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»Bis hieher hat der Herr geholfen« - Brigitte Hoffmann
Gott ist Liebe - Karin Klingbeil
Der Stolperstein im Vaterunser - Peter Lange
Engagement für das Land der Bibel - Jörg Klingbeil
Zankapfel Jerusalem? Es war auch mal anders - Dr. Jakob Eisler / Jörg Klingbeil
Erinnerungen an Templer in Jerusalem - Jörg Klingbeil
2017 haben wir an die Einweihung unseres Gemeindehauses in Degerloch vor 50 Jahren erinnert - schon liegt ein neues Jubiläumsjahr vor uns: vor 150 Jahren haben die führenden Templer ihr Siedlungswerk in Palästina begonnen; hierfür steht die Ansicht des ersten Gemeindehauses im Heiligen Land. Der Saalanbau mit dem Bibelvers »Bis hieher hat der Herr geholfen« (1. Sam 7,12) ist allerdings erst 1890 hinzugekommen. Zu diesem Zeitpunkt war der Ausbau der Kolonie Haifa schon weit gediehen; die Siedler waren aus dem Gröbsten heraus. Weitere Kolonien in Jaffa, Jerusalem und Sarona waren hinzugekommen. Die Leitung war inzwischen nach Jerusalem umgezogen und hatte damit das ersehnte Ziel erreicht, das über der anderen Eingangstür des Haifaner Gemeindehauses mit dem Bibelvers »Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen« 20 Jahre zuvor so eindrücklich beschworen worden war. Das Motto »Bis hieher hat der Herr geholfen« steht damit nicht nur für den Neubeginn im Jahre 1868, sondern auch für die Bewältigung der harten Anfangsjahre. Insofern drückt der Spruch auch die Dankbarkeit für das bisher schon Erreichte aus.
Für die Gründergeneration war dieser Erfolg ein göttliches Wunder und der Beweis, dass ihr Unternehmen im Sinne Gottes war. An solche direkten göttlichen Beweise glauben wir heute nicht mehr. Aber aus diesem unbedingten Gottvertrauen haben die frühen Templer die nötige Kraft geschöpft, um viele schwere und unsichere Jahre durchzustehen. Und ganz nüchtern betrachtet waren die Templer die einzige europäische Gruppe, die sich ohne irgendeine Unterstützung von außen im heruntergekommenen Palästina halten konnte. Das Gedenken daran lohnt auch noch 150 Jahre später unter einem anderen Aspekt: wir können das Wirken Gottes nicht erkennen. Wir können es nicht einengen auf das, »was geschrieben steht«, und nicht auf das, was wir leidenschaftlich glauben und erstreben. Aus unserem Bemühen kann auch etwas ganz anderes entstehen, als wir uns vorgestellt haben, zum Guten, aber auch zum Schlimmen - und wir haben keine Antwort auf die Frage, warum das so ist. Wir suchen nach Erklärungen, aber das sind immer unsere eigenen Deutungen, daher subjektiv und widersprüchlich. Das macht vielen Angst, weil sie eine dauerhafte Sicherheit und sichere Maßstäbe suchen. Es kann aber auch Freude und Trost bedeuten, weil Widersprüche die Welt lebendig und vielgestaltig machen und bewirken, dass immer wieder Neues entstehen und neue Hoffnung wachsen kann.
Selbst das auf die Vergangenheit gerichtete Motto am Haifaner Gemeindehaus erfährt wohl bei allen Betrachtern unwillkürlich eine auf die Zukunft gerichtete Interpretation: Wenn Gott »bis hieher« geholfen hat, ist anzunehmen, dass er auch in Zukunft helfen wird. Ich bin mir sicher, dass alle, die damals dort standen, davon absolut überzeugt waren. Aber sie meißelten es nicht in Stein. Sie hatten die Demut, die Zukunft offen zu lassen. Und ihre große Hoffnung trug sie trotzdem.
Auf ein gutes Gedenkjahr!
(für den Ältestenkreis)
Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts, denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollkommen in der Liebe. 1. Johannes 4,16-18
Schauen wir uns den Zusammenhang an, in dem dieser Text steht, so wird klar, dass es hier um Glaubensstreitigkeiten geht, nämlich die Unterscheidung vom "rechten" und vom "falschen" Glauben - dem Geist der Wahrheit und dem Geist des Irrtums. Gewarnt wird vor falschen Propheten, dem "Geist des Irrtums"; der "Geist der Wahrheit" aber, d.i. der Geist Gottes, werde da erkannt, wo Menschen bekennen, dass Jesus von Nazareth der Christus sei und insbesondere daran glauben, dass Jesus am Kreuz für ihre Sünden gestorben ist.
