Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 173/5 - Mai 2017

 

 

Das religiöse Umfeld der Tempelgesellschaft - Mark Herrmann

Nahtod-Erfahrungen und christlicher Glaube - Teil 2 - Wolfram Zoller

Der alte und der neue Adam - Jörg Klingbeil

Gott lacht kräftig, auch über uns - Thomas Seiterich

Famagusta - Klaus Eppinger

Das religiöse Umfeld der Tempelgesellschaft

Leitwort des Tempelvorstehers

Wie meine Vorgänger als Tempelvorsteher es getan haben, so möchte auch ich die Ziele und Ideale der Tempelgesellschaft fördern und mich für die Einheit der beiden Gebiete einsetzen. Trotz geographischer Trennung, sprachlicher und anderer Unterschiede führen wir unsere Ar­beit bezüglich unserer gemeinsamen Bestrebungen (siehe  www.templesociety.org.au und www.tempelgesellschaft.de) partnerschaftlich und harmonisch fort.

Allerdings vermute ich, dass das religiöse Umfeld in unseren beiden Ländern unterschied­lich ist. Australien ist ein säkularer Staat. Aber weder hat sich die Mehrheit seiner Bevölkerung total vom Glauben abgewendet - auch, wenn bei jedem Zensus die Anzahl derer, die das tun, zunimmt -, noch ist Australien ein Staat, der überhaupt nichts mit Religion zu tun hat. Aber sinkende Zahlen von Kirchenbesuchern, alternde Gemeinden und eine allgemeine Gleichgül­tigkeit in Glaubensdingen sind verbreitet. Ehemalige Nachbarn aus meiner Jugendzeit gehen nun auf die Achtzig zu und sind nach wie vor treue Mitglieder ihrer Uniting-Church-Gemeinde, aber ihre Freunde und Zeitgenossen (frühere Kirchgänger eingeschlossen) verstehen nicht, warum sie sich damit abgeben.

Auch in den Gottesdiensten der TG sitzen viele mit grauen Haaren (oder ganz ohne), für die wir uns überlegen müssen, was wir vermitteln und wie wir das tun. Zusammen mit unseren Ältesten sehe ich in dem, was die TG vertritt, viel Positives, das wert ist vermittelt zu werden: ein Leben zu führen, das sich ausrichtet an dem Kernstück der Verkündigung Jesu - Gott zu lieben und den Nächsten wie sich selbst. Diese Haltung drückt sich in der Gemeinschaft aus.

Die gemeinsame Erklärung beider TG-Gebiete »Glaube und Selbstverständnis der Temp­ler« (veröffentlicht 2000) verkörpert in prägnanter und leicht zugänglicher Form das Wesent­liche unserer Identität, unseres Glaubens und die praktischen Anliegen in der heutigen Zeit.

John Shelby Spong, ein ehemaliger Bischof der Episkopalkirche der Vereinigten Staaten von Amerika und liberaler christlicher Theologe, religiöser Kommentator und Autor zahlreicher Bücher, bezieht sich auf Gott als den "Urgrund allen Seins" (Paul Tillich) und stellte erneut in einer Fernsehsendung den Grund seines Glaubens dar:

»Ich glaube, dass es die Aufgabe der Kirchen ist, den Menschen zu einem erfüllten Leben zu verhelfen, überschwänglich zu lieben, alles das zu sein, was sie sein können, und ihnen Gott und Christus dabei nahezubringen. Ich denke, dass das eine Glaubenstradition ist, die die heutige Generation anspricht und die eine Tür öffnen wird zu einer Reformation und einem Wiedererwachen des christlichen Glaubens. Das ist meine Hoffnung, dafür bete ich.«

Und ich hoffe, dass die Versuche der Tempelgesellschaft, Jesu Lehre zu leben, dazu bei­tragen mögen.

Wir ermutigen einen jeden Einzelnen zu seinem spirituellen Weg, durch sein Gewissen geleitet, so dass wir alle uns als ‚Bausteine unserer Gemeinde‘ (des geistigen Tempels) an jenem »Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, dann wird euch alles andere zufallen« (Matthäus 6,33) orientieren können.

