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Einen Fremdling sollst du nicht bedrängen - Jörg Klingbeil
Himmelfahrt - Karin Klingbeil
Gemeinsam - Rose Ausländer
Die Erfindung der Utopie - Otto Betz
Zum 100. Todestag des Dichters Christian Wagner - Jörg Klingbeil
Nachruf auf Yoel Amir - Peter Lange
Neues aus dem Archiv - Jörg Klingbeil
Das Gebot zur Nächstenliebe findet sich in der Bibel nicht erst im Neuen Testament bzw. bei Jesus, sondern bereits in der Thora, den ersten fünf Bücher Mose. Darauf nimmt auch Jesus immer wieder Bezug, wenn er seine Gesprächspartner fragt, was denn im »Gesetz« stehe. So heißt es schon im 3. Buch Mose (19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr.« Im gleichen Kapitel steht auch eine Aussage über den Umgang mit den sog. Fremdlingen: »Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der Herr, euer Gott.« Im 2. Buch Mose (Exodus) wird das Gebot des guten Umgangs mit den Fremdlingen noch ausgedehnt auf die Schwachen und Benachteiligten generell, insbesondere die Witwen und Waisen (2. Mos 22, 20-26). Mit dem für uns nicht mehr geläufigen Begriff Fremdling ist kein Ausländer, sondern ein Heimatloser gemeint, der in Israel wohnhaft geworden ist und dort als Schutzbürger gewisse Rechte genießt, ohne jedoch »Vollbürger«, also Israelit, zu sein. Auch eine solche Person konnte aber durch Beschneidung in die Kultgemeinde Israels aufgenommen werden. Mit dem Begriff Ausländer sind in der Bibel hingegen Personen gemeint, die zu einem fremden Volk gehören und die sich entweder nur vorübergehend im Land aufhalten (zum Beispiel als reisende Händler) oder bei dauerndem Aufenthalt an ihrer Religions- oder Volkszugehörigkeit festhalten. Im Buch Exodus wird der Fremdling, also der schutzbedürftige Flüchtling, im Zusammenhang mit anderen sozial Benachteiligten wie Witwen und Waisen genannt, die ebenfalls nicht bedrängt und bedrückt werden sollen. Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass mit dem vagen Begriff Bedrängen wohl in erster Linie die wirtschaftliche Ausbeutung gemeint war, gegen die Rechtsschutz geschaffen werden sollte. Von den Armen dürfen daher keine der damals üblichen Wucherzinsen genommen werden. Allerdings werden hier nur die Armen aus dem eigenen Volk genannt. Von Reichen und Fremden durften daher durchaus Wucherzinsen genommen werden.
Das Gebot, Fremdlinge gut zu behandeln, wird damit begründet, dass auch die Israeliten selbst »Fremdlinge in Ägyptenland« gewesen seien, also am eigenen Leib erfahren hätten, was es bedeutet, fremd zu sein. Die eigenen Erfahrungen sollen sie nun im eigenen Verhalten beherzigen, allerdings nicht in der Weise, dass sie die Fremdlinge genauso behandeln, wie sie selbst behandelt worden sind, denn sie sind in Ägypten überhaupt nicht gut behandelt worden. Wir kennen ja die spannende Vorgeschichte mit einem historisch vermutlich wahren Kern: Die zwölf Stämme Israels waren aus den Söhnen Jakobs hervorgegangen, die zunächst ihren Bruder Josef als Sklaven nach Ägypten verkauft hatten, der dann später dort Karriere machte, sogar zum Stellvertreter des Pharao ernannt wurde und seine Familie mit Unterstützung des Pharao nachholen durfte. Aus zunächst 70 Personen (1. Mos 46,8-27; 2. Mos 1,5) der Großfamilie Jakobs, der den neuen Namen Israel erhielt, wurde im Laufe der Jahrhunderte - in der Bibel (2. Mos 12,40) ist die Rede von 430 Jahren, die die Israeliten in Ägypten waren - ein »großes Volk«. Der historische Hintergrund war wohl so, dass es sich bei den Israeliten um ein zugewandertes und in Ägypten sesshaft gewordenes Nomadenvolk gehandelt hat, das in der fast siebzigjährigen Regierungszeit von Pharao Ramses II. (1290-1224 v.Chr.) beim Bau von zwei neugegründeten Städten im Nildelta eingesetzt wurde. Es gibt Historiker, die meinen, es hätten damals bis zu 600.000 Israeliten in Ägypten gelebt, quasi als Gastarbeiter. Jedenfalls wurden sie nach der biblischen Erzählung so zahlreich, dass es den Ägyptern unheimlich wurde. Als dann die Verdienste Josefs in Vergessenheit geraten waren und ein neuer Pharao an die Macht kam, wollte dieser die Israeliten zurückzudrängen und unterjochte sie durch Frondienste und überharte Zwangsarbeit. Um schließlich das Volk Israel auszurotten, befahl der Pharao, die männlichen Nachkommen der Israeliten umzubringen, woraufhin der neugeborene Moses im Schilfkörbchen ausgesetzt und von der Tochter des Pharaos gefunden und später adoptiert wurde. Moses wurde zum Anführer der Israeliten, die er aus der Knechtschaft durch die Wüste Sinai in das verheißene und gelobte Land führte.