Auch wenn der Streit um diese Auffassungen für uns nicht relevant ist, kann es der oben zitierte Text durchaus sein. Denn so, wie wir Jesus verstehen, hat er sich in und mit seinem Leben bemüht, den Menschen aufzuzeigen, dass Gottes Zuwendung zu seinen Geschöpfen reine Liebe ist, so auch sie dem Doppelgebot der Liebe folgen. Dieses Verständnis von Jesus kann jedem Menschen jene Zuversicht in seinem Leben geben, die er braucht, um es angstfrei leben zu können. Dabei wäre es ein Fehler zu glauben, dass Gott uns (nur) dann liebt, wenn es uns gut geht und alles nach unseren Wünschen und Vorstellungen läuft. Wir alle haben Lebenskrisen zu bestehen, haben Ängste - um uns selbst oder geliebte Menschen -, haben Momente, in denen wir uns "von Gott und der Welt" verlassen fühlen. Aber in eben solchen Situationen soll uns der Zuspruch von Gottes Liebe, die uns immer und überall umfängt, erreichen und uns den Trost geben, dass wir, was auch geschieht, von seiner Liebe getragen sind.
Liebe ist Beziehung und wo sie sich ereignet, "ist de Welt in Ordnung" - sei es bei Mann und Frau, in der Familie, unter Freunden oder auch Fremden gegenüber: wann immer wir unseren Mitmenschen mit Achtung, Respekt und Toleranz begegnen und uns mit unserer Zuwendung für sie und ihr Wohlergehen einsetzen, bleiben wir in Gott und Gott in uns, um mit den Worten unseres Textes zu sprechen.
Möge uns diese Gewissheit durch das neue Jahr tragen.
Das Vaterunser-Gebet hat in den letzten Jahrzehnten im religiösen Leben unserer Tempelgemeinde einen festen Platz eingenommen. Es schließt andere Gebets-Formulierungen nicht aus, vereint uns aber in seiner ökumenischen Fassung mit allen anderen christlichen Kirchen und ihren Mitgliedern im Land. Das kann bei einem gemischt-konfessionellen Publikum, zum Beispiel bei Trauerfeiern, von großer verbindender Wirkung sein.
Heißt das nun andererseits, dass wir wegen der verbindenden Wirkung am Wortlaut des Vaterunsers überhaupt nichts verändern dürfen? In den Anmerkungen von Landesbischof i.R. Christoph Kähler zur Luther-Bibel-Revision 2017 heißt es, dass Texte, die im Gedächtnis der Gemeinden fest verankert sind, mit Bedacht unverändert geblieben seien (gemeint ist wohl: auch in Fällen, wo für eine Änderung Gründe gegeben wären). Ich meine jedoch, dass wir aufgerufen sind, dort zu verändern, wo das Gesagte nicht das Geglaubte ist.
Um diese Frage ging es in jüngster Vergangenheit bei katholischen Christen in der Schweiz, die immer wieder über die Vaterunser-Bitte stolpern: »Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.« Mit dieser Formulierung, so finden sie es, unterstellt der Beter Gott, dass er mir Böses tun könnte, indem er mich in Versuchung führt. Das passt nicht zu ihrem Gottesbild und auch nicht zur Anrede Gottes als Vater.
Die katholischen Bischöfe der französischsprachigen Schweiz haben deshalb eine neue Übersetzung in die Liturgie eingeführt: Anstelle von »et ne nous soumets pas à la tentation« wird künftig gebetet: »et ne nous laisse pas entrer en tentation« (»und lass uns nicht in Versuchung geraten«). Ab dem ersten Advent wird in diesen Gemeinden das Vaterunser in dieser neuen Formulierung gebetet. Ich meine mich zu erinnern, dass wir in der Tempelgemeinde eine solche Abänderung früher verschiedentlich diskutiert hatten.