Als eine unabhängige Gemeinde ohne festgelegte Glaubenssätze lassen wir den freien Ausdruck des Glaubens zu und ermutigen unsere Mitglieder im Rahmen der (christlichen) Tempel-Ideale sich selber damit auseinanderzusetzen. Wir haben den Eindruck, dass das Progressive Christian Network (Gruppen liberaler Christen) in Australien diese Ansicht zu­nehmend teilt.

Auch wenn ich Deutschland schon besucht habe, habe ich dort nie dauerhaft gelebt. Ich habe den Eindruck, dass dort die Religion ernster genommen wird und in der Gesellschaft eine bedeutendere Stellung hat als das hier der Fall ist. Die Bürger bezahlen katholische und evan­gelische Kirchensteuer, mit der die Kirchen sich finanzieren, ebenso wie durch Staatsleis­tungen und sonstige Subventionen. In Australien haben religiöse Körperschaften gewisse Steuererleichterungen, erhalten aber keinerlei staatliche Mittel.

In Deutschland können sich die Leute gegen das Zahlen der Kirchensteuer entscheiden, müssen dann aber offiziell aus der Kirche austreten. Wenn man in Australien nach seiner Religionszugehörigkeit gefragt wird, wird man - der allgemeinen Gleichgültigkeit entsprechend - oft die christliche Religion seiner Jugend oder seiner Eltern nennen, selbst wenn man sie nicht mehr ausübt. Da eine solche Antwort weder Verpflichtung noch Verbindlichkeit verlangt - warum also die Kirchenbande kappen? Andere schätzen die Verbindung zu ihrem kirchlichen Hintergrund und wollen ihn nicht aufgeben, selbst wenn die Lehren ihrer Kirche sie heute befremden.

Mir fehlt die Erfahrung, um über Religion in Deutschland schreiben zu können, daher werde ich mich in einem folgenden Beitrag stattdessen mit der sich wandelnden religiösen Stimmung in Australien befassen.

Mark Herrmann

Nahtod-Erfahrungen und christlicher Glaube - Teil 2

Grundsätzliche Konsequenzen für Denken und Glauben

Entspricht van Lommels natur- und medizinwissenschaftlich erarbeiteter Befund tatsächlich der Realität - und ich kann dafür keinen gewichtigen Gegengrund erkennen - , dann wird das erhebliche Folgen für unser Denken und Glauben haben müssen. Denn dann ist Bewusstsein ein eigener »Raum«, der aber die ganze materielle Welt einschließt wie eine höhere Dimen­sion, den Stein genauso wie den ihn untersuchenden Forscher. Dann ist das Bewusstsein nicht mehr - wie bisher geglaubt - ein Produkt des Gehirns als materieller Ursache, sondern das Gehirn ist umgekehrt Funktionsorgan jener umfassenden Bewusstseinssphäre. Damit aber haben auch jene Inhalte, die in den Nahtoderfahrungen (NTE) in vielfacher Überein­stimmung erfahren werden (unendliche Liebe und kreative Intelligenz), eine transzendent fundierte ultimative Realität und lassen sich nicht mehr nur als bloße Ausdünstungen unseres Gehirns denunzieren.

Das haben freilich Denker in früheren Zeiten schon geahnt, gedacht und gelehrt, aber es war eben nicht naturwissenschaftlich beweisbar und somit waren es eben im Urteil der Materialisten nur idealistische und spiritualistische Luftschlösser - für sie ein Rückfall ins finstere Mittelalter oder noch archaischere Zeiten, in denen man von der Realität einer metaphysischen Hinterwelt als einer Selbstverständlichkeit ausging. Aber nun hatte uns doch endlich die Aufklärung von diesem knechtenden Spuk befreit, und die ganze jetzt aufblühende Naturwissenschaft und Technik hat auf dieser Basis einen rasanten Siegeszug angetreten, der jetzt endgültig die Erde zum Herrschaftsbereich des homo faber machte. Was früher metaphysischen Ursachen zugeschrieben und als göttliches Geheimnis verehrt wurde, wurde jetzt entzaubert und als rein diesseitige Phänomene entweder in den menschlichen Herr­schaftsbereich eingegliedert oder aber für immer als Müll endgültig entsorgt. Dass die Physik vor hundert Jahren schon die Relativität dieser materiellen Wirklichkeit erkannt hatte, weil sie ihrerseits auf eine bis heute unbegriffene physikalische »Hinterwelt« gestoßen war, in der es nicht-kausale Verschränkung von Elementarteilchen gab, das konnte man als Spezialgebiet der Physik des subatomaren Bereichs ruhig unbeachtet auf der Seite liegen lassen, berührte es doch nicht unsere reale alltägliche Existenz.