Der Schutz, den Gott verlangt, soll den Fremdlingen gelten, die - ähnlich wie die Israeliten in Ägypten - bei ihnen (3. Mos 19,33) oder »wie ein Einheimischer unter euch« wohnen. Das sind im Sinne des Alten Testaments und des dort verankerten Gebots der Nächstenliebe (3. Mos 19,18) durchaus die Nächsten. Nächster im Alten Testament ist danach zwar in erster Linie der Angehörige des eigenen Volkes, aber eben auch ausdrücklich jeder Fremde, der vielleicht nicht Volksgenosse ist, aber in den Dörfern oder Städten mit den Israeliten zusammenwohnt, der Nachbar, also der Mitmensch. Dazu zählte ggf. auch der Gast, dem die für den Orient bzw. die für Nomadenvölker typische Gastfreundschaft galt.
In der weiteren historischen Entwicklung hat sich im Zuge der schweren Kämpfe um die Aufrechterhaltung des Gottesglaubens und die rechte Auslegung des Gesetzes, also der zahlreichen Ge- und Verbote einschließlich der zivil- und strafrechtlichen Vorschriften in der Thora, der Begriff des Nächsten jedoch verengt, so sehr, dass er in der Zeit Jesu in der Praxis nur noch so viel bedeutete wie Glaubensgenosse oder politisch-religiöser Gesinnungsgenosse. Das hatte mit dem weiten Begriff des Nächsten, des Nachbarn und Mitmenschen nicht mehr viel zu tun. Diese folgenschwere Abkehr vom ursprünglichen Gebot der Mitmenschlichkeit, die auch dem Fremdling galt, hat Jesus daher immer wieder scharf kritisiert. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an das 10. Kapitel des Lukas-Evangeliums (25 ff.), als Jesus auf die hinterlistige Frage des Pharisäers nach dem höchsten Gebot nicht nur das Doppelgebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten - eben unter Berufung auf die göttliche Weisung im 3. Buch Mose - nennt, sondern auf die weitere Frage, wer denn sein Nächster sei, auch noch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt. Der Fragesteller, der Jesus aufs Glatteis führen wollte, muss daraufhin einräumen, dass der barmherzige Samariter derjenige ist, der - im Unterschied zu den beiden gesetzestreuen, aber nicht hilfsbereiten Volksgenossen - an dem verletzten Opfer des Raubüberfalls tätige Nächstenliebe übt. Ausgerechnet ein Samariter, in den Augen der jüdischen Religionsparteien ein Nicht-Israelit, ein verachteter Ausländer, wird hier als Vorbild herausgestellt. Überdeutlich macht Jesus so klar, dass es außerhalb der Kreise, die sich stolz und selbstzufrieden für das Volk Gottes halten, Menschen gibt, die Gottes Willen weit besser erfüllen als sie. In diesem Zusammenhang ist auch an die zahlreichen Geschichten im Neuen Testament zu erinnern, in denen Jesus mit Angehörigen verfeindeter Völker außerhalb des jüdischen Umfelds völlig unbefangen umgeht; etwa an die Geschichten vom römischen Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5-13) oder von der syrophönizischen Frau (Mk 7,24; Mt 15,21-28).
Jesus geht allerdings noch weiter und bleibt nicht bei dem alttestamentarischen Verständnis vom Nächsten und von Nächstenliebe stehen: Denn Jesus fordert dazu auf, nicht nur seinen Nächsten zu lieben, sondern sogar die Feinde (Mt 5,43-48; Lk 6,27-36). Denn es sei ja nichts Besonderes, seine Freunde zu lieben, das täten auch böse Menschen. Soweit Jesus auf das »Gesetz«, also die Gebote des Alten Testaments, Bezug nimmt und daran erinnert, dass die Fremdlinge nicht bedrängt werden sollen, weil man selbst Fremdling im fremden Land gewesen sei oder zukünftig werden könne, dann reicht ihm das eben nicht. Denn dabei geht es streng genommen nur um den Grundsatz der Gegenseitigkeit, nicht zuletzt zum eigenen Nutzen. Soll heißen: Wer Gutes tut, weil es ihm vielleicht einmal vergolten wird, sozusagen aus Berechnung, der tut nach Meinung Jesu zu wenig, denn das täten ja auch die Sünder, wenn sie zu ihren Freunden hielten. Nach Jesus muss der Nächste, dem man helfen muss, derjenige sein, der Hilfe nötig hat, unabhängig davon, ob er dem eigenen Volk, der eigenen Rasse oder der eigenen Religion angehört.
Ob der Maßstab, den Jesus anlegt, nämlich seine Feinde zu lieben, Gutes denen zu tun, die einem Böses antun, denen die Backe hinzuhalten, die einen auf die andere Backe geschlagen haben usw., ob dieser Maßstab für ganze Gesellschaften und für ganze Rechtsordnungen gelten kann, erscheint mir zweifelhaft; ich meine eher, dass er nur für Ausnahmefälle gelten kann. Aber jeder Einzelne kann Jesu hohe ethische Standards natürlich für sein eigenes Leben gelten lassen und sich bemühen, diesen gerecht zu werden, Liebe statt Hass zu üben, Vergebung und Barmherzigkeit walten zu lassen statt Vergeltung, Rache und Eigennutz. Denn auch Jesus wollte nicht das mosaische Gesetz abschaffen, sondern es überwinden und in seinen Zuhörern, in jedem einzelnen von ihnen, eine andere, eine bessere moralische Haltung hervorrufen. Hier sollte sich ein Glaube bewähren, der wenig mit Dogma und Liturgie zu tun hat, dafür umso mehr mit Lebenswirklichkeit und Lebensgestaltung, ein Glaube, der nicht viele Worte um Gott macht, sondern eine Haltung ausdrückt, die von Gottes Geist und damit von Gottes Liebe erfüllt ist.
