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Sozusagen grundlos vergnügt - Mascha Kaléko
Der Johannisbrotbaum - Jüdische Legende
Zum Dankfest - Karin Klingbeil
Saat und Ernte - Wolfgang Blaich
Der Mensch als eigenständiges Wesen - Peter Lange
Haben Tiere Rechte? - Karin Klingbeil
Von Konstantinopel nach Haifa - Jörg Klingbeil
Der Friedens-Wanderer - Wolfgang Kessler
Neues aus dem Archiv - Birgit Arnold
Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehen
Und dass es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,
Wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
- Dass Amseln flöten und dass Immen summen,
Dass Mücken stechen und dass Brummer brummen.
Dass rote Luftballons ins Blaue steigen.
Dass Spatzen schwatzen. Und dass Fische schweigen.
Ich freu mich, dass der Mond am Himmel steht
Und dass die Sonne täglich neu aufgeht.
Dass Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter,
Gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter,
Wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehn.
Man kann nicht alles im Kopf verstehn!
Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn.
Ich freue mich vor allem, dass ich bin.
In mir ist alles aufgeräumt und heiter:
Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt.
An solchem Tag erklettert man die Leiter,
Die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
- Weil er sich selber liebt - den Nächsten lieben.
Ich freue mich, dass ich mich an das Schöne
Und an das Wunder niemals ganz gewöhne.
Dass alles so erstaunlich bleibt, und neu!
Ich freu mich, dass ich ... Dass ich mich freu.
Ein Weiser ging einmal über Land und sah einen Mann, der einen Johannisbrotbaum pflanzte. Er blieb bei ihm stehen, sah ihm zu und fragte: »Wann wird das Bäumchen wohl Früchte tragen?« Der Mann erwiderte: »In siebzig Jahren.«
Da sprach der Weise: »Du Tor! Denkst du, in siebzig Jahren noch zu leben und die Früchte deiner Arbeit zu genießen? Pflanze lieber einen Baum, der eher Früchte trägt, dass du dich ihrer erfreust in deinem Leben.«
Der Mann aber hatte sein Werk vollendet und sah freudig darauf. Er antwortete: »Herr, als ich zur Welt kam, da fand ich Johannisbrotbäume und aß von ihnen, ohne dass ich sie gepflanzt hatte, denn das hatten meine Väter getan. Habe ich nun genossen, wo ich nicht gearbeitet habe, so will ich einen Baum pflanzen für meine Kinder und Enkel, dass sie davon genießen. Wir Menschen mögen nur bestehen, wenn einer dem andern die Hand reicht. Siehe, ich bin ein einfacher Mann, aber wir haben ein Sprichwort: Gefährten oder Tod.«
Damit wandte er sich ab und ging hinweg.
Diese beiden Texte empfinde ich als einander ergänzende Einstimmung auf unser bevorstehendes Dankfest. Das launige Gedicht von Mascha Kaléko, das ihre ungetrübte Lebensfreude ausdrückt, nimmt Bezug auf die gesamte Schöpfung: dass es hagelt, friert und die Mücken stechen gleichermaßen wie die Frühlingsblüte und die Jahreszeiten, die Geschöpfe von der Mücke bis zum Menschen - und seine Aufgabe, den Nächsten zu lieben. Sie empfindet all das Schöne als Wunder, an das sie sich nie gewöhnt, das sie immer wieder neu staunen lässt. Ja, es gibt solche Tage, an denen man die "ganze Welt umarmen" könnte... Wer seiner Freude solchen Ausdruck gibt, zeigt seine Dankbarkeit, auch ohne sie im Wort zu benennen.
Das ist die eine Seite: die Schöpfung, in und von der wir leben, als etwas Wunderbares zu erfahren, aber auch - und das zeigt uns der zweite Text - die Verantwortung zu spüren, die wir für diese Schöpfung haben. Wir leben von Vielem, ohne dass wir das Verdienst hätten, dafür gearbeitet zu haben.
Wir finden auf dieser Erde so vieles vor, das unsere Existenz überhaupt erst möglich macht und das daher völlig selbstverständlich für uns ist: die Luft, die wir atmen, das Wasser, ohne das kein Leben existieren kann, die Sonne, die wärmt und Wachstum und Gedeihen bedingt. Außerdem ist da auch noch die menschliche Gemeinschaft, von der wir profitieren und der auch wir in unserem Leben etwas zurückgeben sollten. Aber inzwischen ist offensichtlich, dass der Mensch das Gleichgewicht empfindlich gestört hat - die Luft ist vielerorts verpestet, sauberes Wasser ist keine Selbstverständlichkeit mehr und die Auswirkungen des Klimawandels werden auch bei uns immer deutlicher spürbar.
