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Alle Jahre wieder - Jörg Klingbeil
Die entscheidende Frage an den Menschen - Peter Lange
Was ist mir heilig? - Peter Lange
Der Traum meines Vaters - Eva-Maria Lerch
An der Grenze - wo das Trennende verschwindet - Jörg Klingbeil
»Alle Jahre wieder«, so lautet ein bekanntes Weihnachtslied. Und alle Jahre wieder wird bei Weihnachtsgottesdiensten die bekannte Geburtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium vorgelesen. Wir wissen aber mittlerweile, dass der Bericht des Lukas eher Legende als Tatsachenbeschreibung ist. Jesus hat von seiner Geburt nichts berichtet. Das älteste und das jüngste Evangelium, also Markus und Johannes, wissen von dem Geburtsgeschehen ebenfalls nichts und fangen ihren Bericht mit der Taufe von Jesus im Jordan an. Die Geburt Jesu wird nur bei Lukas und Matthäus beschrieben - und das auch noch völlig unterschiedlich. Das beginnt schon beim Stammbaum. Da der Messias nach den Verheißungen des Alten Testaments von David abstammen soll, ist es natürlich wichtig, dass der Stammbaum Jesu von David her lückenlos abgeleitet wird. Matthäus und Lukas tun das auch, aber jeder auf seine Weise: Nach Matthäus liegen zwischen Jesus und David 26 Generationen, nach Lukas sogar 41. Erstaunlich auch, dass bei beiden Evangelisten die Abstammung über Josef verläuft, obwohl dieser nach beiden Berichten ja gerade nicht der Vater des Kindes sein soll. Aber anders wäre die erwünschte Abstammung von König David nicht darstellbar gewesen. Überhaupt werden viele Einzelheiten so beschrieben, dass sie wie die Erfüllung der alttestamentarischen Weissagungen wirken, angefangen vom Ort der Geburt, nämlich Betlehem, wovon der Prophet Micha spricht, bis hin zu Jesaja, der die Ankunft eines Friedensfürsten weissagt, was die kirchliche Tradition später auf Jesus Christus bezogen hat.
Gerade der Wunsch nach »Friede auf Erden« war zu der Zeit, als Lukas seinen Bericht schrieb, nämlich um das Jahr 80 nach der Geburt Jesu, besonders ausgeprägt. Jerusalem und der Tempel waren zehn Jahre zuvor von den Römern zerstört und die Bevölkerung vertrieben worden. Das ganze Land versank im Chaos. Die Zerstörung des Tempels erschütterte Juden wie Christen zutiefst; dieses Ereignis rief nach Deutung und Orientierung, die Lukas mit seinem Bericht geben wollte. Deshalb nahm er darin immer wieder auf die Weissagungen des Alten Testaments Bezug, auch um die Kontinuität mit diesem zu zeigen. Und Lukas spricht - möglicherweise geprägt von Krieg und Vertreibung - von Jesus vor allem als »Heiland« der Armen, der Entrechteten und der Ausgegrenzten. Dafür stehen in dieser Geburtsgeschichte die Hirten auf dem Feld, die traditionell eher eine niedrige gesellschaftliche Stellung einnahmen. Bei Matthäus wird die Geburt ganz anders als bei Lukas geschildert; dort heißt es nur einfach, dass Jesus in Betlehem geboren wurde - keine Rede von Volkszählung und Hirten auf dem Feld, die die Botschaft des Engels hören. Dafür aber erzählt Matthäus die Geschichte von den drei Weisen aus dem Morgenland, die Gold, Weihrauch und Myrrhe schenken, sowie von dem Stern, der sie nach Betlehem führte. Uns sind diese Unterschiede oft gar nicht bewusst und wir führen sie bei jeder Weihnachtskrippe problemlos zusammen, wenn dort Engel, Hirten und die Weisen aus dem Morgenland, die in der Bibel gar nicht gemeinsam auftreten, friedlich vereint um den Stall herum stehen.