Bei der Frage, wie man mit »Fremdlingen« umgehen soll, musste ich unwillkürlich daran denken, wie das die Templer bei ihrer Auswanderung nach Palästina vor 150 Jahren in dieser Hinsicht gesehen und erlebt haben. Haben auch sie sich als Fremdlinge im fremden Land gefühlt, so wie die Israeliten in Ägypten? Und wie haben die Templer die anderen Bewohner des Heiligen Landes betrachtet? Mit dem Gefühl zivilisatorischer Überlegenheit? Sicher haben auch die Templer gehofft, gut aufgenommen und gut behandelt zu werden, um friedlich unter ihren arabischen oder jüdischen Nachbarn leben zu können. Soweit sich die Templer bereits zu Beginn dem hohen Ziel verpflichtet fühlten, im Heiligen Land das »Volk Gottes« zu sammeln, gehe ich davon aus, dass diese Sammlung nicht exklusiv gedacht war, sondern alle »Menschen guten Willens« umfassen sollte, auch wenn die Vorstellung utopisch gewesen sein mochte. In der Praxis blieben die Kolonisten allerdings weitgehend unter sich, eine Verbindung mit der einheimischen Bevölkerung oder anderen Einwanderern blieb weitestgehend aus. Im Laufe der Zeit traten zudem die religiösen Ziele hinter dem täglichen Kampf ums Überleben in einer schwierigen Umgebung in den Hintergrund und man konzentrierte sich auf den wirtschaftlichen Erfolg.
Wie Fremdlinge im fremden Land werden sich sicher später die Templer gefühlt haben, die 1941 nach Australien deportiert wurden oder später freiwillig dorthin übersiedelten. Und wie Fremdlinge im eigenen, nun unbekannt gewordenen Land werden sich auch viele Templer gefühlt haben, die in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder nach Deutschland zurückkehrten. Hier wie in Australien haben sie das gemacht, was sie schon in ihren Kolonien in Palästina gemacht haben, sie haben Gemeinden gegründet, Gemeindehäuser gebaut, Gottesdienste gehalten und nach Kräften Gemeinschaft gepflegt.
Im Verhältnis zu Fremden stellen sich auch heute mehr denn je viele Fragen: Welches Maß an Anpassung kann man von Fremdlingen (man könnte auch Flüchtlinge, Gastarbeiter oder Einwanderer sagen) einerseits erwarten oder gar verlangen? In welchem Maß dürfen oder sollen sie andererseits ihre Identität bewahren? Was gehört überhaupt zur Identität? Wie weit reicht die Toleranz der aufnehmenden Gesellschaft, wie weit hat sie zu reichen? Derartige Fragen stellen sich auch mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingspolitik, zum Beispiel beim Thema Familiennachzug. Der nun gefundene Kompromiss mag manchen als zu engherzig erscheinen, stellt aber immerhin einen Versuch dar, einerseits dem grundrechtlich verbürgten Schutz von Ehe und Familie gerecht zu werden, andererseits aber auch die begrenzte Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit der einheimischen Bevölkerung zu berücksichtigen. Hoffentlich werden die in Aussicht gestellten Ausnahmen nicht zu eng umgesetzt, so dass die Mitmenschlichkeit eine Chance erhält.
Jörg Klingbeil (gekürzte Fassung des Saalvortrags vom 4. Februar 2018)
Am Donnerstag, 10. Mai, steht ‚Christi Himmelfahrt‘ im Kalender. Für mich hat dieser Feiertag - einmal abgesehen davon, dass ein freier Tag immer etwas Schönes ist - nie eine große Aussagekraft gehabt. Dass am Ostersonntag, nach dem grausamen Tod Jesu am Kreuz, Jesu Auferstehung gefeiert wird, ist als befreiendes, zentrales Ereignis im christlichen Glauben sehr gut nachvollziehbar. Aber dann, genau am 40. Tag nach Ostern, seine Himmelfahrt?
Diese 40 Tage deuten auf eine symbolische Bedeutung hin und wenn wir in der Bibel nachlesen, finden wir dieses Ereignis bei Markus (16,19) und Lukas (24,51) kurz erwähnt und ausführlich in der Apostelgeschichte (1,1-11) beschrieben: es geht um das letzte Zusammensein Jesu mit seinen Jüngern, in dem er ihnen ankündigt, dass sie innerhalb kurzer Zeit die Kraft des Heiligen Geistes empfangen und seine Zeugen sein werden. Vor ihren Augen wird Jesus dann emporgehoben, die Jünger schauen ihm nach, bis eine Wolke ihn verhüllt und ihnen die Sicht nimmt. Wie sie da noch stehen und nach oben starren, wird ihnen von zwei Engeln gesagt, dass Jesus so, wie er in den Himmel aufgenommen worden sei, wieder zurückkommen werde. Daraufhin begibt sich die Gruppe vom Ölberg zurück nach Jerusalem und nun beginnt die Beschreibung der Gemeinschaft der Apostel und der Bildung der ersten Gemeinde.
Weitere zehn Tage später das Pfingsterlebnis der Jünger. Jesu Zusage erfüllt sich, sie haben - zusammen mit vielen anderen - ein unbeschreibliches Erlebnis von Gemeinschaft und gegenseitigem Verstehen. Daraus schöpfen sie die Kraft zur Nachfolge Jesu, für das Zusammenleben in seinem Geist und nach seinen Anweisungen.