Unsere Generation ist wohl diejenige, die mehr als alle zuvor einen schier unermesslichen Raubbau an den Schätzen unserer Erde betreibt. Würden alle Menschen so leben wie wir in Europa, bräuchten wir drei Planeten von der Qualität der Erde. Das zeigt, dass wir nicht nur jetzt auf Kosten anderer so leben, sondern auch die Zukunft aus den Augen verloren haben. Aber wir haben nicht nur die Verantwortung für unsere Erde, sondern sollten auch bedenken, was für eine Erde wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen. Von dieser Verantwortung spricht der zweite Text. So wollen wir an unserem Dankfest neben dem Dank für die Schöpfung, von der wir leben, auch unsere Verantwortung dafür bedenken.
Nach der Sintflut machte Gott an Noah die Zusage der ewigen, regelmäßigen Wiederkehr von Saat und Ernte. Das ist eine Gesetzmäßigkeit, die Gott in die Schöpfung gelegt hat. Diese Gesetzmäßigkeit bezieht sich aber nicht nur auf Kreisläufe in der Pflanzenwelt eines Gärtners oder Bauern, sondern sie ist auch im menschlichen Denken und Verhalten vorhanden. Wir leiden oft an den Folgen einer falschen Aussaat. Es gilt somit zu erkennen, dass wir entscheiden, welchen Samen wir benützen um eine reiche Ernte zu erzielen.
Jeder Gärtner weiß, wie wichtig der richtige Samen ist und wie entscheidend die positiven Bedingungen des Nährbodens für das Aufgehen und Gedeihen der Frucht sind.
Die Schrift nennt an verschiedenen Stellen und Beispielen, warum nicht immer gesunde Frucht gedeiht:
- das Beispiel des Samens, der von Vögeln aufgepickt wird, bevor ein Auskeimen möglich ist. Diese »Vögel« erscheinen oft als Gedanken oder Zweifel, welche ein Wachstum verhindern;
- die Saat fällt auf harten Boden. Keimen und Gedeihen um Frucht zu tragen sind hier erschwert. Samen, welcher auf offene Herzen und positive Haltung fällt, gibt Wachstum einen gesunden Nährboden.
Wenn wir also die Gesetzmäßigkeit von Saat und Ernte auf unser Leben übertragen, verstehen wir das Wort: der Mensch erntet, was er aussät. So geht eine positive Wirkung aus von positiven Gedanken und Worten. Sie bringen Frieden, Glaube und Liebe. Sie geben einer Gemeinschaft Halt und Führung. Wo positive Gedanken vorherrschen, arbeitet und lebt man gesünder und kreativer. Wo aber negativ geredet oder gar verleumdet wird, wird ein Samen ausgestreut, welcher negative Frucht bringt. Das ist Nährboden für Streit, Missgunst, Neid, Eifersucht usw.
Jeder Mensch erntet selber das, was er in seinem Leben ausgesät hat. Unser ganzes Leben ist eine Aussaat. Wir säen jeden Tag, ob bewusst oder unbewusst. Es liegt also an mir, an meinem bewussten Umgehen mit Gedanken, Worten und Emotionen, wie und was ich säe. Mir fällt da immer wieder das Bild eines Bauern ein, der, in der alten Tradition und Vorgehensweise, über sein Ackerfeld schreitet und behutsam und fürsorglich mit der Hand den Samen in die vorbereiteten Ackerfurchen streut. Seine Gedanken sind auf eine gute Ernte ausgerichtet. Er investiert dabei in Hoffnung, in Zukunft. Er gibt wertvollen Samen, aus welchem man Brot oder andere feine Speisen bereiten wird, in die Erde. Und dies, obwohl man momentan keinen Erfolg voraussehen kann. Der eigentliche Antrieb zu solchem Handeln ist die Hoffnung auf eine gute Ernte, das Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit von Saat und Ernte.
Wenn ein Mensch auf die Welt kommt, ist eines der ersten Dinge, die ihm passieren, dass man ihm einen Namen gibt. Sollten sich die Eltern nicht sofort zu einer Namensgebung entschlossen haben, bekommt er in der Entbindungsstation ein kennzeichnendes Band um den Arm. In manchen Gegenden wird sein Name später am »Namenstag« in den Mittelpunkt gestellt.
