligte Verbrennung des Leugners der Dreieinigkeit Servet im Jahre 1553 in Genf durch Calvin wegen Ketzerei in krassem Widerspruch steht und mit dem im Grunde genommen die Forderung der (objektiven) Bindung des Einzelnen an die Heilige Schrift so wenig vereinbar ist, wie die (von der Überzeugung des Einzelnen unabhängige) Bindung an die traditionelle Gemeinschaft, die Katholische Kirche.
Im Lauf der Zeit wurde das im Protestantismus auch erkannt, ohne dass jedoch entscheidende Folgerungen daraus gezogen wurden. In der Kampfzeit hatte man geglaubt, den wesentlichen Unterschied zwischen Katholizismus und Protestantismus - abgesehen von der Ablehnung der Verbindlichkeit päpstlicher Entscheidungen - in der Gegenüberstellung von Werkgerechtigkeit und Rechtfertigung vor Gott allein aus dem Glauben ausdrücken zu können - Luthers tiefe Glaubensüberzeugung nach seinem Scheitern im Mönchstum und die Entzündung des Streits am Ablassmissbrauch legten das nahe - und man glaubt im Protestantismus auch heute noch in weiten Kreisen, insbesondere in der offiziellen Lehre, die Verwahrung gegen die Bindung der göttlichen Offenbarung und Gnade an irdische Institutionen (Papsttum, Klerus, Tradition) und die Rechtfertigung des Menschen allein durch den Glauben vereinigen zu können mit der Beibehaltung von Sakramenten und dogmatischen Formeln, wenngleich man in der Praxis bereit ist, dem Einzelnen weiteste Konzessionen zu machen - falls er Laie ist und auf »Mission« verzichtet.
Aber man sucht sich zu verschließen gegen das, was die Speyerer Protestation ganz klar zum Ausdruck bringt, dass nicht die Kirche, sondern der Einzelne darüber zu entscheiden hat, was ihm höchste Norm ist, und dass wir Protestanten demzufolge nicht deshalb Jesu folgen, weil die Kirche das verlangt oder weil es die Heilige Schrift lehrt und wir in dieser Tradition aufgewachsen sind, sondern umgekehrt, weil wir nach gewissenhaftester Prüfung erkannt haben, dass das, was Jesus nach der Heiligen Schrift verkündet hat, auch der Stimme unseres Gewissens, der Stimme Gottes in uns, entspricht.
Offensichtlich sind wir Templer Christen und Protestanten. Aber worin liegt das Besondere, was den Templer ausmacht? Und zwar natürlich nicht im organisatorischen Sinn, ... sondern der Idee, der geistigen Einstellung nach.
Es sind gar nicht wenige unter uns, die der Auffassung zuneigen und sich mit der Feststellung begnügen möchten, die Templer seien eine »freie« christliche Gemeinschaft, oder, was auf dasselbe hinausläuft, Templer sei jeder, der Christ und Protestant im »richtigen«, in den beiden letzten Kapiteln entwickelten Sinne sei. Aber das wäre ein Irrtum.
Natürlich sind wir der Auffassung, dass unsere Deutung der Botschaft Jesu richtig ist. Ander]falls müssten wir sie schleunigst aufgeben ... . Aber wir sehen, dass neben der unsrigen auch andere Auffassungen bestehen, und so müssen wir die unsrige und die anderen prüfend vergleichen.
Grundlage der Tempelbewegung ist und war von Anbeginn an das Wort Jesu: »Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes« (Matthäus 6,33). Aber dieses Reich Gottes wird von uns - und darin geben wir vielen Christen schon Anstoß - nicht bloß als eine überirdische Idee, auch nicht bloß als eine Idee, die Menschen gleicher, aufs Geistige gerichteter Gesinnung verbindet, aufgefasst, sondern als ein eminent praktisches Ziel, dem letzten Endes die ganze Menschheitsgeschichte (richtiger sogar: das ganze Weltgeschehen) zustrebt und dem demzufolge jeder Einzelne sich einzuordnen hat. Und zwar begreift dieses Ziel in sich die Vervollkommnung aller Dinge, die Entwicklung aller geistigen und materiellen Kräfte im Sinne des Guten, d.h. der von uns mit Jesus als Grundzug des göttlichen Wesens erkannten Liebe (bei Gott auch Gnade, Barmherzigkeit, Sündenvergebung genannt).