Für die frühe Christenheit, die nach einer Deutung von Jesu grausamem Tod und dem augenscheinlichen Scheitern seines Wirkens suchte, war die Himmelfahrt, zusammen mit der Auferstehung, ein Hinweis auf den göttlichen Charakter Jesu, das Erleben seiner Aufnahme in den Himmel durch Gott. Das war so wichtig, dass es Eingang in das Glaubensbekenntnis, schon in das altrömische (die Vorgängerversion des apostolischen), gefunden hat und das zentrale Anliegen Jesu, das Reich Gottes, völlig in den Hintergrund treten ließ. Dabei war es dieses Thema, das auch während der 40 Tage nach seiner Auferstehung und selbst kurz vor seiner Himmelfahrt immer wieder angesprochen wurde.
Die Himmelfahrt markiert das Ende der direkten Kommunikation zwischen den Jüngern und Jesus und den Beginn des Wartens auf seine Wiederkehr - mit dem tröstlichen Bewusstsein, dass Jesus als der Lebendige erfahren wurde und im Pfingsterlebnis der von ihm zugesagte Heilige Geist als Kraft, die zur Nachfolge befähigt, erlebbar geworden ist.
Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam
besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden
Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte
die uns aufblühen lässt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen
Rose Ausländer (1901-1988)
Kein privates Eigentum, geregelte Arbeit und religiöse Toleranz: So beschreibt Thomas Morus seinen Gegenentwurf zum England des 16. Jahrhunderts. Diese Utopie ist zwar kein vollkommener Staat, bietet aber Lehren für die Gesellschaft.
Das »Jahrhundert der Reformation« beschäftigt uns immer noch. Was da im 16. Jahrhundert geschah, wirkt sich bis in unsere Gegenwart aus. Alte Ordnungen zerfielen, die Welt erwies sich als größer, als die Menschen bisher angenommen hatten, und vertraute Vorstellungen wurden immer unglaubwürdiger. Die Erkenntnisse der Forscher und Entdecker weiteten das Blickfeld. Dies alles war jedoch mit Ängsten verbunden, weil die Menschen das Neue nicht verarbeiten konnten, eine neue Ordnung war noch nicht sichtbar. Auch damals gab es einen globalen »Reformstau«. Staat und Kirche mussten sich ändern, wenn sie wieder glaubwürdig und zukunftsfähig werden wollten. Viele Menschen waren unzufrieden und hielten Ausschau nach Alternativen. Die einen blickten zurück, weil sie die Vergangenheit als »goldenes Zeitalter« verstanden und sich dahin zurücksehnten. Andere schauten in eine Zukunft, die sich fern am Horizont abzeichnete. Phantasiebegabte Menschen träumten voraus und stellten sich eine Welt vor, die ihnen als Idealzustand erschien und die es zu verwirklichen galt, um die Krisen der Gegenwart zu bestehen.
Thomas Morus gehört zu den großen Gestalten dieser Zeit. Er schwankte lange, ob er nicht Mönch werden sollte, entschied sich aber dann für ein Leben »in der Welt«, wurde Jurist und ging in die Politik. Er muss schon sehr früh über Staat, Gesellschaft, Recht und Gerechtigkeit nachgedacht haben. Seine erste Vorlesung hielt er mit 23 Jahren über den »Gottesstaat« von Augustinus. In einer Rede über die beste Staatsverfassung formulierte er eine grundsätzliche Staats- und Gesellschaftskritik. So ist es nicht verwunderlich, dass er in einem literarischen Werk versuchte, ein alternatives Staatsgebilde zu entwerfen. Es sollte anders aussehen als das real Vorhandene und auch Phantasien und Träumen Raum geben. Morus erfand für sein Werk »Utopia«, das 1516 erstmals veröffentlicht wurde, einen Reisenden, der ein geheimnisvolles, unbekanntes Reich entdeckt. Der Reisende lebt dort eine Weile, um die Prinzipien und Ausdrucksformen dieser Menschen kennenzulernen, ihre Gesetze und Gewohnheiten.
Schon die Form und die Rahmenhandlung des Buches sind aufschlussreich. Bei einem Kardinal trifft sich ein Kreis politisch interessierter Menschen, die mit dem Zustand der Gesellschaft unzufrieden sind. Gemeinsam denken sie darüber nach, wie das problematische Rechtswesen verbessert und soziale Fragen gelöst werden können. Zu diesem Gesprächskreis gehört auch der Forschungsreisende, der erzählt, er habe einige Jahre in dem sagenhaften Inselstaat Utopia gelebt und sei von den Lebensformen und sozialen Strukturen dieser Menschen fasziniert. Auch Utopia ist kein idealer Staat: Es gibt Sklaverei und Verbannung sowie eine von oben diktierte Einheitlichkeit. Andere Besonderheiten, die geregelte Arbeit, der Verzicht auf privates Eigentum, die gegenseitige Hilfe und Rücksichtnahme, nehmen den Reisenden aber für dieses Experiment ein. In einer offenen Dialogform werden die Ideen vorgetragen und diskutiert. Diese »sokratische Methode« hat den Vorzug, dass ein Problem aufgeworfen wird, ohne dass gleich die Lösung mitgeliefert wird. Unterschiedliche Meinungen und Positionen werden vorgetragen, aber entschieden ist noch nichts. Jeder muss selbst Stellung beziehen.