Selbst der evangelischen Theologie im vergangenen Jahrhundert wurde alles »Hinterwelt­liche« befremdlich und verdächtig, und sie reagierte darauf in ganz eigener theologischer Art und Weise: Je mehr außerkirchliche Esoterik von jenen Zwischenwelten zu erzählen wusste, um so mehr verbannte man das Metaphysische in die reine, vom Menschen prinzipiell unerreichbare absolute Transzendenz. Kenntnis und Verbindung mit ihr gab es nur noch auf einer Einbahnstraße, nämlich wenn der absolute Gott sich seinerseits kundtat und sich den Menschen offenbarte. Nur der Weg »senkrecht von oben« nach unten konnte gelten analog zu einem Blitzschlag. Eine »Zwischenwelt«, die zwischen Gott und Mensch vermitteln könnte, konnte und durfte es nicht geben, und religiöse Erfahrung, mystische Entrückungen, die Vorstellung von einer unsterblichen Seele, parapsychische Phänomene sowie die ganze Welt der »heidnischen« Religionen, das alles konnte und durfte für eine Gottesbeziehung keinerlei Bedeutung haben, im Gegenteil: es galt vielmehr als Ausdruck sündiger Hybris, die sich auf eigene Faust den Weg zu Gott bahnen oder gar gleich den Thron Gottes usurpieren wollte.

Diese Entgötterung alles Natürlichen hatte freilich einen hohen Preis. Denn der Anspruch, die einzig gültige Selbstoffenbarung Gottes erfahren zu haben, wurde und wird von verschie­denen Seiten erhoben, vor allem - abgesehen von unzähligen Sektierern - von den drei sog. abrahamitischen Religionen Judentum (Thora), Christentum (Jesus) und Islam (Koran). Wel­che also ist die wahre Gottesoffenbarung? Zur Beantwortung dieser Frage hat ein Außen­stehender dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder er weist diesen Anspruch der endgültigen Wahrheit überhaupt zurück und erklärt, dass es eine endgültige Wahrheit gar nicht geben kann. Oder er versucht, durch einen Vergleich dieser »Offenbarungen« diejenige zu ent­decken, die ihm am meisten einleuchtet. Was aber ist das Kriterium dafür? Darüber haben sich Theologen seit je gestritten, ohne dass sie je über Lessing hinausgekommen wären, der dieses Kriterium in der praktisch gelebten Menschlichkeit sah. Wenn aber die Nahtoder­fahrungen keine Illusionen sind, ergibt sich aus ihnen eine klare Antwort, von der Lessing gar nicht so weit entfernt war: In großer Übereinstimmung wird ja in dieser Erfahrung trotz verschiedenster Kulturen und Religionen die letztgültige Realität nicht nur als überhelles Licht, sondern gleichzeitig als allumfassende Liebe beschrieben, die erlösenden Charakter hat. Und wenn wir darin das Markenzeichen jenes »endlosen Bewusstseins« sehen dürften, dann berührt das unser Menschsein bis hinein in unsere alltägliche Existenz in elementarer Weise und müsste auch Konsequenzen für unsere Glaubensvorstellungen nach sich ziehen.