Bis hierher werden immerhin noch viele mit uns einig gehen. Der spezifisch templerische Gedanke ist nun der, dass zur erfolgreichen Arbeit auf dieses Ziel hin der Zusammenschluss der Jünger Jesu in Gemeinden nötig ist, die Sammlung des Volkes Gottes, die Bildung eines (geistlichen) Tempels, weil auch auf dem Gebiet der Ethik ... eine Entwicklung und namentlich eine praktische Verwirklichung immer nur in Stufen möglich ist. ... So kann man auch in einer Gemeinschaft, die in sittlicher Hinsicht eben erst den Gedanken der Wiedervergeltung (Auge um Auge, Freundestreue und Feindesabwehr) zur Anerkennung und Verwirklichung gebracht hat, christliche Ideen allgemeiner Nächstenliebe und des Verzichts auf Widerstand gegen das Böse zwar allenfalls propagieren, aber nicht alsbald praktisch durchsetzen, weil eben die Voraussetzungen einfach noch nicht gegeben sind.
... Protestant und »freier« Christ kann einer sein, der auf eigene Faust versucht, für sich allein in die Fußstapfen des Meisters zu treten, Templer ist derjenige, der erkannt hat, dass ein solcher Alleingang nicht genügt, dem Wesen des Menschen ... als Gemeinschaftslebewesen nicht entspricht, die Aufgabe erschwert, und daher ... nicht zum Ziel führen kann.
Der Katholizismus hat recht mit der Betonung der Wichtigkeit der Gemeinschaft, und der Protestantismus hat recht mit der Verfechtung der Freiheit der religiösen Überzeugung und ihrer Bildung und Propagierung; was Not tut, ist der freiwillige Zusammenschluss derjenigen, die in freier Prüfung zu der Überzeugung der Richtigkeit der Botschaft Jesu gekommen sind, und die deshalb wissen, dass eine noch so schöne Überzeugung nicht genügt, sondern dass daraus ein entsprechendes Handeln sich ergeben muss, ... Christoph Hoffmann hat in seiner Schrift »Über die Grundlage eines dauerhaften Friedens« auf die Notwendigkeit einer neuen, die Völker vereinenden Konfession hingewiesen und findet dann diese neue Konfession in der Botschaft Jesu vom Reich Gottes, weist aber mit Recht darauf hin, dass die Botschaft nicht bloße Lehre bleiben darf, sondern nur dann die Völker erlösen kann, wenn die praktische Verwirklichung ernsthaft in Angriff genommen wird.
Mit Recht führt er daher ... aus: »Vielleicht möchten manche der im obigen geschilderten Konfession den Namen einer neuen absprechen, und wir könnten uns dies in einem gewissen Sinn wohl gefallen lassen, da sie in der Tat uralt, nämlich so alt als der Glaube an das Reich Gottes ist, der im Grunde bis zu Abraham oder sogar bis in die Anfänge der Menschheit hinaufreicht; allein gegenüber den bestehenden Konfessionen müssen wir darauf bestehen, dass die hier geschilderte eben die neue Konfession ist, der die Völker bedürfen. Wenn auch der Inhalt derselben teilweise in den vorhandenen Konfessionen schon vorkam, ja, wenn sich selbst eine fände, die, um theologisch zu reden, ihren ganzen Lehrgehalt von dem Begriff des Reiches Gottes ableitete, so handelt es sich doch bei uns nicht um Aufstellung eines Lehrgebäudes, sondern um denjenigen Glauben, der das Reich Gottes will und es zu verwirklichen sucht. Dazu gehört allerdings eine klare Erkenntnis dessen, was werden soll; aber diese hat nur den Wert eines Baurisses, und nicht der Riss, sondern der Wille zu bauen, macht den Glauben und die Konfession aus.«
Wir Templer sollten uns das immer wieder vergegenwärtigen.
»Am nächsten Morgen verließ Jesus lange vor Sonnenaufgang die Stadt und zog sich an eine abgelegene Stelle zurück. Dort betete er.« (Markus 1,35)
Das einsame Beten Jesu in der Abgeschiedenheit fällt immer wieder in den Berichten der Evangelisten auf. Es gehörte zu seinem Leben als eine für ihn außerordentlich wichtige Zwiesprache mit Gott. Meist befand er sich dabei allein ohne seine sonstigen Begleiter. Natürlich kennen wir auch die Berichte über sein Beten beim »Brotbrechen« anlässlich einer gemeinsamen Mahlzeit mit seinen Jüngern, und wir folgen ihm hierbei ja auch mit unseren Tischgebeten bei einem gemeinsamen Essen in der Gemeinde.