In diesem Konzert unterschiedlicher Ideen und Entwürfe taucht nun das Bild einer alternativen Gesellschaft auf. Es vermittelt den Anspruch: Es könnte auch andere Formen des Zusammenlebens geben. Die Menschen könnten friedlicher miteinander umgehen, sich gegenseitig respektieren, auf Privateigentum verzichten und sich auf Werte einigen, die nicht dauernd zu Zwiespalt und Aggression führen. Im Rahmen dieser erträumten und ersehnten neuen Gesellschaft kommt die Frage auf: Gibt es in Utopia auch Religion? Welche gottesdienstlichen Formen finden sich? Haben auch hier Priester wichtige Funktionen? In der Behandlung dieser Fragen, wie Thomas Morus sie entwickelt, findet sich auch Kritik an seiner eigenen Religion, an Kirche und Frömmigkeit seiner Zeit. Thomas Morus war ein gläubiges Mitglied der katholischen Kirche. Das heißt aber nicht, dass er nicht trotzdem am Zustand seiner Kirche litt und dass er nicht dringend auf eine innere Reform hoffte.
Bei der Kennzeichnung der Religion in Utopia fällt zunächst einmal auf, dass es keine verbindliche und allgemein verpflichtende Religion gibt, sondern eine erstaunliche Vielfalt. Da existieren »Naturreligionen«, bei denen Sonne, Mond und Planeten als höchste Wesen verehrt werden. »Der bei weitem größte und der weitaus vernünftigste Teil aber glaubt an nichts davon, sondern an ein einziges unbekanntes, ewiges, unendliches, unbegreifliches göttliches Wesen, das die menschliche Fassungskraft übersteigt und sich als wirkende Kraft, nicht als Stoff, über diese ganze Welt ausdehnt; sie nennen es Vater. Ursprung, Wachstum, Entwicklung, Wechsel und Ende aller Dinge führen sie auf dieses Wesen zurück, und keinem anderen außer ihm erweisen sie göttliche Ehren.« Diese vorsichtige Kennzeichnung lässt viel Raum für eine individuelle Ausgestaltung durch die einzelnen Menschen in Utopia. Das scheint auch so gewollt zu sein. Wer der großen Idee eines nicht sinnenhaft vorstellbaren Gottes zustimmt, kann eine eigene Ausprägung seines Glaubens haben, ohne als Ungläubiger gebrandmarkt zu werden.
Es ist also ein durchgängiger Zug zu einem toleranten Denken spürbar, ganz im Gegensatz zu Morus’ Zeit mit den allmählich aufkommenden konfessionellen Spannungen und Gegensätzen. Zu den ältesten Grundsätzen von Utopia gehört es, »dass keinem seine Religion zum Nachteil gereichen darf«. In der Frühzeit von Utopia - so wird überliefert - habe es zwischen verschiedenen Sekten Kriege gegeben. Nun habe man sich aber darauf geeinigt, dass jeder der Religion anhängen dürfe, die ihm beliebt; wolle er aber andere zu seiner Religion bekehren, dann dürfe er es nur insoweit versuchen, dass er seine Anschauung ruhig und bescheiden mit Vernunftgründen belege, nicht aber die fremden Meinungen gehässig zerpflücke; wenn er durch Zureden nicht überzeugen könne, dürfe er keine Gewalt anwenden, und Schmähreden solle er unterdrücken.
Noch auffälliger ist die Begründung dieser großzügigen religiösen Toleranz. Sie wird in einen Zusammenhang gebracht mit der Frage, was denn Wahrheit grundsätzlich sei und ob diese Frage überhaupt entschieden werden könne. Der Gewährsmann des Reisenden war sich nicht sicher, »ob Gott nicht vielleicht gerade eine mannigfache und vielfältige Verehrung wünsche und daher dem einen diese, dem anderen jene Eingebung schenke. Auf jeden Fall hielt er es für anmaßend und töricht, mit Gewalt und Drohungen zu erzwingen, dass das, was einer für wahr hält, allen so erscheine ... Wenn aber wirklich nur eine Ansicht wahr, jede andere aber falsch sein sollte, so sah er leichtlich voraus, dass die Gewalt der Wahrheit sich schließlich einmal von selbst durchsetzen und zeigen werde, sofern die Sache vernünftig und maßvoll betrieben werde.« Dass die Gruppe überhaupt das Problem aufwirft, ob es nicht im unerforschlichen Willen Gottes liegen könne, »sich an dieser Mannigfaltigkeit der Religionen zu erfreuen«, macht deutlich, welches Ideal Thomas Morus vorschwebt. Einer staatlichen Obrigkeit steht es nicht zu, Vorschriften zu machen und in die Gewissensentscheidung der Bürger einzugreifen. Die Verschiedenheit menschlicher Lebensentwürfe mag auch zu einer großen Bandbreite von religiösen Ausdrucksformen führen.
Thomas Morus kam aus einer Juristenfamilie und war selbst lange Richter. Er wusste also um die Neigung der Menschen, sich gegenseitig aufzustacheln und misstrauisch zu beargwöhnen. Aber er war auch ein überzeugter humanistischer Denker, der - anders als Martin Luther - ein grundsätzliches Vertrauen zu den natürlichen Kräften und Möglichkeiten der menschlichen Vernunft hatte. Offenbar hatte er die Hoffnung, dass mit einer größeren religiösen Toleranz auch das Zusammenleben der Menschen duldsamer und friedlicher werden könne. Es ist ein kühner Gedanke, dass er dem christlichen Europa ausgerechnet eine nichtchristliche Gesellschaft als vorbildliche Gemeinschaftsform gegenüberstellte.