Bei der Namenswahl eines Kindes gibt es in der Gegenwart eine relativ große Freiheit. Die Eltern versuchen im Allgemeinen, ihrem Kind einen unverwechselbaren Namen zu geben. Das war in der Vergangenheit nicht immer so. Da wurde einem Jungen vielfach der Name des Vaters gegeben, wie das auch in arabischen Ländern oder in Skandinavien oder anderswo der Brauch war, wo dem väterlichen Namen ein »ibn« (im Arabischen) vorangestellt oder »son« (im Skandinavischen) angehängt wurde. Auch im deutschen Sprachraum gab es zur Unterscheidung oft einen Hinweis auf den Namensgeber, indem dieser »der Ältere« und der Sohn »der Jüngere« genannt wurde. Oder es wurde dem Kind zusätzlich ein zweiter Vorname zum väterlichen Vornamen gegeben.
In solcher Namensgebung zeigt sich, dass sich Kinder mit ihrem Namen zwar vielfach nach Traditionen der Eltern richten, aber von ihnen auch unterschieden sein sollen. Der Name ist etwas so Individuelles, dass hier keine Unklarheit aufkommen soll, auch wenn der Vater vielleicht wünscht, der Sohn möge ihm »auf Schritt und Tritt nachfolgen«. Meistens hat die familiäre Umgebung zur Unterscheidung einen Rufnamen ausgemacht, oder der Nachkomme hat aus eigener Initiative eine Namensänderung bewirkt (wie ich es in der Familienforschung des Öfteren vorgefunden habe). Es bleibt der Wunsch des Menschen, den eigenen Namen in seinem Leben stets im Vordergrund zu sehen - und dessen Initialen vielleicht auch in Holz oder Stein zu ritzen.
Die Frage, die man sich im Hinblick auf den eigenen Namen im Grunde vorlegt, lautet: Wie kann ich mich von anderen Menschen meiner Umgebung unterscheiden? Wie kann ich bewirken, dass ich von meiner Umwelt als eigenständiger Mensch und nicht nur als identische Kopie meiner Eltern angesehen werde? Und vor allem: Wie kann ich im Zusammenleben mit so vielen anderen Menschen durch eine eigene Ausstrahlung hervortreten? Jeder von uns hat das Bestreben, nicht ein Herdenmensch, »nicht nur eine Nummer« zu sein.
Zur Eigenständigkeit gehören eigene Gedanken, eigene Umgangsformen, eigene Leistungen. Ich kann zwar Traditionen meiner Vorfahren weiterführen, sie aber anders prägen oder sie umwandeln und weiterentwickeln. Unsere Bewunderung gilt meist nur den relativ wenigen, aus der Masse der Menschen herausragenden Weltveränderern, wie etwa Mahatma Gandhi, Bill Gates, Albert Einstein oder Roald Amundsen, aber nicht den vielen anderen, die mit ihrem Denken, Tun und Können der Menschheit genutzt haben.
Nun gehören zum eigenständigen Hervortreten aber noch andere Dinge als nur der eigene Name, so etwa die individuelle Kommunikationsfähigkeit, mit der eigenes Denken und Tun mit dem Denken und Tun anderer Menschen verglichen, ausgetauscht, weitergeführt wird. Wie kann es denn zur Entwicklung neuer Ideen kommen, wenn nicht durch Erfahrungsaustausch und Weiterführung schon vorhandener Ideen?! Waren es früher Zeitschriften und Bücher, die vorhandenes Wissen überprüften und weitertrugen, geschieht dies in unserer Zeit durch Internet-Foren, E-Mail-Verkehr und Datenaustausch. Als ich in der Grundschule in die erste Klasse kam, wurde damals auf Schiefertafeln das ABC und das Einmaleins eingeübt. Seither sind immense Entwicklungen in der Art der Weitergabe von Wissen erfolgt. Während es heutzutage um das Verständnis einer vernetzten Welt geht, ist dagegen das einstige »Schönschreiben« der Schulzeit aus dem Katalog der gewünschten schulischen Leistungen ersatzlos gestrichen worden.
Etwas anderes hat dagegen in meinen Augen seinen Wert im Lauf der Zeit nicht verloren, sondern behalten, nämlich die eigene Zugehörigkeit zu einer Region, einer Landschaft, einer Sprache, einer Kultur. In den Flucht- und Wanderungs-Bewegungen der Neuzeit hat sich gezeigt, dass der Tausch eines Wohnortes mit einem anderen meist mit gravierenden Umstellungen verbunden ist und das eigene Leben damit eine nicht leicht zu bewältigende Wende nimmt. So werden etwa die Flüchtlinge aus Syrien sicher nichts sehnlicher wünschen, als wieder in ihre Heimat zurückzukommen, auch wenn dort eine riesige Aufbauarbeit auf sie warten wird. Ich selbst habe nur die zehn ersten meiner 86 Jahre in Sarona bei Jaffa gelebt, nehme diesen Ort aber nach so langer Zeit immer noch als meine Heimat wahr. Heimat ist etwas so Eigenständiges, dass kein Ersatz dafür möglich ist. Sie liegt tief in uns eingeprägt.