Was hat es nun mit diesem Beten in der Abgeschiedenheit auf sich? Da uns diese Gebete inhaltlich nicht bekannt sind, können wir nur vermuten, was ihn in solchen Momenten seines Lebens bewegte. Ich könnte mir denken, dass er vor allem danach fragte, welche Aufgabe Gott ihm für sein Leben gestellt hatte. Das war vermutlich eine Frage, die sich ihm immer wieder neu stellte, je nach Situation und Anlass. Es war die Frage nach seinem Selbstverständnis (»Was sagen denn die Leute, wer ich sei?«). Sein Leben als Handwerker hatte nach seiner Taufe im Jordan eine so große Wende genommen, dass er immer wieder neu nach Antworten suchen musste. Worum hat er wohl gebetet?
Fritz Maass schreibt in seinen »Gedanken zum Markusevangelium«, dass in den Kommentaren zu Jesu Beten in der Einsamkeit die Frage zum Inhalt des Gebets zu Unrecht meist übergangen werde, denn sie sei aufschlussreicher beantwortet als man annehme, und zwar in Markus 14,26, wo nach dem Passamahl die Dankpsalmen 114 bis 118 gesungen wurden. Fritz Maass schreibt, man müsse sie Wort für Wort lesen, um zu erfahren, wie Jesus gebetet habe und wie er sein Leben verstanden hat.
Als Christen haben wir überwiegend nicht das Wissen, wie Beten in der altjüdischen Frömmigkeit gepflegt wurde und welche Wirkung es bei den Beteiligten auslöste. Kann der Bibelvers zu Beginn uns deshalb heute noch etwas bedeuten? Ich meine: ja. Denn es geht auch heute noch um das Fragen nach uns selbst, nach unserem Eingebettet-Sein in die Weltwirklichkeit und um das, was wir sind und sein sollen. Wir gehen dafür nicht wie Jesus in die Abgeschiedenheit. Es gibt auch andere Möglichkeiten der Selbstfindung als ein Gebet. Es kann meditatives Zur-Ruhe-Kommen sein. Die Berge, ein Garten, ein See - gar vieles kann uns helfen, Einkehr und Einsicht zu finden.
Im Monat unseres Gedenkens an die Gründung der Tempelgesellschaft vor 158 Jahren soll die »Warte« auch wieder auf wesentliche Begriffe unseres Glaubens hinweisen. Hier ist es der Begriff der »Gemeinde«. In der dreimonatlich von der Temple Society Australia herausgegebenen Zeitschrift »Templer Reflections« wird im April-Heft die Gemeinde in unserem Sinne gut verständlich und einleuchtend beschrieben. Wir geben diese Gedanken hier in Zusammenfassung und Übersetzung wieder.
Als einer, der täglich mit Gemeinden zu tun hat und in den letzten Jahren viele von ihnen auch näher untersucht hat, gibt es für mich dabei das ungute Gefühl einer Verwirrung in der Benennung. Es gibt heutzutage alles Mögliche, das unter diesem Begriff verstanden wird, vom Greifbaren bis hin zum ganz Abstrakten. Ich erkenne da zwei Missverständnisse: Die meisten der so genannten "Gemeinden" sind gar keine wirklichen Gemeinden. Alles Mögliche wird im heutigen Sprachgebrauch so genannt, überwiegend in den sozialen Medien.
Die traditionelle Bezeichnung "Gemeinde" scheint etwas aus der Mode gekommen zu sein. Wir verwenden sie für alles Mögliche im täglichen Leben. Und es fehlt ihr im Grunde etwas, das »wirkliche« Gemeinden aufweisen. Wir sollten deshalb versuchen, diesem Begriff den wahren Inhalt zu geben, der ihm zusteht.
Ich möchte damit anfangen, dass ich zu definieren versuche, was "Gemeinde" eigentlich bedeutet: Die Bezeichnung Gemeinde wird auf eine Gruppe von Menschen angewandt, die sich umeinander sorgen und die das Gefühl haben, dass sie zueinander gehören. Lasst uns dies einmal Schritt für Schritt durchdenken.