Aufschlussreich ist auch, was über die Priester im Staat Utopia berichtet wird. Zunächst einmal gibt es nur sehr wenige und sie zeichnen sich durch eine besondere Frömmigkeit aus. Bestimmt werden sie in geheimer Wahl durch das Volk. Frauen sind von diesem Stand nicht ausgeschlossen. Die Priester sind verheiratet und genießen ein großes Ansehen, besitzen aber keinerlei Machtbefugnis. Die geringe Zahl der Priester wird auch damit begründet, dass es schwierig sei, »viele Leute von solcher Trefflichkeit zu finden«. Von ihnen wird erwartet, dass sie in Notzeiten und bei kriegerischen Ereignissen dazwischengehen, dem Morden Einhalt gebieten, die Kämpfenden trennen und Frieden schaffen. Hier wird die gedankliche Nähe zu Erasmus von Rotterdam besonders deutlich, der in seiner berühmten Schrift »Querela pacis« gerade bemängelt, dass die kirchlichen Instanzen, anstatt für den Frieden einzutreten, selbst Kriege führen und auch untereinander permanent in Auseinandersetzungen verstrickt sind.
Warum hat Thomas Morus seine Schrift »Utopia« verfasst? Er entwickelt nicht unbedingt einen Idealstaat, auch Utopia hat seine Mängel und Unvollkommenheiten. Aber es scheint ihn zu reizen, ein alternatives Modell einer menschlichen Gesellschaft zu entwerfen, das in vieler Hinsicht anders ist als das seiner englischen Heimat. Zu bedenken bleibt jedoch: Morus hatte einen ausgesprochenen Sinn für Humor und ironisches Spiel. Die Grenze zwischen Ernst und Scherz ist bei ihm nicht immer eindeutig auszumachen. Es mag sein, dass dieses Buch einen gewissen Spielcharakter hat, aber es war mit Sicherheit keine pure satirische Spielerei, sondern ein ernsthaftes gedankliches Experiment, um dabei vielleicht auch praktische Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven für die politische Realität zu gewinnen. Am Ende des Büchleins heißt es: »Ich kann zwar nicht allem zustimmen, was er (der fiktive Reisende) gesagt hat …, jedoch gestehe ich gern, dass es im Staate der Utopier sehr vieles gibt, was ich unseren Staaten eher wünschen möchte als erhoffen kann.« Nicht im Traum dachte Morus daran, bestimmte Elemente eines Staatsterrors in seine englische Wirklichkeit zu übertragen. Aber die Möglichkeit, einen Staat auf philosophische Einsicht und vernunftgeleitete Prinzipien zu bauen, muss ihn gereizt haben. Utopia wurde als »heidnischer Staat« vorgestellt, in den noch kein christliches Gedankengut eingedrungen ist. Morus’ Gedanke war: Wenn schon eine nichtchristliche Gesellschaft wie Utopia soviel Einsicht in die Möglichkeit eines vernünftigen Staates gewinnen kann, wie viel eher müsste es dann der abendländischen Kultur gelingen, mit dem gebündelten Schatz des antiken Denkens und der Botschaft Christi einen glaubwürdigen Staat aufzubauen.
Im Jahr 1516, also ein Jahr bevor Luther seine reformerische Tätigkeit begann, schickte Thomas Morus sein Buch »Utopia« an seinen Freund Erasmus von Rotterdam, der es dann auch in gedruckter Form herausgab. Erasmus von Rotterdam schien es als wichtige Stimme im Konzert der Reformwilligen verstanden zu haben. 1518 wurde Morus an den Hof des englischen Königs Heinrich VIII. berufen. Ihm wurde zunehmend politische Verantwortung übertragen, bis er 1529 Lordkanzler wurde. König Heinrich war lange als Hoffnungsträger auf dem Königsthron empfunden worden, da er vielfach begabt war und eine gewinnende Art hatte. Nun aber traten ganz andere Eigenschaften zutage: ein maßloser Ehrgeiz, eine egozentrische Machtbesessenheit, offenbar auch eine Angst um den Fortbestand seiner Dynastie. Weil ihm Rom die Auflösung seiner Ehe verweigerte, erließ er 1534 die Suprematsakte, machte sich damit zum Herrn über die englische Kirche und forderte absoluten Gehorsam. Der englische Staat wurde zum Gegenmodell von Utopia. Um sich nicht zur neuen anglikanischen Kirche bekennen zu müssen, trat Thomäs Morus von seinem Amt zurück. Wegen seiner Treue zur katholischen Kirche wurde er schließlich doch im Tower eingekerkert und am 6. Juli 1535 hingerichtet.
Ist damit bewiesen, dass solche vorausgreifenden Ideen zu lebensfern sind und damit unmöglich umgesetzt werden können? Die meisten Menschen sind auf Zeitgenossen angewiesen, die vorausdenken können und Modelle entwickeln, die Visionen heraufbeschwören und so die Phantasie anregen, anstatt zu resignieren. Manche Sehnsüchte mögen sich als irreale Trugbilder erweisen, andere haben Zukunftskraft und verändern die Welt. Die Utopie hat noch keinen realen »Ort« gefunden, aber als Möglichkeit ist sie nun einmal in der Welt und mobilisiert vielleicht auch die Kräfte des Menschen. Ob nicht auch die Wirkkraft des Heiligen Geistes etwas damit zu tun hat?