Zusammenfassend möchte ich es vielleicht so sagen: dass im Grunde jeder Mensch ein eigenes Wesen hat, mit eigenem Namen, unverwechselbar, mit eigenem Denken und eigener Seele. Es ist ihm in die Wiege gelegt, ein Individuum, ein eigenständiger Mensch zu sein, wie es so keinen zweiten in dieser riesigen Menschenwelt gibt.
»Nicht Erbarmen, sondern Gerechtigkeit sind wir den Tieren schuldig!«
(Arthur Schopenhauer)
Mit dieser Frage der Tierethik befasst sich die Philosophie zunehmend. Als Teildisziplin der Bioethik setzt sich die Tierethik mit den moralischen Fragen auseinander, die sich aus dem menschlichen Umgang mit Tieren ergeben. Dabei stehen Fragen nach der Legitimität der Nutzung von Tieren im Mittelpunkt, aber es geht auch darum, welche Rolle in der Welt dem Menschen und anderen lebenden Wesen zugestanden wird.
Durch alle Kulturen und Zeiten zieht sich ein tiefes Unbehagen, Tiere zum eigenen Nutzen zu töten - das belegen die Speisevorschriften und der Opferkult in der Bibel. Auch die Sakralisierung des Schlachtens von Tieren in der Thora, die sich in Grundzügen sowohl im Judentum als auch im Islam bis heute erhalten hat, zeugt von der Ehrfurcht davor, Leben zu nehmen. Weil das Blut als der Sitz des Lebens galt, war es heilig und so wurde das Schlachten von Tieren durch Tempelpriester im geheiligten Bereich zelebriert, das Blut der Opfertiere hier verspritzt.
Unsere Gesellschaft lagert das Schlachten der Tiere aus - dieser unschöne Vorgang findet, von schlecht bezahlten Arbeitern erledigt, möglichst weit außerhalb des gesellschaftlichen Lebens statt. Von "Heiligkeit" keine Spur, im Gegenteil: heute werden bei uns in der sogenannten industriellen Tierhaltung Fleisch, Eier, Milch und etliches mehr produziert - schon die Sprache deutet darauf hin, dass dem Leben von Tieren kein Wert zugemessen wird, der über den rein ökonomischen hinausgeht. Dabei gibt es mittlerweile genug Informationen darüber, wie brutal es sowohl bei der Massentierhaltung, beim Tiertransport und beim Schlachten zugeht - man muss sich schon Augen und Ohren zuhalten, um diese Berichterstattung zu ertragen. Wie ist es zu diesen Zuständen gekommen?
In den beiden Schöpfungsberichten in der Bibel (1. Mose 1,1-2,4a und 1. Mose 2,4b-25) stehen sich Tier und Mensch sehr nahe; beide sind atmendes Leben - die Tiere werden weder als "Rohstoff" benutzt noch gegessen: Gott gibt Mensch und Tier die Pflanzen und Früchte der Erde zur Nahrung. Aber dann heißt es: Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht (1. Mose 1,28). Würde "herrschet" mit "verwaltet" übersetzt, was offenbar möglich ist, dann würde dadurch dem Menschen ein ganz anderer Umgang mit der Schöpfung ans Herz gelegt. Aber diese Diskussion ist neueren Datums - der Schöpfungsbericht ist von jeher so verstanden worden, dass der Mensch "die Krone der Schöpfung" ist und Gewalt haben soll über die Erde und das, was auf ihr ist.
Eine tierethische Anleitung bietet die Bibel nicht. Die Alttestamentlerin Yvonne Sophie Thöne ist der Meinung, dass Tiere und Menschen im Alten Testament eine "moralische Wertegemeinschaft" bilden. Tiere sind Geschöpfe Gottes und die Auffassung, dass sie allein durch ihr Dasein Gott preisen und verherrlichen, ist in der Thora, in den Psalmen und bei Hiob zu finden. Im Neuen Testament kommen Tiere seltener vor, aber Jesus ging ganz selbstverständlich von einer direkten Gottesbeziehung zu den Tieren aus; wie z.B. in Lukas 12,6: Verkauft man nicht fünf Spatzen für ein paar Kupfermünzen? Und doch vergisst Gott nicht einen von ihnen. Oder in Matthäus 6, 26: Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Jesus verbringt 40 Tage in der Wüste mit den wilden Tieren und schafft das Opfer ab. In einigen apokryphen Evangelien hat Jesus Mitleid mit Tieren, heilt sie und erweckt sie zum Leben, spricht sich sogar gegen den Fleischverzehr aus.