»Eine Gruppe von Menschen« - Ohne Zweifel besteht eine Gemeinde aus einer Gruppe von Menschen. Das mag als offensichtlich gelten, doch ich erlebe, dass der Begriff immer wieder auch abstrakt verwendet wird: »die Marktgemeinde«, »die internationale Gemeinde«, »die Königstraßengemeinde«, »die Airbnb-Gemeinde«. Wir wollen doch von echten Menschen reden, von ihren Geschichten, ihren Hoffnungen, ihren Träumen.
»Die sich umeinander sorgen« - Das ist für mich das Herzstück einer Gemeinde. Die Einzelnen in einer Gruppe sind nicht irgendwelche Leute, sie unterhalten Beziehungen zueinander. Sie kümmern sich um den anderen. Sie sorgen sich sogar mehr um die anderen in der Gruppe als um irgendeinen, den sie auf der Straße treffen. Hier geschieht das Wunderbare einer Gemeinde. Durch Vertrauen entstehen Mitarbeit, Teilnahme, Unterstützung, Hoffnung, Sicherheit und vieles mehr. Während sich die meisten Organisationen in der Welt äußere Ziele setzen, pflegen Gemeinden das Vertrauen in den anderen.
»Und das Gefühl haben« - Gemeinden kümmern sich um das, was Menschen am meisten brauchen: Liebe zu empfangen. Wir wollen nicht einsam sein, sondern erfahren, dass wir irgendwo hingehören. Wirkliche Gemeinschaft gibt uns das Gefühl, zuhause zu sein, eine Familie zu haben. Das ist mein Stamm, dort gehöre ich hin, dort werde ich angenommen für das, was ich bin.
»Dass sie zueinander gehören« - Eine Gemeinde gibt den Menschen das Gefühl einer gemeinsamen Identität. Die Summe ist größer als die einzelnen Teile. Auf die geteilte Identität kommt es an, weil sie die Beziehungen in der Gruppe höher einstuft als zwischen Einzelnen sonst. Ich vertraue dir mehr als irgendeiner anderen Person, weil wir derselben Gemeinschaft angehören und ihre Identität teilen.
Manchmal hört man auch die Definition, dass eine Gemeinde eine Gruppe von Menschen darstellt, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Für mich greift diese Definition zu kurz, es sei denn die Einzelnen hätten vertrauensvolle Beziehungen zueinander. Warum? Weil es so viele Dinge in der Welt gibt, bei denen Menschen ein gemeinsames Ziel, eine bestimmte Haltung, ein besonderes Interesse anstreben: Projekt-Teams, gesellige Verbände, politische Parteien. Diese Gruppen von Menschen mögen zwar ein gemeinsames Ziel verfolgen, aber sie können nicht Gemeinden im eigentlichen Sinn genannt werden.
Warum nicht? Weil Projekt-Teams, Geselligkeiten und politische Gruppierungen, welches Ziel auch immer sie verfolgen, sich begründen aus dem, was als Resultat (»Output«) dabei herauskommt, während Gemeinden in meinem Verständnis etwas anderes optimieren, nämlich die Beziehungen und das Vertrauen der Einzelnen untereinander. Ich meine, dass dieser Unterschied bedeutsam ist für das Leben von uns Menschen.
Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 stellte gewissermaßen ein vorübergehendes Stillhalteabkommen zwischen dem (katholischen) Kaiser aus dem Hause Habsburg und den - inzwischen mehrheitlich dem Luthertum zuneigenden - weltlichen (deutschen) Fürsten dar; dabei spielte nicht zuletzt die Bedrohung von außen durch die Türken, die 1529 erstmals Wien belagerten, eine wichtige Rolle. Unterschwellig bestanden aber erhebliche Interessengegensätze weiter: Der katholischen Seite ging es vor allem darum, ihre Religionspraxis und den Kirchenbesitz zu wahren; die Lutheraner wollten hingegen die gleichberechtigte Anerkennung ihres Glaubens und die »Freistellung« ihrer Untertanen, damit jedem das Bekenntnis zum »wahren Evangelium« ermöglicht werde. Nicht gedacht war seinerzeit an eine allgemeine Religionsfreiheit. Nur Katholischen und Lutheranern, nicht jedoch Calvinisten, sollte der Frieden zugedacht sein. Sonstige »Sekten« wie Waldenser oder »Täufer« blieben erst recht außen vor. Im Mittelpunkt stand das beiderseitige Versprechen, Religion, Kirchengebräuche und Kirchengüter der andersgläubigen Reichsstände zu respektieren. Es ging insofern (nur) um die Glaubensfreiheit der Reichsstände, also der Fürsten und anderen Landesherren, und nicht um die der Untertanen. Religionsverschiedenheit unter einem Landesherrn war noch undenkbar.