Otto Betz, katholischer Religionspädagoge und ehemals Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft und Pädagogik an der Universität Hamburg
Am 15. Februar 1918 starb der lange verkannte Dichter Christian Wagner aus Warmbronn (geb. 5. August 1835); verkannt deswegen, weil er sich fast sein ganzes Leben lang am Rande des Existenzminimums als Kleinbauer durchschlagen musste, ohne höhere Bildung, aber mit einer tiefempfundenen Liebe zur Schöpfung ausgestattet, von seiner Umgebung als Sonderling verspottet und von hochnäsigen Literaturkritikern bestenfalls als Bauern- oder Heimatdichter abgestempelt. Sein vorwiegend lyrisches Werk ist von einer Naturphilosophie der Schonung alles Lebendigen und hohen ethischen Werten geprägt. Nachdem er erst spät (1885) seinen ersten Gedichtband auf eigene Kosten herausbringen konnte, in dem er vor allem als Poet der Natur hervortrat, wuchs die Zahl seiner Leser und Bewunderer stetig. Viele pilgerten in das abgelegene Warmbronn, um den literarischen Autodidakten und Utopisten zu sehen. Mäzene unterstützten ihn finanziell und ermöglichten ihm Reisen nach Italien. Ab 1889/90 erhielt er Ehrengaben des württembergischen Königs und der Deutschen Schillerstiftung. 1894 verfasste Wagner eine Art Katechismus unter dem Titel »Neuer Glaube«, weil er einen neuen Blick auf die Schöpfung und die Realisierung des prophetisch verkündeten zukünftigen Friedensreichs für erforderlich hielt, zu dem die Kirche nicht mehr die Kraft habe. 1915 wurde er zum Ehrenbürger seines Heimatorts ernannt. Hermann Hesse, der Wagners Gedichte 1912 herausgab, hielt ihn für »einen Dichter, wie wir wenige haben«. Kurt Tucholsky attestierte ihm eine dogmenlose Frömmigkeit; er sei es wert, »dass wir ihn alle läsen und verehrten«. Legendär ist die Art und Weise, wie Tiere seine Liebe erwiderten, zum Beispiel drei Gänse, die ihn jahrzehntelang bis zum Dorfausgang begleiteten, wenn er sich etwa auf den dreistündigen Fußmarsch zur Stuttgarter Landesbibliothek machte, oder Hühner, die sich zur Begrüßung auf seine Schulter setzten, oder die Haustiere des Dorfes, die ihm zu Dutzenden nachliefen - kein Wunder, dass Beobachter ihn mit Franz von Assisi verglichen.
1983 wurde im ehemaligen Wohnhaus des Dichters in Warmbronn eine kleine Dauerausstellung eröffnet, die nun anlässlich des 100. Todestags dank der Unterstützung der Stadt Leonberg und des Literaturarchivs Marbach in erweiterter Form wieder eröffnet wurde (geöffnet jeden Sonntag von 11-13 Uhr). Wie die Stuttgarter Zeitung berichtete, meldeten sich bei dem Festakt aus dem Publikum überraschend zwei aus der Schweiz angereiste Urenkel Christian Wagners, die etliche Erinnerungsschätze für die Sammlung mitgebracht hatten. Die Ausstellungsräume haben jeweils eigene Schwerpunkte; in einem geht es um das Hauptmotiv seines Schaffens, der Schonung alles Lebendigen. Dort wird er als Tier- und Naturschützer und radikaler Pazifist gezeigt, der unter den Ereignissen des Ersten Weltkriegs stark gelitten, aber dessen Ende nicht mehr erlebt hat.
Wer mehr über Christian Wagners Leben und Werk erfahren will, dem sei die Lektüre des entsprechenden Beitrags von Wolfram Zoller in Heft 51 der Forum-Reihe des Bundes für Freies Christentum (»Dichter als Grenzgänger des christlichen Glaubens«) wärmstens empfohlen.
Seit dem Ende der Templer-Siedlungen vor 70 Jahren hat sich bei einer Reihe von Landesbewohnern in Israel ein neues Hobby entwickelt: das Sammeln von Antiquitäten, die aus der Siedlungszeit stammen. Der Prominenteste von ihnen dürfte Yoel Amir sein, der zu unserem Bedauern Ende März in Israel gestorben ist.
Seit 20 Jahren bestand die Verbindung zwischen ihm und der TGD. Wir erfuhren anfänglich, dass er vor allem Postalien aus der Templerzeit sammle: Postkarten, Briefumschläge, Briefmarken, Stempel, Ansichtskarten, touristische Erinnerungsstücke und Ähnliches. Seine Beschäftigung mit diesem Thema führte dann dazu, dass er Forschungen anstellte über den Reise- und Postverkehr zwischen dem damaligen Palästina und Deutschland und darüber Aufsätze publizierte. »Die Siedlungen der Templer in Palästina, postalisch betrachtet« ist einer dieser illustrierten Aufsätze, den wir aus dem Jahr 1998 in deutscher Sprache im TGD-Archiv besitzen (T-398). Ein weiterer (in Englisch) befasst sich mit der Geschichte des Postwesens in den Internierungslagern der Templer in Palästina 1939-1948 (T-365).
Meine Bekanntschaft mit Yoel Amir rührt her aus dem Zusammentreffen mit ihm anlässlich Professor Haim Gorens historischer Vortragstagung im Jahr 2007 (die Texte der Vorträge sind wiedergegeben im Band »Deutschland und Deutsche in Jerusalem«, TGD-Archiv T-B20). Im Vorraum des Tagungszentrums in Jerusalem hingen an den Wänden zahlreiche Farb-Ansichten des Heiligen Landes aus früherer Zeit. Ich erfuhr von Amir, dass diese Bilder Teile eines Albums gewesen waren, das die Brüder Friedrich und Christian Imberger Anfang des 20. Jahrhunderts in Jerusalem an Touristen der Heiligen Stadt verkauft hatten.