Im antiken Griechenland gab es vier verschiedene Sichtweisen zum moralischen Status der Tiere, die jeweils auch von dem Glauben an die Existenz einer Seele abhingen: die weitaus größte Gruppe glaubte, dass Tiere zum Gebrauch und Nutzen des Menschen existieren, Animisten glaubten daran, dass Menschen und Tiere eine Seele hätten, während die Mechanisten weder Mensch noch Tier eine solche zusprachen. Die Vitalisten schließlich glaubten, dass beide eine Seele besitzen, aber die der Tiere untergeordnet ist.
Seit der Industrialisierung gibt es infolge des mechanistischen Weltbildes "Tierfabriken". Einer der ersten Vertreter der mechanistischen Auffassung war René Descartes (1596-1650), der nur dem Menschen ein Selbstbewusstsein zugestand und Tiere Maschinen gleichstellte. Diese Unterscheidung (es macht keinen Unterschied, ob eine Maschine quietscht oder ein gequälter Hund winselt) traf er, um die Menschen von dem "Verbrechen" loszusprechen, Tiere zu töten und zu essen.
In der Aufklärung wird Immanuel Kants (1724-1804) Aufforderung »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« zum Leitgedanken; seine "Goldene Regel" verlangt, dass in der moralischen Menschengemeinschaft keiner dem anderen etwas zufügen soll, von dem man nicht möchte, dass es einem selbst getan wird. Aber das Denken bleibt anthropozentrisch, die Würde und dadurch Sonderstellung des Menschen ergibt sich für ihn aus dessen Anteil an der (höheren) Welt der Vernunft. Ein rücksichtsloser Umgang mit Tieren ist nur deshalb abzulehnen, weil er verrohendes Verhalten anderen Menschen gegenüber zur Folge haben könnte. Tiere besitzen keinen Eigenwert und ihr Schutz hängt einzig von der Einschätzung des Einzelnen ab.
Obwohl Arthur Schopenhauer (1788-1860) sich als Schüler und Vollender Kants begriff, entwickelte er seine Mitleidsethik: der einzige Grund, uneigennützig zu handeln, sei die Erkenntnis des Eigenen im Anderen, was ihn zu folgendem Prinzip aller Moral brachte: »Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit du kannst.« Dabei schloss er ausdrücklich den Schutz der Tiere mit ein: »Mitleid mit den Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, dass man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein.«
(Fortsetzung in der nächsten Ausgabe)
In den beiden vorigen Ausgaben wurde die Reise der beiden Tempelvorsteher aus ihrer schwäbischen Heimat bis nach Konstantinopel geschildert, wo sie ihr Anliegen, Siedlungen im Heiligen Land zu gründen, Mitte September 1868 den osmanischen Regierungsstellen vortrugen. Nun folgt die letzte Etappe über Beirut nach Haifa, mit einem etwas ernüchternden Empfang ...
Nachzutragen ist, dass die Tempelvorsteher während ihres Aufenthalts in Konstantinopel einigen Anfeindungen ausgesetzt waren, die in der »Süddeutschen Warte« erstaunlich ungeschminkt wiedergegeben wurden. So richtete ein in Konstantinopel lebender Dr. Baur am 21. September 1868 einen offenen Brief an Christoph Hoffmann, der unter den dort wohnenden Deutschen verbreitet wurde. Darin warf er diesem in einer Mischung aus Ironie und Polemik u.a. vor, er stürze durch die Auswanderung nach Palästina aufgrund seiner blinden Bibelgläubigkeit und in Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse viele Anhänger ins Unglück. In seiner sachlich gehaltenen Antwort vom 3. Oktober 1868 erwiderte Hoffmann, die biblische Begründung des Tempels in Jerusalem sei in zahlreichen Schriften seiner Gesellschaft ausführlich dargelegt worden. Die Templer kämen aber nicht als »Eiferer des Glaubens gegen Andersgläubige« in den Orient und bildeten auch »keine konfessionelle Gegenpartei gegen andere Konfessionen«. Vielmehr wolle man durch »das Beispiel nützlicher Tätigkeit unsere Mitmenschen von der Richtigkeit unseres Glaubens überzeugen«. Die Schilderung der schwierigen Verhältnisse und Gefahren in Palästina sei im Ganzen richtig und auch notwendig für die, die sich an der Unternehmung des Tempels beteiligen wollten. Er, Hoffmann, werde daher für den Abdruck des Briefwechsels in der »Süddeutschen Warte« sorgen (was dann auch geschah). Etwa zur gleichen Zeit warnte ein deutscher Zeitungskorrespondent in Konstantinopel aufgrund von behördlichen Schikanen im Raum Aleppo vor protestantischen Ansiedlungen im osmanischen Reich.