Albert Schweitzer, der nicht nur ein berühmter Urwaldarzt und Organist, sondern auch ein fortschrittlicher Theologe war, hat das schon vor mehr als hundert Jahren auf den Punkt gebracht: »Die Geburtserzählungen bei Matthäus und Lukas berichten gar nichts Wirkliches... Es sind tief empfundene Legenden, welche in der ersten Christenheit aufkamen und mit denen sie die weißen Blätter des Ursprungs Jesu ausfüllte ... Man darf sich nicht scheuen, dies offen heraus zu sagen, denn es ist Unrecht, einen Christen heutiger Tage auf etwas verpflichten zu wollen, von dem wir keine bestimmte Kunde besitzen. Jesus hat seinen Jüngern nichts über seine Geburt und seine Abkunft erzählt - und obwohl sie nichts darüber wussten, glaubten sie doch an ihn, um seiner Rede und seiner Werke willen. So ist auch unser Glaube unabhängig von irgend einer Vorstellung über die Abstammung und die Geburt Jesu.«
Ein Glauben um Jesu Botschaft und seiner Werke willen, unabhängig von der Geburtslegende, das ist sicher auch der Maßstab, den die Templer für sich in Anspruch nehmen. Deswegen steht auch auf der Umschlagseite jeder »Warte«, was den Templern wichtig ist, nämlich das, was Jesus (vor)lebte und selber lehrte, nicht was über ihn gelehrt wird, also was Kirchengeschichte und Dogmatik aus ihm gemacht haben. Um noch einmal Albert Schweitzer zu zitieren: »Jesus ist in den Kirchen eingemauert. Und zwar taten sich die Kirchen und die Welt zusammen. Die Kirchen führten die innere Mauer (in Form von Dogmengebäuden), die Welt die äußere Mauer auf (in Form von Gedankenlosigkeit und Unkenntnis)«. Deshalb heiße Weihnachten, den eingemauerten Jesus aus der Gefangenschaft der Formeln und Verkrustungen und Übermalungen zu befreien, seine undogmatische, auf das wirkliche Leben bezogene Botschaft zu hören und ihn sein zu lassen, was er war: »ein Mensch für Menschen«. Diese »Diesseitsreligion« steht mit Jesu Geburt zur Debatte. Gegen alles, was im Laufe der Zeit daraus gemacht worden ist, aber mit allen Außenseitern und Querdenkern, die den Anfang richtig begriffen haben, den Anfang im Stall, den Anfang ohne große Worte, ohne dogmatische Komplikationen, ohne ein Wort der Gelehrten, ein Anfang jenseits aller Hierarchien. Ein Anfang, in dem die Engel schon den Frieden auf Erden für die Friedfertigen und nicht den Frieden erst im Himmel verkünden. Wie könnte man diese Botschaft anders verstehen als einen Auftrag an uns, unsere Welt im Sinne der Botschaft Jesu von Liebe zu Gott und zum Nächsten mitzugestalten.
Dennoch sprechen uns die symbolträchtigen Bilder der Sehnsucht und Verheißung, die in der uns von Kindesbeinen an vertrauten Weihnachtsgeschichte aufscheinen, innerlich an. Jenseits aller Dogmatik und Theologie gewinnen wir in ihr eine Ahnung von einer anderen, einer heileren Welt, die in unsere hektische Zeit hereinbricht. Wir spüren auch in uns eine Sehnsucht nach wirklichem Frieden und nach Verwandlung. Als Erwachsene trauern wir vielleicht dem verlorenen Kinderglauben an eine heile Welt nach, nach gelungenen Beziehungen, nach einem friedlichen Miteinander, wenn man so will: nach dem Paradies. Kein Fest zeigt stärker die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit als das Weihnachtsfest. Aber wenn wir uns nicht immer wieder klarmachen, was wir an Weihnachten eigentlich feiern wollen und was uns das zu sagen hat, dann muss Weihnachten notwendigerweise enttäuschen. Wir feiern an Weihnachten zwar die Geburt Jesu, also den Beginn neuen Lebens, aber das neue Leben, das wir an Weihnachten feiern, muss letztlich in uns selbst beginnen, wie es schon der Barockdichter Angelus Silesius zum Ausdruck brachte:
Wird Christus tausendmal zu Betlehem geboren / und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.