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verschärfte sich die konfessionelle Konfrontation wieder: Zum einen wegen gegenreformatorischer Maßnahmen in den katholischen Territorien nach dem Konzil von Trient (1563), zum andern wegen der fortdauernden Einziehung von Kirchengütern in den protestantischen Gebieten und der Säkularisierung ehemals katholischer Gebiete. Die Krise führte schließlich 1618 zum Krieg, als die böhmischen Stände den calvinistischen Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz zum König von Böhmen wählten und mit dem bekannten Fenstersturz von Prag die kaiserlichen Statthalter und damit die habsburgische Herrschaft loswerden wollten. Das Kaiserhaus sah sich dadurch auch deswegen herausgefordert, weil nun im Kurfürstenkollegium eine protestantische Mehrheit entstanden war und ein nicht mehr habsburgisches (katholisches) Kaisertum drohte. Es folgte der Dreißigjährige Krieg, der als Religionskrieg begann, bei dem es aber letztlich um die Machtverteilung in Europa ging und der von verschiedenen Großmächten vorwiegend auf deutschem Territorium ausgetragen wurde. Die Kriegshandlungen und die durch sie verursachten Hungersnöte und Seuchen entvölkerten ganze Landstriche; in Teilen Süddeutschlands überlebte nur ein Drittel der Bevölkerung.
Im 16. Jahrhundert veränderte sich das Verständnis des Staatswesens. Das bezeugen u.a. die zwischen Fürsten und Landständen als den politischen Vertretungen der Stände abgeschlossenen Verträge, so der »Tübinger Vertrag« von 1514, in dem der württembergische Herzog versprach, die Landstände an politischen Entscheidungen mit erheblichen finanziellen Konsequenzen zu beteiligen und Strafen an Leib und Leben nur in ordentlichen Verfahren zu verhängen. Das reformatorische Kirchenregiment und - seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts - auch die katholischen Maßnahmen der Kirchenreform und Gegenreformation verschafften den Obrigkeiten eine zusätzliche politische Legitimation. Lutherische Fürsten regelten - oft gemeinsam mit den Landständen - zahlreiche innerkirchliche Angelegenheiten wie Gottesdienst und Sakramente, die kirchlichen Ämter und Aufsichtsstrukturen sowie das Schul-, Spital- und Armenwesen. Hin und wieder beteiligte sich der Landesherr sogar an der Erörterung theologischer Bekenntnisfragen. Bedeutsamer für das tägliche Leben der Untertanen war aber eine zunehmende »Sozialdisziplinierung«, etwa die Pflicht zum regelmäßigen Gottesdienstbesuch oder ein striktes Reglement der Beziehung der Geschlechter untereinander. Wer sich z.B. am Sonntag zur Zeit des Gottesdienstes im Wirtshaus aufhielt, außereheliche Beziehungen unterhielt oder Trunksucht und Müßiggang verfiel, der musste mit drastischen Strafen rechnen. Auch in den katholischen Territorien war es ähnlich, wobei hier der Schwerpunkt der Verhaltenspflichten auf dem regelmäßigen Sakramentsempfang lag. Bei Protestanten wie Katholiken kontrollierten geistliche und weltliche Würdenträger quasi Hand in Hand die Untertanen. Noch härter traf es die Menschen, wenn Landesherren zum rigiden Calvinismus übertraten: In den betroffenen Gebieten konnten nun etwa Sünden auch öffentlich bekannt gegeben werden und zum Ausschluss aus der Gemeinde führen. Die Auswirkungen dieser Politik reichten weit über die damalige Epoche hinaus: Eine Verrechtlichung weiter Lebensbereiche fand statt, was einerseits immerhin partiell Rechtssicherheit mit sich brachte, andererseits umfassenden Gehorsam der Untertanen gegenüber den Gesetzen verlangte. Strafgesetze wurden für die Sozialkontrolle zunehmend wichtig. Parallel zu einer Verschärfung der Verhaltenskontrolle entwickelte sich aber auch das Bildungswesen - »Gottes Wort verlangte nach Lesern«, meinte ein Verfassungshistoriker einmal zum Hintergrund dieser Entwicklung. Insbesondere die protestantischen Landesherren reformierten auf breiter Front das Schulwesen; später zogen die katholischen Gebiete mit den Gymnasien der Jesuiten nach. Auch wenn die Alphabetisierung der einfachen Bevölkerung sich lange hinzog, so ging doch die Initialzündung von der Religionslehre aus - den nächsten Schub sollte dann die Aufklärung auslösen.