Schon bei der Übergabe der Eingabe war den Tempelvorstehern signalisiert worden, dass bis zu einer Antwort des Staatsrats mindestens vier Wochen vergehen könnten. So lange wollten die Tempelvorsteher angesichts der herannahenden Herbststürme auf dem Mittelmeer aber nicht warten; sie entschlossen sich daher, auch ohne einen positiven Bescheid der Hohen Pforte weiterzureisen. Zur politischen Absicherung ihres Unternehmens richteten sie am 30. September 1868 noch ein Schreiben an die »Gesandtschaften verschiedener christlicher Mächte«, um ihr Siedlungswerk deren Schutz zu unterstellen. Wörtlich heißt es darin zu ihrer Motivation: »Die Zustände der Völker haben uns zu der Überzeugung gebracht, dass die Zeit gekommen ist, um in dem heiligen Lande den Tempel Gottes zu bauen, der nicht aus Holz und Steinen, sondern aus Menschen besteht, die den Willen Gottes auszuführen bestrebt sind.« Damit hatten die Tempelvorsteher eindeutig und offiziell auch nach außen klargestellt, dass es ihnen um die Errichtung eines »geistigen Tempels« und nicht etwa um ein Bauwerk ging. In der »Süddeutschen Warte« warnten sie außerdem vor einer Einwanderung einzelner Tempelmitglieder nach Palästina; hierfür würden sie keine Verantwortung übernehmen.
Am 8. Oktober 1868 bestiegen die Tempelvorsteher Hoffmann und Hardegg mit ihren Familien schließlich den Dampfer »Oreste« des Österreichischen Lloyd, der sie über Izmir (damals Smyrna), Rhodos und Zypern nach Beirut brachte, wo sie nach einer stürmischen Überfahrt am 15. Oktober 1868 eintrafen. Dort wurden sie bereits von den Tempelmitgliedern Friedrich (Fritz) Keller und Friedrich Pross erwartet, die bereits im Juni 1868 eingetroffen waren. Sie mieteten ein kleines Haus für die Dauer ihres Aufenthalts; später trafen noch Martin Schnerring und Philipp Kraft ein, die sich - so Hoffmann in seinem Bericht vom 20. Oktober 1868 - in Haifa von Johann Conrad Breisch getrennt hätten, der nach Nazareth weitergezogen sei, während sie nach Beirut gingen. Die Tempelvorsteher trafen außerdem den einzigen von den Geschwistern Hessenauer noch lebenden Bruder, der die Todesfälle in Samunieh vor allem auf die dortigen Sümpfe und das ungesunde Klima zurückführte. Der Generalkonsul des Norddeutschen Bundes, Dr. Weber, riet ihnen - wohl auch wegen der gesünderen Lage - zu einem Siedlungsplatz im Süden des Carmel-Gebirges. Es habe auch keinen Wert, den Winter über in Beirut zu bleiben. So brach die Reisegesellschaft am 30. Oktober 1868 nach Haifa auf, das die Tempelvorsteher aufgrund der in Beirut erhaltenen Ratschläge inzwischen als vorläufigen Aufenthaltsort bestimmt hatten. Für die ersten Tage fanden sie Aufnahme im russischen Hospiz; anschließend bezogen sie zwei von Breisch vorher angemietete Wohnungen. In seinem Bericht vom 8. November 1868 versuchte Hoffmann - der zuvor von einem weiteren Todesfall unter den vorzeitig ausgewanderten Templern erfahren hatte - erneut, die hohen Erwartungen der in der Heimat zurückgebliebenen Mitglieder an eine rasche Auswanderung zu dämpfen: »Das Beste ist bei diesem Unglück, dass ... es für die noch Lebenden eine Schule werden kann, um ... nicht blind in Gefahren hineinzugehen .... . Würde man ... dabei bleiben, dass man nur schnell Land erwerben und hierher eilen müsse, so wäre weiteres Unglück zu erwarten. Können sich aber die Brüder in Württemberg entschließen, uns Zeit zur allmählichen Vorbereitung einer größeren Kolonie zu lassen und einstweilen das, was hier geschehen kann und wird, als ersten, zarten Keim des Tempels in Jerusalem zu unterstützen, so kann es (vorausgesetzt, dass Gott Gedeihen gibt und Völkern und Regierungen das Herz lenkt) innerhalb eines Zeitraums von wenigen Jahren möglich werden, in größerer Masse zu ziehen.«
Eine besonders lebendige Schilderung der Ankunft im Heiligen Land verdanken wir den Aufzeichnungen von Maria Hardegg (1871-1948), die sich dabei hauptsächlich auf die Erzählungen ihrer Eltern und Tanten stützte. Sie werden hier auszugsweise wiedergegeben und bilden den Abschluss unserer Fortsetzungsgeschichte:
»Gegen Mitternacht fuhr der Dampfer in die Bucht von Haifa ein und warf etwa einen Kilometer vom Land entfernt Anker. Bald war das Schiff von Ruderbooten umgeben, dunkle Gestalten erkletterten das Deck und stürzten sich unter lautem Geschrei und Gestikulationen auf die Reisenden und deren Gepäck. Wohl oder übel musste man sich ihren Booten anvertrauen. Als die Frauen jedoch mit Schrecken bemerkten, dass eines der Gepäckstücke fehlte, setzten sie sich energisch gegen die Abfahrt vom Schiff zur Wehr, ehe dasselbe nicht zur Stelle geschafft sei. Ihr Widerstand hatte dann auch den Erfolg, dass der Bootsführer mit Stentorstimme über die nächtlichen Wasser brüllte: "Ja achsen el sanduk". Nach mehrmaliger Wiederholung dieses Rufes sei dann auch ein anderes Boot aus der Dunkelheit zurückgekehrt und das Gepäckstück, das versehentlich mit den Koffern einiger anderer Reisenden ins falsche Boot gebracht worden sei, wurde ins Boot der Frauen gebracht; das war der erste Sprachunterricht. Man stieß nun ab und fuhr eine Strecke in die Nacht hinein. Plötzlich zogen die Ruderer die Ruder ein, die Boote schossen auf den Sand, ein Teil der Ruderer sprang ins Wasser, während der andere Teil die Reisenden ohne weitere Umstände packte und sie den im Wasser Stehenden hinausreichte. Diese trugen sie dann noch etwa anderthalb Meter durchs plätschernde Wasser ans Ufer, das man beim trüben Schein einiger Laternen ahnen konnte. So unerwartet betrat man den Boden des Heiligen Landes, und man hatte sich doch so romantische Vorstellungen von diesem Ereignis gemacht. Nun stand man also im Trockenen, auch das Gepäck war vollzählig zur Stelle, jedoch ins Städtchen hinein konnte man nicht. Dieses war, wie damals noch alle Städte im Orient, mit einer Stadtmauer umgeben, und das Tor derselben war geschlossen. Nach langem vergeblichem Klopfen hörte man endlich auf der Innenseite der Mauer schlurfende Schritte und eine raue Stimme gab Töne von sich, die man als Frage nach dem Begehr deutete. Durch einen freundlichen Mitreisenden, der französisch sprach, gab man Auskunft, worauf der jenseitige Torhüter erklärte, er könne nicht öffnen, er habe keinen Schlüssel. Ja, wer denn den Schlüssel habe, ließ man durch den Dolmetscher fragen. Der Kaimakan habe ihn, kam die Antwort zurück. So möge er doch so gut sein und denselben holen. Das könne er nicht. Warum denn nicht. Weil der Kaimakan schlafe. So möge er ihn doch in Gottes Namen wecken, verlangten die Ankömmlinge, worauf sie sich entfernende Schritte vernahmen. Nach geraumer Zeit, in der sich die Damen und älteren Herren auf die Gepäckstücke gesetzt hatten, näherten sich die schlurfenden Schritte jenseits der Mauer wieder, um den Bescheid zu bringen, der Kaimakan habe den Schlüssel verloren. Nun war guter Rat teuer. Sollte man genötigt sein, auf dem feuchten Sand zu nächtigen, während man wusste, dass von Beauftragten schon Häuser in Haifa gemietet waren. Durch den freundlichen Dolmetscher wandte man sich an die wenigen anderen Mitreisenden, die auch noch herumsaßen. Einer derselben erinnerte sich eines Loches in der Stadtmauer, das in der Nähe sei; wenn die Reisenden wollten, werde er sie dahin führen. Was sollten diese des Bakschischs (Trinkgeld) noch so Unkundigen anderes machen? So folgten sie diesem fremden Führer und gelangten dann auch glücklich durch eine etwa metergroße Mauerbresche, die vielleicht einen halben Meter über dem äußeren Grund lag, vollends in die Stadt. Dort fand sich auch, mit dem Torwächter, der ihnen auf der Innenseite der Mauer gefolgt war, der Kawass des preußischen Vizekonsuls zu ihnen, der die Reisegesellschaft ins griechische Pilgerhaus führte, wo sie den Rest der Nacht, vor Übermüdung doch schlafend, auf harten Steinbänken verbrachten. Am anderen Morgen konnten sie dann endlich die von ihren vorausgesandten Pionieren gemieteten Häuser beziehen.«
Ja, Uri Avnery konnte das Leben auch in Ruhe genießen. Als ich vor Jahren zum letzten Mal mit ihm telefonierte, lag er am Strand seines Wohnortes Tel Aviv. »Hier erhole ich mich am besten«, sagte er, etwas entschuldigend.