Jörg Klingbeil (aus der Ansprache zur Weihnachtsfeier 2015)
Es ist der Ruf, der mitten im Getriebe der Welt an unser inneres Ohr gelangt - »als ein Axthieb oder ein Donnerschlag«, wie es Pfarrer Rudolf Daur in einer seiner Predigten einmal sagte -, der Ruf zur Verantwortlichkeit von uns Menschen. Hat der Mensch diese Frage an sich: »Adam, wo bist du?« wohl überhört oder ignoriert? Wahrscheinlich hat er sie verdrängt, obwohl sie uns irgendwann doch wieder erreichen wird. Denn sie hängt mit unserem Menschsein unmittelbar zusammen.
Ist es nicht so, dass die Sündenfallgeschichte im ersten Mosebuch vielfach als antiquiert angesehen wird, man könne sie also als überholte Überlieferung betrachten? Kann sein, dass wir mit diesen mythologischen Schilderungen des Paradiesgartens nicht mehr viel anfangen können. Doch, genau betrachtet, enthalten sie im Kern die alles entscheidende große Lebensfrage, wie wir unser Menschsein verstehen. Wir drücken uns davor, dem Herrn und Schöpfer unserer Welt Antwort zu geben. Seine Erschaffung des Menschen trägt ja die Überschrift: »Zu seinem Abbild, das ihm ähnlich sei!«
Gerade unsere gegenwärtige Zeit gibt uns vielfach Anlass, daran zu zweifeln, dass wir nach göttlichem Abbild streben. Pfarrer Daur sagt, dass wir am Altjahrabend doch nicht gefragt würden, wie es uns gehe und ob wir zufrieden gewesen seien. Viel eher müsste jeder von uns sich eine andere Frage gefallen lassen: Wo bist du auf dem Weg zu dir, zu deinem wahren Selbst geblieben? Hat es im Jahr für uns nicht viele Gelegenheiten gegeben, Streit zu schlichten, Hilfe zu leisten, Fremde anzunehmen, Gemeinschaft zu stiften, gerecht zu handeln? Und haben wir daran gedacht, uns in dieser Weise in der menschlichen Gesellschaft einzubringen?
Ich bin der Ansicht, dass es viele Vorbilder in der Welt um uns herum gibt, die einen Weg zu wahrem Menschsein aufzeigen. Wir müssen nur nach ihnen Ausschau halten. Ihr Handeln geht im Gewirr des täglichen Lebens oft unter - nur das Schreiende, das Plakathafte erreicht uns, ohne dass wir es eigentlich wollten. Doch als Menschen haben wir die Möglichkeit, zu unterscheiden und zu urteilen, das Positive zu unterstützen und das Sinn- und Wertlose zu meiden. Jeder Tag gibt uns doch Möglichkeiten, »Mensch zu sein« und dem Herrn der Welt Antwort zu geben auf seine alles entscheidende Frage: »Wo bist du?«
Johannes schreibt: So jemand spricht: Ich liebe Gott -
und liebt doch seinen Bruder nicht, der ist ein Lügner.
Denn wer den Bruder, den er siehet, zu lieben nicht wird angetrieben,
wie kann der Gott, den er nicht siehet, lieben? (B.H. Brockes)
Die Jahrestagung des Bundes für Freies Christentum im letzten Jahr war unter die Frage »Was ist (uns) heilig?« gestellt gewesen. Genau genommen sind das eigentlich zwei Fragen: Was kann im allgemeinen Sinn als »heilig« angesehen werden? und: Was ist mir persönlich heilig? Ich habe die Vorträge der Tagung nicht selbst erlebt, sondern mich mit dem später erschienenen Tagungsband und den einzelnen Aussagen der Vortragsredner befasst.