Der Dreißigjährige Krieg konnte nach jahrelangen Verhandlungen mit dem Westfälischen Frieden von 1648 beendet werden, den der Kaiser und die Repräsentanten katholischer und protestantischer Reichsstände mit Frankreich und Schweden schlossen. Insbesondere die Stellung der Reichsstände wurde durch den Friedensschluss erheblich verändert. Die Religionsparteien mussten nun ihre gegenseitigen Besitzstände nach dem Stand von 1624 respektieren. Das landesherrliche Reformationsrecht wurde damit eingeschränkt; andersgläubige Untertanen waren ggf. zu dulden. Außerdem galt der Religionsfrieden fortan auch für Calvinisten. Wegweisend war zudem die Idee, im Falle zukünftiger Religionskonflikte im Reichstag keine Mehrheitsentscheidungen zu treffen. Jedenfalls bestimmten die Regelungen des Westfälischen Friedens die konfessionelle Lage für lange Zeit, wobei die Fürstentümer und Reichsstädte weiterhin den Eindruck starrer konfessioneller Einseitigkeit machten. Allerdings erwiesen sich viele Regelungen im Laufe der folgenden Jahrzehnte und Jahrhunderte als zu unflexibel, so dass sie zunehmend unterlaufen, beiseitegeschoben oder offen für irrelevant erklärt wurden. Derartige »Toleranzmaßnahmen« prägten vor allem die Entwicklung in Preußen: Bereits 1613 war der Kurfürst von Brandenburg zum reformierten Bekenntnis übergetreten, ohne dass dies für die lutherische Mehrheit der Bevölkerung negative Folgen hatte. Und im niederrheinischen - zu Preußen ab 1614 gehörenden - katholischen Kleve sorgte ein liberales Edikt sogar für weitere innerpreußische Pluralität. Auch die 1648 eigentlich ausdrücklich verbotene Duldung sogenannter Sekten wurde in Preußen in beachtlichem Umfang praktiziert. Die zunehmende Verbreitung der Toleranzidee beruhte allerdings weniger auf einer entsprechenden Wertschätzung der Religionsfreiheit, sondern hatte wohl mehr praktische bzw. politische Gründe. Die Ausdehnung des Herrschaftsbereichs einzelner Fürstentümer - sei es durch Kriege, Erbfolge oder Heiratspolitik - zwang einfach zu einer wachsenden Integration glaubensverschiedener Landesteile. Mit anderen Worten: Die staatliche Einheit wurde wichtiger als die religiöse Einheit eines Landes. Besonders deutlich wurde dies in Preußen, als der junge Friedrich II. (1712-1786) - später »Friedrich der Große« genannt - 1740 den Thron bestieg: Dieser dem »aufgeklärten Absolutismus« zugerechnete Preußenkönig ließ bereits kurze Zeit nach seinem Amtsantritt seine liberale Auffassung zur Religionsfreiheit erkennen, als er auf einer Eingabe zur Frage, ob die katholischen Schulen im mehrheitlich protestantischen Preußen wieder abgeschafft werden sollten, am 22. Juni 1740 folgende Bemerkung notierte: »Die Religionen müssen alle toleriert werden. Hier muss ein jeder nach seiner Façon selig werden« (Schreibweise angepasst). Folgerichtig lehnte er die Eingabe ab. Preußen ermöglichte als erstes Land ein friedliches Nebeneinander der Glaubensbekenntnisse. »Der preußische Staat war religiös gleichgültig«, meinte der Publizist Sebastian Haffner zu Friedrichs Religionspolitik, »seine Untertanen durften katholisch, protestantisch, lutherisch oder calvinistisch, Juden oder Muslime sein, das war ihm alles gleich recht, wenn sie nur ihre Staatspflichten erfüllten.« Dabei stand Friedrich den Religionen nicht besonders nahe, hielt deren Rituale sogar für Aberglauben und spottete über das Christentum - aber er orientierte sich an dem, was ihm zweckmäßig erschien. Nach der Eroberung Schlesiens mit seiner überwiegend katholischen Bevölkerung stellte er seine Toleranz erneut unter Beweis. Und um seine Neutralität in religiösen Fragen zu untermauern, schenkte er den Berliner Katholiken ein Grundstück im Herzen der Stadt; dort konnten sie die St.-Hedwig-Kathedrale bauen, das erste katholische Gotteshaus in Berlin nach der Reformation. Bemerkenswert auch sein Einsatz für die Jesuiten: Als Papst Clemens XIV. 1773 das Ende des Ordens verfügte, ließ es Friedrich II. nicht zu, dass die Jesuiten aus den schlesischen Schulen abgezogen wurden.