Der Kommentator (Peter Graf), der in »Publik-Forum« Nr. 22/2017 von der Änderung berichtet, meint, dass für den deutschen Sprachraum die Aufgabe einer Umformulierung noch dringlicher sei, denn das deutsche Vaterunser folge - als eines der wenigen weltweit - nicht der älteren griechischen, sondern der jüngeren lateinischen Übersetzung der Bibel, der Vulgata. Die deutsche Version »und führe uns nicht in Versuchung« übernehme wörtlich die Formulierung der Vulgata: »et ne nos inducas in tentationem« - »und führe uns nicht hinein in die Versuchung«. Und das könne im Vaterunser doch wohl nicht die Intention dieser Bitte sein, denn »Gott führt nicht in Versuchung!«
Andere Bibelausleger weisen auf die unterschiedliche Übersetzungs-Möglichkeit des griechischen Wortes für »Versuchung« = »peirasmós« hin, die Versuchen, Probieren, Untersuchen, Auf-die-Probe-Stellen bedeuten kann. So lese ich zum Beispiel in einer Predigt von Pfarrer und späteren Landesbischof Theo Sorg (in »Vaterunser«, 1973): »Gott stellt auf den Prüfstand. So wie ein Lehrer in der Schule den Kenntnisstand, die Mitarbeit und den Reifegrad seiner Schüler auf die Probe stellt, indem er ihnen in einer Klassenarbeit schwierige Aufgaben zur Lösung vorlegt und sie so einem Leistungstest unterzieht, so macht es Gott mit uns Menschen, um unseren Glauben und Gehorsam, unsere Liebe zu ihm und den anderen Menschen, unsere Geduld und Hoffnung auf die Probe zu stellen.«
Im Kapitel »Das Vaterunser« seines Buches »Leben, als ob es Gott gibt« (Piper, 1992) urteilt Heinz Zahrnt wie folgt: »Zu Unrecht hängt der Vaterunser-Bitte "Führe uns nicht in Versuchung" eine dunkle Schwere an. Sie will Menschen nicht in Angst versetzen und in die Enge treiben, sondern will sie gerade von der Angst befreien und das Leben weit machen. Deshalb sollen wir nicht darüber grübeln, ob Gott die Menschen versucht, sondern sollen uns sagen lassen, dass er sie in ihren Versuchungen bewahren will. Nur darum sollen wir Gott bitten.«
Der Kommentator Peter Graf meint: »Es geht heute darum, die theologischen Barrieren abzubauen, die die römische Spätantike über das Vaterunser gelegt hat. Es muss für heutige Menschen möglich werden, das erste Gebet der Christen so zu beten, dass sich ihnen die ursprüngliche Botschaft erschließt. Christen müssen weder die Rechtfertigungslehre von Paulus kennen noch das komplexe, nicht zuletzt aus dem Alten Testament gewachsene Gottesbild verinnerlicht haben, um das Vaterunser beten zu können. Dazu genügt das innere Vertrauen auf Gott als Vater aller Menschen, so wie es Jesus verkündet hat.«
Und er beschließt seinen Kommentar mit einem eigenen Übersetzungsvorschlag der Bitte von Matthäus 6,13: »Und überlasse uns nicht der Prüfung, sondern befreie uns von dem Übel.«
Anzumerken ist noch, dass sich Papst Franziskus inzwischen ebenfalls für eine Änderung der deutschen Übersetzung im Sinne der französischen Fassung ausgesprochen hat, was prompt heftige Reaktionen von (deutschen) Kritikern bis hin zu Rücktrittsforderungen ausgelöst hat.