Darin geht es in der Hauptsache um den Begriff des Heiligen, mit dem der Marburger evangelische Theologe Rudolf Otto (1869-1937) in seinem Buch »Das Heilige« das göttliche Geheimnis und das »ganz Andere« beschreibt. Eigene Erfahrungen des Heiligen wurden in den Vorträgen nur wenige beschrieben. Mich würden jedoch diejenigen Beschreibungen mehr interessieren, die sich aus dem jeweiligen Lebenslauf des Einzelnen verstehen. Aus diesem Grund möchte ich mich hier ausschließlich der Frage widmen, was mir selbst heilig ist.
Darunter verstehe ich nicht Personen, Orte und Sachen. Hier folge ich den Aussagen der Tempelgemeinde, für die es »keine geweihten Stätten für Gottesdienst, keine geweihten Priester und keine hauptberuflichen Pfarrer« gibt. Kultische Handlungen von religiösen Bräuchen zur Vertiefung der Andacht hält sie für richtig, kultische Handlungen mit Sakramentscharakter, das heißt mit dem Anspruch der Heilsvermittlung wie zum Beispiel die Taufe, lehnt sie aber ab.
Das Wort »heilig« hat sprachlich mit Heil, heilen und heilsam zu tun. Es hat mit dem Ganz-Werden, dem Anstreben des Vollkommenen zu tun. Um eigene Gefühle zu diesen Begriffen zu beschreiben, brauche ich keine theologischen Definitionen und Beschreibungen, sondern nur meine eigenen Lebenserfahrungen unter die Lupe zu nehmen. Und da gibt es durchaus vieles, was ich mit »heilig« in Verbindung bringen kann. Da stehen in dieser Beziehung Erfahrungen von echter Freundschaft, enger Verbundenheit, Ehrlichkeit und Treue ganz an erster Stelle. Auch wenn ich mir die Frage stelle, was ich im Leben als »heilsam« empfunden habe, gibt es einiges dazu aufzuzeigen, etwa: heilsame Worte, heilsame Berührungen, eine heilsame Wärme, ein heilsames Wasser oder ein heilsames Lüftchen.
Schon die Mutter hatte mir beim Erleiden von Wunden und Schrammen am Körper den »Heile-heile-Segen« gegeben, im späteren Leben habe ich durch Ärzte und Therapeuten oftmals ersehnte Heilung erfahren. Auch was mir bei Beziehungen zu anderen Personen nach anfänglichem Zerwürfnis an späterer Sympathie entgegengebracht wurde, diente mir »zum Heil«. In diesem Sinne kann, streng genommen, jeder Mensch meiner Umgebung zu meinem »Heiland« werden.
Wenn ich mir zum Schluss nochmals die Frage stelle: Was ist mir heilig?, dann würde ich als Summe meiner Erfahrungen das Leben selbst als heilig ansehen, sowie in erweitertem Sinne das schöpferische Wirken in der Natur - um es mit Emil Brachvogels Versen auszudrücken:
»Kein Hälmlein wächst auf Erden, der Himmel hat’s betaut,
und kann kein Blümlein werden, die Sonne hat’s erschaut.
Wenn du auch tief beklommen in Waldesnacht allein,
einst wird von Gott dir kommen dein Tau und Sonnenschein.
Dann sprosst, was dir indessen als Keim im Herzen lag;
so ist kein Ding vergessen, ihm kommt sein Blütentag.“
Der Westerwälder Bruno Schneider verwirklichte den Traum, den sein Vater nicht mehr leben konnte. Und stieß auf die vielen Wegen des universalen Gottes.