Zeitlebens war Uri Avnery auf Wanderschaft zwischen den verschiedenen Welten. Politisch kam er von weit rechts. In Deutschland geboren, war Helmut Ostermann im Alter von zehn Jahren 1933 mit seinen Eltern aus Hannover nach Palästina geflohen. Fünf Jahre später nahm er den Namen Uri Avnery an. Nach 1948 rechtfertigte der überzeugte Zionist auch Attentate im Kampf für den eigenen Staat Israel...
Dieser Artikel ist für die Internetausgabe der »Warte« leider nicht freigegeben. Lesen Sie den vollständigen Artikel in der gedruckten Ausgabe der »Warte« oder in »Publik-Forum«, kritisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 16/2018, Seite 27.
Otto Lutz reist am 30. Oktober 1918 weiter nach Deutschland, die beiden Frauen warten auf eine Möglichkeit zur Weiterreise nach Russland. Drei Wochen später schließt das Tagebuch mit dieser Notiz von Katharina:
»Mama wurde krank. Ich musste sie ins Krankenhaus bringen. Dort ist sie nach achttägigem Leiden sanft eingeschlafen. Konstantinopel, Deutsches evangelisches Krankenhaus, am 18. November 1918«
Katharina kann bis Odessa weiterreisen. Dort ist erst einmal Endstation. Sie wohnt bei einer entfernten Verwandten, der »Tante« Helene Schreitel, Musiklehrerin, auf die ein alter Bekannter aus Romanowka sie aufmerksam macht, und verdient ihren Lebensunterhalt mit Näharbeiten. Frühestens ein gutes halbes Jahr später kommt sie wieder im Kaukasus an.
Nicht nur das Tagebuch der Anna Tietz, sondern auch Katharinas Poesiealbum, das wunderbarerweise den Weg nach Deutschland gefunden hat, zeichnet die Stationen dieser Reise nach. Vor der Hochzeit ihrer Schwester (6. März 1913) war sie mit dieser zur Ausbildung im Töchterinstitut in Stuttgart; die Freundinnen Irene und Hilda schreiben ihr zum Abschied. In Olgino finden sich im Herbst desselben Jahres viele Einträge aus dem familiären Umkreis, angefangen mit ihrer Großmutter Katharina Hausknecht (*1838). Aus den Jahren in Palästina gibt es Beiträge von Familie Grossmann in Tiberias und Familie Nassar, auch die Bekanntschaft mit Clara Sigrist-Hilty belegt deren Eintrag im März 1916. Den zeitlichen Abschluss bilden im Mai 1919 die Abschiede aus Odessa. Wer sich hinter Anna, Heri und Mariechen verbirgt, wird wohl im Dunkeln bleiben. Helene Schreitel grüßt mit einem gekonnten Notenschlüssel und zwei Noten. Mit zittriger Schrift schreibt der über 70jährige Baron von Kaulbars, Violinist, Pianist, Sänger, Dirigent, Komponist und Musikpädagoge am 16. Mai 1919 einen Abschiedsgruß samt ein paar Takten Musik. Es ist anzunehmen, dass Katharinas Weiterreise kurz bevorstand.
Katharina starb 1969 im Alter von 75 Jahren im Ural. Sie arbeitete dort als Deutschlehrerin und unterrichtete in Beresniki den späteren russischen Präsidenten Boris Jelzin.
Aber das ist eine andere Geschichte.