Eine stark vom Geiste der Aufklärung geprägte Vorreiterrolle übernahm Preußen auch bei der Verankerung der Religionsfreiheit als eines subjektiven Rechts des Individuums. So heißt es im elften Abschnitt des zweiten Teils des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794: »(§1) Die Begriffe der Einwohner des Staats von Gott und göttlichen Dingen, der Glaube, und der innere Gottesdienst, können kein Gegenstand von Zwangsgesetzen sein. (§2) Jedem Einwohner im Staat muss eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit gestattet werden. (§3) Niemand ist schuldig, über seine Privatmeinungen in Religionssachen Vorschriften vom Staat anzunehmen. [...] (§40) Jedem Bürger des Staats, welchen die Gesetze fähig erkennen, für sich selbst zu urteilen, soll die Wahl der Religionspartei, zu welcher er sich halten will, frei stehen.« (Schreibweise angepasst).
Ebenso modern war, dass die öffentliche Religionsausübung mit »Turm und Glocken« allen drei reichsrechtlich anerkannten christlichen Konfessionen (Katholiken, Lutheraner, Reformierte) zustand, die als öffentlich anerkannt (und nicht nur geduldet) galten und den Status von Korporationen hatten. Gleichbehandlung bedeutete aber keineswegs Freiheit im Sinne religiöser Vereinigungsfreiheit, sondern nur, dass alle drei gleichermaßen staatlicher Aufsicht und Leitung unterworfen waren - der säkulare Staat deutete sich an, war aber noch längst nicht erreicht. So war auch die freie Bildung von Religionsgesellschaften noch nicht zugelassen; sie bedurfte der Genehmigung.
Die Trennung von Staat und Kirche war noch nicht beabsichtigt, geschweige denn realisiert. Und die staatliche Kirchenhoheit wurde im preußischen Staat noch bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein ebenso streng wie andernorts gehandhabt - entsprechend dem Geist des Zeitalters. Auch kannte man den Kirchenaustritt nur als Kirchenübertritt: »(§41) Der Übergang von einer Religionspartei zu einer anderen geschieht in der Regel durch ausdrückliche Erklärung.« Es gab mithin in Preußen seinerzeit Freiheit zum Glauben, aber keine Freiheit vom Glauben. Das änderte sich erst 1847. Allerdings durfte es keine völlige Gleichgültigkeit der Religionsgesellschaften gegenüber dem Staat geben; vielmehr wurden die Kirchen insofern streng in die Pflicht genommen: »(§13) Jede Kirchengesellschaft ist verpflichtet, ihren Mitgliedern Ehrfurcht vor Gott, Gehorsam gegen die Gesetze, Treue gegen den Staat und sittlich gute Gesinnungen gegen ihre Mitglieder einzuflößen.« So ergibt das Allgemeine Preußische Landrecht ein durchaus ambivalentes Bild: Einerseits wird deutlich erkennbar, dass der Staat die Frage nach dem wahren Glauben nicht beantworten kann; andererseits wird die Existenz Gottes und die Unentbehrlichkeit der christlichen Religion für eine gedeihliche politische und soziale Ordnung quasi vorausgesetzt.
(Fortsetzung folgt)