Mein Vater hat immer davon geträumt, nach Israel zu pilgern. Aber er ist früh gestorben und hat die biblischen Stätten nie gesehen. Bei seinem Tod war ich elf Jahre alt und habe mir vorgenommen, dass ich diesen Traum für ihn wahrmache. Und nun, viele Jahre später, bin ich tatsächlich nach Jerusalem gepilgert - mit meinem Treckingrad.
Pilgern ist ja eine religiöse Tradition, es bedeutet Anstrengung und Mühe. Deshalb wollte ich den Weg mit dem Fahrrad zurücklegen, nicht mit dem Flugzeug. Unterwegs wollte ich die Völker und Religionen kennenlernen, die vielen Wege des universellen Gottes. Zu Hause in meiner Gemeinde bin ich als Gottesdiensthelfer und Vorsitzender der Kolpingfamilie aktiv. Aber ich interessiere mich auch für andere Glaubenswege. Kein Gotteshaus der großen Religionen lässt mich kalt.
Weil ich immer nur den Jahresurlaub zur Verfügung hatte, bin ich in zwei Etappen nach Jerusalem gefahren. 2015 fuhr ich in vier Wochen mit meinem Treckingrad vom Westerwald durch den Balkan bis nach Istanbul. Zwei Jahre später bin ich dann wieder in Istanbul gestartet und einen Monat lang über den Südosten der Türkei und Zypern bis nach Israel gereist...
Dieser Artikel ist für die Internetausgabe der »Warte« leider nicht freigegeben. Lesen Sie den volständigen Artikel in der gedruckten Ausgabe der »Warte« oder in »Publik-Forum«, kritisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 21/2019, Seite 46.
Das Hospiz St. Louis befindet sich in einer doppelten Grenzlage: Wie alle Hospize ist es an der Grenze zwischen Leben und Tod angesiedelt, geographisch darüber hinaus auf der Grenze zwischen Ost- und Westjerusalem. Das Gebäude mit dem typischen hellen Jerusalemer Stein befindet sich gegenüber dem Neuen Tor zur Altstadt, mitten auf der früher umkämpften Demarkationslinie, die zwischen 1948 und 1967 Jerusalem teilte. Wo heute die moderne Jerusalemer Straßenbahn vorbeifährt, war damals ein Niemandsland mit Hausruinen. Das katholische Hospiz macht bei der Aufnahme erfreulicherweise keine Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen, sozialen Schichten und Religionen. Die über 60 Betten des Hauses sind mit etwa 25 Prozent Christen, 65 Prozent Juden und 10 Prozent Muslimen belegt. »Wir pflegen hier ultraorthodoxe Juden, Muslime, Christen und aus Russland eingewanderte säkulare Juden«, erklärt die studierte Theologin und ausgebildete Krankenschwester Monika Düllmann, die das Heim seit 15 Jahren leitet. Das Haus ist auf die heterogene »Kundschaft« gut vorbereitet: Es ist zwar ein katholisches Kloster mit einer Kapelle, verfügt aber - weltweit einmalig - über einen Klosterrabbiner und eine koschere Küche, die auch muslimischen Speisevorschriften entspricht. In der Einrichtung arbeiten 60 Israelis und Palästinenser vertrauensvoll zusammen; dank der vier mitarbeitenden Ordensschwestern und etwa 25-30 Volontären aus aller Welt können sich im Schnitt jeweils zwei Kräfte um einen Patienten kümmern, doppelt so viel wie eigentlich vorgeschrieben.
Die Schwestern des Heiligen Josef, die das Hospiz betreiben, wurden 1848 auf Geheiß des ersten römisch-katholischen Patriarchen nach Jerusalem geschickt, als die osmanische Herrschaft zu erodieren begann und europäische Großmächte im Heiligen Land Fuß fassten. Schon 1841 hatten Großbritannien und Preußen ein evangelisches Bistum gegründet und auch dem von Russland kontrollierten griechisch-orthodoxen Patriarchat wollten die französischen Katholiken etwas entgegensetzen. Zunächst wirkten die Schwestern innerhalb der Altstadt in Räumen des Lateinischen Patriarchats, die bald zu klein wurden. Ein französischer Adliger wurde während seiner ersten Pilgerreise ins Heilige Land 1874 auf die schwierige Situation aufmerksam und erwarb ein Grundstück unmittelbar vor der Stadtmauer; 1879 wurde der Grundstein gelegt, einige Jahre später der Krankenhausbetrieb aufgenommen. Die Umwandlung zum Hospiz mit den Schwerpunkten Onkologie und Palliativmedizin vollzog sich nach der Staatsgründung Israels, als die arabischen Patienten aus Ostjerusalem das »French Hospital« nicht mehr erreichen konnten.