Über dem 50. Jahrestag der Einweihung unseres Gemeindehauses, der uns im Jahr 2017 intensiv beschäftigt hat, ist fast ein anderes - für uns nicht ganz so naheliegendes - Geschichtsdatum untergegangen, nämlich der 200. Geburtstag von Friedrich Adolph Strauß, des Gründers des Jerusalemsvereins. Wegen verschiedener Berührungspunkte mit der Tempelgesellschaft ist es angezeigt, auch an ihn zu erinnern. Er wurde am 1. Juni 1817 in Elberfeld geboren und studierte Theologie in Berlin, wo er anschließend als Hilfsprediger am Berliner Dom ordiniert wurde. Bekannt wurde er vor allem durch eine ausgedehnte Reise in den vorderen Orient, die er als junger Stipendiat des Berliner Domstifts 1844 -1846 unternahm und anschließend in dem 1847 erschienenen Reisebericht »Sinai und Golgatha« verarbeitete. Das Buch wurde zu einem der populärsten Palästinareisebücher seiner Zeit; bis 1882 kamen elf Auflagen heraus. Strauß war aber nicht aus purer Neugier in den Orient gereist; er sollte im Auftrag von Christian Friedrich Spittler prüfen, ob eine Ansiedlung von Brüdern der Pilgermission St. Chrischona in Jerusalem erfolgreich durchgeführt werden könnte. Deshalb befasste er sich auf seiner Reise und in seinem Reisebericht umfassend mit den einheimischen christlichen Kirchen im Heiligen Land - namentlich den östlich-orthodoxen und der altorientalischen Kirchen - und den Chancen für eine Mission unter der dortigen Bevölkerung. So umschrieb er im Vorwort seines Reiseberichts den Anlass seiner Reise wie folgt: »Bei solcher Bedeutung des Morgenlandes drängt sich unwillkürlich die Frage entgegen, wie in demselben sich jetzt die religiösen Verhältnisse gestaltet haben, und was von unseren Glaubens-Genossen geschehe, damit das in den Schatten zurückgetretene oder ganz verlorene Wort Gottes an den Orten wieder verkündigt werde, an welchen es einst geoffenbart ist.«
Ganz in der Tradition der Pilger war Jerusalem, und dort der Besuch der Grabeskirche, auch für Strauß der geistliche Höhepunkt seiner Reise. Die tiefe Frömmigkeit der zahlreichen Pilger faszinierte ihn ebenso, wie ihn manche kultische Handlung befremdete. Die Reise durch den Orient bewies jedenfalls in seinen Augen, dass die von ihm aufgesuchten Schauplätze der »heiligen Geschichte (…) auf das Genaueste« den Angaben der Bibel entsprachen, dass sich Völker und Sitten der bereisten Gebiete seit damals kaum verändert hätten und dass der Zustand der Völker auf erschütternde Weise die Erfüllung prophetischer Weissagung bezeugten. Man sieht ähnlich wie bei Christoph Hoffmann, wie prägend zu jener Zeit die alttestamentarische Weissagung für die Vorstellung vom Schicksal des Heiligen Landes, aber auch für die von der Christenheit zu verfolgenden Ziele war. Für Strauß ebenso wie für zahlreiche andere evangelische Theologen des 19. Jahrhunderts bestand jedenfalls kein Zweifel daran, dass die westliche Christenheit solidarisch und tatkräftig daran arbeiten müsse, dem Evangelium in den einheimischen Kirchen wieder zur Geltung zu verhelfen. Noch heute bezeichnet die Satzung des Jerusalemsvereins, dessen Gründung am 21. Januar 1853 im Berliner Dom bekanntgegeben wurde, als Ziel: »die Vertretung der deutsch-evangelischen Kirche im Heiligen Lande durch Sammlungen von Beiträgen … befördern und für die innere und äußere Mission unter den Einheimischen jener Gebiete und den daselbst ansässigen und reisenden Deutschen in den bereits gegründeten und noch zu gründenden Pfarren, Schulen, Krankenanstalten und Hospizen thätig … sein.«
Zu den Mitbegründern des Jerusalemsvereins zählte übrigens auch Wilhelm Hoffmann, der Halbbruder von Christoph Hoffmann, seinerzeit Hof- und Domprediger in Berlin. Der Verein unterstützte anfangs christliche Einrichtungen in Jerusalem wie die von Kaiserswerther Diakonissen geleitete Mädchenschule Talitha Kumi oder das von Johann Ludwig Schneller gegründete Syrische Waisenhaus. Außerdem wurden die evangelischen Gemeinden bzw. Geistlichen in Alexandria, Beirut, Jerusalem und Kairo unterstützt. 1886 bildete sich in Haifa eine deutschsprachige evangelische Gemeinde, deren Mitglieder zuvor der Tempelgesellschaft angehört hatten (»Kirchler«); der Jerusalemsverein beteiligte sich an der Finanzierung von Schule, Kapelle, Pfarrhaus und Gemeindehaus sowie später mit Zuschüssen für Personal. Auch die 1889/1890 in Jaffa entstandene deutschsprachige evangelische Gemeinde, die sich ebenso wie die in Haifa der altpreußischen Landeskirche anschloss, wurde vom Jerusalemsverein finanziell unterstützt; der Bau der Immanuelkirche auf der deutschen Kolonie in Jaffa wurde vom Verein wesentlich finanziert. Schließlich wurden auch die Haifaner Kirchler bei der Gründung ihrer neuen Siedlung Waldheim (heute Alonei Abba) im Jahre 1907 durch den Verein maßgeblich unterstützt.