Der Sammler Yoel Amir wurde nicht müde, alles über die Entstehung dieses Albums herauszufinden, über den Fotografen der Bilder, über die Drucktechnik mit Mitteln des aufwändigen Chromo-Druckverfahrens und über das Ladengeschäft der Imbergers in der Innenstadt von Jerusalem, von dem aus der Verkauf bewerkstelligt wurde. Er hatte sogar herausgefunden, dass der bekannte Orientmaler Gustav Bauernfeind, ein Kolonie-Nachbar der Imbergers, vermutlich Berater in der Farbgebung gewesen war. Die Yad Ben-Zvi Press, Jerusalem, hat diese Sammler-Geschichte 2006 mit einem Vorwort von Amir und einer Einführung von Haim Goren unter dem Titel »Holy Land Scenes 1906« in einem Prachtband herausgegeben (Vorderseite siehe Foto, TGD-Archiv T-883).
Templer-Reisegruppen sind in Israel des Öfteren mit Yoel Amir zusammengetroffen. Helmut Glenk, Berater und Bearbeiter der TSA bezüglich der Restaurierung ehemaliger Templer-Häuser, schrieb in einer Kondolenz-Mail, dass er über mehr als 16 Jahre hinweg Hilfestellung von Yoel Amir erfahren habe. Das letzte Kapitel der historischen Wirksamkeit Amirs sei dann im letzten Jahr die Überlassung von dessen postalischer Sammlung an die TSA gewesen, die nicht hoch genug eingeschätzt werden könne (das TGD-Archiv hat inzwischen eine Digital-Kopie dieser Sammlerschätze erhalten, über deren Inhalt auch in der November-Warte 2017 berichtet wurde).
Mit seinen vielfältigen Funden und historischen Erkenntnissen wird uns Yoel Amir in dankbarer Erinnerung bleiben.
Die ehemalige Kirche von Waldheim, heute Alonei Abba, musste 2011 wegen akuter Einsturzgefahr geschlossen werden. Die dortige Landwirtschaftskooperative entschied sich jedoch gegen die drängenden Investoren, sondern wollte das frühere Gotteshaus in ein Kulturzentrum für die gesamte Region, die sowohl jüdisch wie auch arabisch geprägt ist, verwandeln. Hauptinitiator war eine Bürgerinitiative, die von dem bekannten israelischen Schriftsteller Meir Shalev, der selbst in Alonei Abba lebt, unterstützt wurde. Da die Eigenmittel des Moshav nicht ausreichten, steuerte die Deutsche Botschaft in Tel Aviv 100.000 Euro aus dem Kulturerhalt-Programm des Auswärtigen Amtes für die dringendsten Maßnahmen gegen den Einsturz des alten Gebäudes bei. Unter Leitung des ortsansässigen Architekten Bernie Ludmir gingen israelische Unternehmen und entsprechend spezialisierte Handwerker an die schwierige Restaurierung. Sie sanierten den Dachstuhl und das Dach, behoben Risse im Mauerwerk, reparierten den kaputten Glockenstuhl und den brüchigen Kirchturm. Selbst die Glocke und der alte Wetterhahn wurden aufpoliert und erstrahlen nun in neuem Glanz; auch das Harmonium wurde von einem Fachmann restauriert. Ende Januar 2018 wurde das Baugerüst entfernt. Für die Bewohner des beliebten Ausflugsziels Alonei Abba ging ein Traum in Erfüllung. Hierzu Meir Shalev: »Wir hoffen, dass diese kleine Kirche, die einst ein Haus Gottes war, in der Zukunft ein Haus der Kunst, Musik, Literatur und Theater für alle Bewohner dieser Gegend sein wird. Und in meinem Herzen wünsche ich mir, dass auch unser kleines Land aufhören möge, allein das Haus Gottes zu sein, und stattdessen ein Haus für Wissenschaft, Kreativität, Kunst und Normalität werden würde.«
Unter diesem Titel ist vor kurzem der aktuelle Gemeindebrief der Erlöserkirche Jerusalem erschienen, der in unserem Archiv gesammelt wird. Von den zahlreichen interessanten Beiträgen dieses Heftes verdienen zwei aus der Feder von Dr. Jakob Eisler besondere Erwähnung: In einem widmet er sich dem Johanniter-Hospiz in der Jerusalemer Altstadt, dessen wechselvolle Geschichte von der Gründung bis zum Ersten Weltkrieg beleuchtet wird. Dabei werden auch die zahlreichen prominenten Gäste gewürdigt, die sich in den erhaltenen Gästebüchern des Hospizes verewigt haben. In einem weiteren, ausführlicheren Artikel können die Leser Dr. Eisler auf einem Spaziergang durch die Prophetenstraße (Ha-Nevi’im) begleiten, ein Weg, der den Teilnehmern unserer Gruppenreisen unter seiner Leitung durchaus vertraut ist, gibt es unterwegs doch etliche Bauwerke mit Bezug zu Deutschland oder zu Templern zu bewundern, wie etwa das von Theodor Sandel geplante Haus des Schweizer Bankiers Johannes Frutiger (Nr.11), die traurigen Überreste des Anwesens von Hugo Wieland sr., der zum ersten Zementproduzenten Palästinas wurde (Nr. 31), oder das imposante Haus von Conrad Schick (Nr. 39).