»In Jerusalem lebt jede Bevölkerungsgruppe in ihrem Viertel«, meint Schwester Monika, »aber man spricht kaum miteinander. Hier ändert sich das. Wenn hier eine Mutter an Krebs stirbt, ist das immer erst eine Mutter und nicht die Araberin oder Jüdin.« Und für Leute, die ihr Leben lang hier im Konflikt gelebt haben, sei es wichtig, vor dem Tod auch ein bisschen Frieden mit der Situation im Land zu schließen, erklärt sie. Gelegenheiten, Vorurteile abzubauen, gibt es im Hospiz genug. Als ein jüdischer Wehrdienstleistender seine kranke Mutter besuchen wollte, durfte er sein Gewehr nicht bei der palästinensischen Rezeptionsdame abgeben; das hätte ihm ein Disziplinarverfahren eingebracht. Andererseits sind geladene Waffen im Hospiz verboten. Also nahm der Soldat das Magazin aus dem Gewehr, steckte es in seine Socken und ging zum Aufzug. Dort traf er den Krankenpfleger Abdullah, mit dem er sich über seine Mutter unterhielt; ein normales Gespräch, das an einem Checkpoint der israelischen Armee sicher anders verlaufen wäre.
»Der interreligiöse Dialog geschieht bei uns ohne viele Worte«, meint Schwester Monika. Und so liegt eine ehemalige Ordensschwester der Benediktinerinnen im selben Zimmer wie eine aus Tunesien stammende Jüdin und eine muslimische Islamwissenschaftlerin, aus deren Radio islamische Religionssendungen tönen, was die beiden anderen aber nicht stört. Nur einmal habe sie Patienten wegen der Religion trennen müssen, sagt Monika Düllmann: »Wir hatten einen orthodoxen Juden aufgenommen, der schon etwas dement war. Dauernd sagte er, dass der Messias kommen werde. Er wird kommen, weißt du das, tönte er ununterbrochen. Neben ihm saß eine ebenfalls schon etwas demente Ordensschwester, die ihm jedes Mal antwortete: Aber der Messias ist doch schon gekommen! Die beiden hörten einfach nicht auf; sie konnten es nicht ausdiskutieren.«
Von den zahlreichen anrührenden und teilweise humorvollen Anekdoten, die Schwester Monika aus der Geschichte des Hauses zu berichten weiß, hat es eine sogar in das Life-Magazin geschafft: Es war im Jahre 1956. Eine sterbenskranke Patientin lehnte an einem geöffneten Fenster des Hospitals, als ihr plötzlich die Zahnprothese herausfiel und im Niemandsland zwischen den Fronten landete. Die Nonnen baten das israelische Außenministerium, das Gebiss retten zu dürfen. Ein Waffenstillstand wurde ausgehandelt und eine Delegation mit einem israelischen und einem jordanischen Soldaten, einem französischen UNO-Offizier mit weißer Fahne sowie einigen Nonnen begab sich in dem von Stacheldraht und Geröll durchzogenen Niemandsland auf die Suche. Ein israelischer Fotograf war Zeuge. Als schließlich Schwester Augustine das Gebiss gefunden habe, sei die Freude groß gewesen, berichtete er später, nur der französische Offizier habe sich wegen der vermeintlichen Trivialität etwas in seiner Ehre gekränkt gefühlt.