Friedrich Adolph Strauß hatte in den ersten Jahren nach der Gründung des Vereins große Schwierigkeiten, Unterstützer zu finden. Er wurde später Militärseelsorger und Hofprediger in Potsdam und ab 1859 außerordentlicher Professor an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität, der heutigen Humboldt-Universität. Bis zu seinem Tod am 16. April 1888 blieb er Vorsitzender des Jerusalemsvereins. Den Aufschwung des Vereins, der spätestens mit der Kaiserreise von 1898 im ganzen Reich bekannt wurde, erlebte er nicht mehr.
(unter Verwendung von Beiträgen aus »Im Lande der Bibel« 3/2017. Diese Ausgabe der Zeitschrift des Jerusalemsvereins ist schwerpunktmäßig Friedrich Adolph Strauß gewidmet)
Die Entscheidung von US-Präsident Trump, die amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, hat prompt in der arabischen Welt heftige, zum Teil gewaltsame Proteste ausgelöst. Auch westliche Regierungen riefen dazu auf, diesen Schritt rückgängig zu machen und auf den sensiblen, völkerrechtlich umstrittenen Status der Stadt Rücksicht zu nehmen. Der Welt wurde mit einem Schlag erneut bewusst, welchen Konfliktherd die von drei Weltreligionen als heilig betrachtete Stadt darstellt. Das war nicht immer so. In der Zeitschrift »Welt und Umwelt der Bibel« (Heft 4/2017) zeigt der uns bestens bekannte Historiker Dr. Jakob Eisler auf, dass es auch mal anders war. Hier eine Zusammenfassung seines Aufsatzes:
Mitte des 19. Jahrhunderts befanden sich Jerusalem und das Heilige Land in einem desolaten Zustand. Die von der Hohen Pforte zur Verwaltung eingesetzten Paschas waren mehr mit der Eintreibung von Steuern und Abgaben beschäftigt als mit der Weiterentwicklung des Gemeinwesens und dem Ausbau der Infrastruktur. Es gab im Land mehr unbewohnte als bewohnte Ortschaften. Doch ab etwa 1850 kamen immer mehr Europäer aus sozialen und karitativen Gründen ins Heilige Land und nach Jerusalem. Durch den Bau von Krankenstationen und Krankenhäusern ging die Kindersterblichkeit massiv zurück, so dass sich die Bevölkerungszahl innerhalb kurzer Zeit verdoppelte. Ein regelrechter Entwicklungsschub der Stadt war die Folge, was die ansässige Bevölkerung - wie Jakob Eisler anhand zeitgenössischer Quellen belegt sieht - anerkannte und begrüßte. Wenn es auch hin und wieder Spannungen, Neid und Misstrauen zwischen Arabern, Türken, Juden, Christlich-Orthodoxen, Lateinern, Armeniern und protestantischen Missionaren, religiösen Autoritäten, europäischen Konsuln und osmanischen Beamten gab, so gelang doch den Akteuren gemeinsam ein beeindruckender gemeinsamer Aufbau der Stadt. Dabei spielten Einwanderer aus Deutschland, insbesondere Württemberg, und ein Schweizer eine maßgebliche Rolle.
1841 wurde das englisch-preußische Bistum Jerusalem gegründet. Zahlreiche Missionsgesellschaften aus Amerika, England und Deutschland strömten ins Land. Die deutschsprachigen evangelischen Gesellschaften waren von Beginn an auch im karitativen und im Wirtschaftssektor tätig. Hervorzuheben ist insbesondere die Basler Pilgermission St. Chrischona, die einen Großteil ihrer Aktivitäten durch die Arbeit ihrer »Handwerker-Missionare« und andere Geschäftstätigkeiten, darunter auch Grundstücksgeschäfte sowie Im- und Export, finanzierte. Zwar hatte die Pilgermission lediglich drei Dutzend Missionare nach Jerusalem entsandt; deren Wirkung auf das Zusammenleben der Religionen und Kulturen in der Stadt war jedoch beachtlich. Zunächst ist in diesem Zusammenhang Christian Friedrich Spittler aus Wimsheim bei Pforzheim (1782-1867) zu erwähnen, der im Laufe seiner Tätigkeit für die Deutsche Christentumsgesellschaft in Basel zahlreiche Sozial- und Missionswerke gründete, darunter 1840 eben auch die Pilgermission. 1846 sah er die Zeit für gekommen, auch ein »Brüderhaus« in Jerusalem zu realisieren, »damit die armen Leute dort an einem lebendigen Beispiel mit Augen sehen, wie wahre Christen untereinander leben, beten und arbeiten, ihre Umgebung mit Liebe behandeln und mit Rat und Tat ihnen zu helfen suchen.« Drei weitere, für die Entwicklung des Landes bedeutende Persönlichkeiten wurden im Auftrag Spittlers vor Ort aktiv: der gelernte Mechaniker Conrad Schick aus Bitz bei Ebingen (1822-1901), der Kaufmann Johannes Frutiger aus Basel (1836-1899) sowie der frühere Lehrer Johann Ludwig Schneller aus Erpfingen (1820-1896). Sie waren weniger von kolonialem Denken geprägt, sondern handelten aus sozialen Beweggründen. Zumindest für Schick und Frutiger stand auch die Missionierung nicht im Vordergrund. Jakob Eisler meint hierzu: «Das Heilige Land war ein ganz besonderes Gebiet und Jerusalem selbst ein geradezu exterritorialer Ort im Osmanischen Reich. Missionierungen vollzogen sich hier eher unter den christlichen Konfessionen, was natürlich für Spannungen sorgte.«
Schicks Karriere begann, nachdem er das Jerusalemer »Brüderhaus« 1851 verließ und in die Dienste der »Londoner Judenmissionsgesellschaft« als Leiter des »Industriehauses« eintrat. Als Bauinspektor initiierte er den Bau zahlreicher Gebäude in Jerusalem, leitete archäologische Ausgrabungen und trug so zur Erforschung des Landes bei. Da es anfänglich noch keine städtische Planungsbehörde gab, realisierte er das, was in Abstimmung mit der Bevölkerung vor Ort möglich war. Er stieß dabei in dem Maße auf zunehmende Akzeptanz, wie erkennbar wurde, dass die Projekte allen dienten. So ließ er als Grundlage für den Bau der Kanalisation die Jerusalemer Altstadt vermessen und daraus mehrere Modelle anfertigen, die noch heute zu besichtigen sind. Er verfasste hunderte Artikel über Palästina und fertigte Pläne für viele Gebäude und ganze Stadtviertel außerhalb der Altstadt an, darunter für das jüdische Wohnviertel Mea She’arim. Sein hohes Ansehen in der gesamten Bevölkerung beschreibt der ebenfalls aus Württemberg stammende Architekt und Templer Theodor Sandel anlässlich der Beisetzung: »Am Christfest 1901 wurde er unter großer Anteilnahme nicht allein von Deutschen und Engländern, sondern auch von Juden und Türken zu Grabe getragen.« In einer jüdischen Lokalzeitung erschien sogar ein ganzseitiger Nachruf.
Johannes Frutiger, der von Spittler 1858 nach Jerusalem geschickt worden war, um im Handelshaus Spittlers zu arbeiten, wurde zum bedeutendsten Bankier Palästinas im 19. Jahrhundert. Nach der Auflösung des Handelshauses 1873 gründete er sein eigenes Bankhaus; damit initiierte und finanzierte er u.a. den Bau der ersten Eisenbahnlinie des Landes zwischen Jaffa und Jerusalem, die 1892 eingeweiht wurde. Zudem unterstützte er zahlreiche christliche und jüdische karitative Werke und beteiligte sich insbesondere am Bau erschwinglicher Wohnungen und ganzer Wohnviertel außerhalb der Altstadt für die wachsende jüdische Bevölkerung im Land.
Johann Ludwig Schneller, der 1854 an das Jerusalemer »Brüderhaus« gekommen war, gründete nach dem Ausbruch eines Bürgerkriegs im Libanon 1860 im Auftrag Spittlers ein Waisenhaus, um Kriegswaisen aufzunehmen. 1888 richtete er zusammen mit seinem Sohn Theodor eine höhere Schule ein, an der Lehrer und Schüler für akademische Berufe ausgebildet wurden. Im Unterschied zu den üblichen Schulen des Landes wurden dort Mädchen und Jungen unterrichtet; mehr als die Hälfte der Lehrkräfte kam aus der einheimischen Bevölkerung. Wer nicht die Oberschule besuchen konnte, wurde in einem Handwerk ausgebildet. Die Schneller’sche Anstalt verfügte über etliche Lehrwerkstätten: eine Schusterei, Schneiderei, Drechslerei, Tischlerei, Schlosserei, Töpferei, Ziegelei, Buchbinderei und eine Buchdruckerei. Anfang des 20. Jahrhunderts umfasste die Einrichtung eine größere Fläche als die Altstadt von Jerusalem und war zur größten Erziehungsanstalt des Osmanischen Reiches geworden. Nach dem Tod Johann Ludwig Schnellers (1896) erweiterte sein Sohn die Anstalt um eine Blindenanstalt. Parallel zu dieser Entwicklung baute auch die inzwischen stark angewachsene jüdische Gemeinde in Jerusalem eigene Schulen und Krankenhäuser, um nicht allein auf christliche Institutionen angewiesen zu sein. Bis 1914 zog auch das Osmanische Reich nach und baute etwa 100 Schulen, immer noch eine relativ geringe Zahl im Vergleich zu den etwa 500 Schulen europäischer Träger. So ergab sich in der Stadt ein regelrechter Wettbewerb um die meisten und besten Bildungs- und Sozialeinrichtungen, jedoch nicht unter kolonialen Großmächten, sondern unter sozial engagierten Privatleuten und Organisationen.
Zusammenfassend stellt Jakob Eisler fest, dass Spittlers »Sendlinge« zum besseren Leben der Jerusalemer Bevölkerung und zum guten Miteinander aller Religions- und Interessengruppen beigetragen hätten. Ihre Werke seien heute noch im Stadtbild erkennbar; ihr Ansehen sei in Zeitungsberichten und Nachrufen sowie die Teilnahme aller Religionen bei Trauerfeiern eindrucksvoll dokumentiert. Ein gemeinsames Interesse habe Jerusalem für eine kurze Zeit zu einer interkonfessionellen Stadt gemacht, in der Konflikte überwunden worden seien.
In der Dezember-Warte haben wir über einen Kontakt mit dem heutigen Eigentümer des Hauses in Jerusalem berichtet, das der Templer Christian Jakob Messerle (1851-1941) an der Betlehem-Straße in der deutschen Kolonie gebaut hatte. Nun hatten wir Ende November im Rahmen unserer Israelreise auch Gelegenheit, Alon Eran und seine Frau kennenzulernen, die unserer kleinen Gruppe voller Stolz die liebevollen Restaurierungsarbeiten zeigten, die sie an dem alten Gebäude vorgenommen hatten. So hatten sie beispielsweise die alten Türen nach Möglichkeit erhalten und wieder aufarbeiten lassen; auch die Fensterläden wurden im alten Stil erneuert. Und im Eingangsbereich des alten Templerhauses, das heute als geschmackvoll eingerichtetes Bed & Breakfast betrieben wird, hat Alon Eran eine »Erinnerungswand« geschaffen, die auf der linken Seite die Geschichte seiner eigenen Familie - bereits seine Großmutter zog in den fünfziger Jahren in das Haus ein - , auf der rechten Seite die Geschichte der Familie Messerle zeigt. Aus unserer Sicht eine sehr anrührende Art, die Geschichte eines Hauses über Generationen, Völker und Kulturen hinweg sichtbar zu machen und Verbundenheit zu demonstrieren.
Der »Templer Inn« liegt übrigens direkt neben dem neuen Hotel »Orient« der Isrotel-Kette, das im ehemaligen Schulhof errichtet wurde, wobei das Schulgebäude und das Haus des Tempelvorstehers erhalten blieben, jedoch umfassend restauriert und teilweise erweitert wurden. Erhalten blieb zum Glück auch der ehemalige Saal, der noch der armenischen Kirche als Gotteshaus dient, aber zur Zeit unseres Besuches nicht zugänglich war. Von außen machte das Gebäude aber bereits einen frisch renovierten Eindruck; vor allem das Dach dürfte nun endlich dicht sein. Der zehnstöckige 5-Sterne-Hotelkomplex bietet von seiner Dachterrasse (mit Swimmingpool!) einen atemberaubenden Blick auf die Silhouette der Stadt. Aber auch in diesem modernen Top-Hotel findet man »Spuren des Tempels«: Im ersten Untergeschoss des Gebäudes, das sich an seiner Nordseite über vier Geschosse zu einem tiefer liegenden Atriumhof öffnet, wurde ein regelrechtes kleines Museum mit Informationstafeln über die Templergeschichte und Vitrinen mit Exponaten (z.B. Fliesen aus dem Schulhaus) eingerichtet.