Mögliche theologisch-dogmatische Konsequenzen der NTE

Der Kern des christlichen Glaubens, also des Evangeliums als einer frohen Botschaft, allerdings bleibt unberührt, erfährt vielmehr - wie eben gesagt - eine ultimative Bestätigung, dass nämlich die Liebe, das göttliche Ja zur Welt und zum Menschen die letzte hintergründige Realität ist - gemäß 1.Johannes 4,16: »Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm«. Andererseits aber gibt es viele Vorstellungen des traditionellen Glaubens, die neu bedacht werden müssen. Pim van Lommel hat sich ja, wie wir sahen, konsequent nur auf das naturwissenschaftlich Aussagbare beschränkt und so alle daraus möglichen Folgerungen den Philosophen, Theologen und Esoterikern überlassen. Für uns ergibt sich damit die Pflicht, jene Dimension des »endlosen Bewusstseins« theologisch fachgerecht und verantwortungsvoll zu interpretieren. Das soll im Folgenden an einigen Punk­ten vorsichtig versucht werden.

Viele Nahtod-Erfahrene haben die Begegnung mit jenem überirdischen liebenden Licht als einen das ganze weitere Leben prägenden Wendepunkt erlebt. Diese Erfahrung muss nicht als »Gottesoffenbarung« interpretiert werden, weil Vielen die traditionellen theologischen Vorstellungen und Begriffe fremd geworden sind. Aber es wurde ihnen jedenfalls eine übergeordnete Dimension klar, in die unser tägliches Leben eingebettet ist. Wer aber in einem religiösen Glauben zuhause ist, dem wird dieses Erleben zu einer Begegnung mit der Gotteswelt. Und eben von dieser Wende-Erfahrung her fällt nun auch auf die Gestalt Jesu ein charakteristisches Licht.

Der älteste und ursprünglichste Evangelist, Markus, berichtet ja, dass Jesus bei der Taufe durch Johannes den Täufer den Himmel offen und den Geist auf sich herab kommen gesehen und dazu eine Stimme vernommen habe, die ihn zum »Sohn«, d.h. mit Worten von Psalm 2,7 zum königlichen Bevollmächtigten, zum Träger von Wesen und Willen Gottes berufen habe. Damit war zugleich sein Lebensauftrag ausgesprochen, der sich von dem des Täufers so charakteristisch unterschied. Er, der in diesem Moment offenbar jene grenzenlose Liebe erfahren hatte, die mit dem Himmelslicht verbunden ist, nannte Gott seither nur noch Vater und bemühte sich, dessen Liebe den Menschen in Wort und Tat zu verkörpern. Die Gerichts­androhung des Täufers trat weitgehend in den Hintergrund. Die Widerstände, die Jesus mit diesem Evangelium und seiner Praxis von den Religionsverantwortlichen Israels erfuhr, beantwortete er mit streitbarer Gelassenheit bis zu seinem grausamen Ende am Kreuz. Denn jenen ging es primär um die wörtliche Erfüllung der Thora und dabei kam deren Sinn, die Liebe, oft unter die Räder, während sich Jesus genau umgekehrt verhielt, und darin mussten sie einen Verräter am Willen Gottes sehen. Man kann Jesu erstaunliche Hartnäckigkeit in seiner Mission als wahnhafte Geistesstörung interpretieren - Albert Schweitzer hat seine medizinische Doktorarbeit über die psychiatrische Beurteilung Jesu geschrieben! - , aber sie lässt sich mühelos durch jenes Berufungserlebnis erklären. Denn auch Nahtod-Erfahrene berichten, dass ihnen jene inneren Erlebnisse zeitlebens realer waren als die Alltags­wirklichkeit. So hat Jesus eben versucht, die erfahrene Liebe direkt in den Alltag zu übertragen - »Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden« - , was sein Wirken freilich oberflächlich gesehen so realitäts- und weltfern erscheinen lässt.

Erweist sich Jesu Gottessohnschaft aber als Frucht einer subjektiven Transzendenzerfah­rung, dann erscheint sie von außen betrachtet als eine unter anderen derartigen Erfahrungen - eine Relativierung, mit der sich unsere Dogmatik schwer tun muss. Damit aber stehen wir genau vor jenem Problem, das Lessing so umgetrieben hatte. Absolut gültige Offenbarung gibt es eben nur im subjektiven Raum der Gläubigen; objektiv gibt es aber nur verschiedene Offen­barungserfahrungen, und auch diese nur geprägt vom jeweiligen zeitgebundenen kulturellen Umfeld. Heute im Zeitalter der Globalisierung und der Völkervermischung präsentiert sich diese Vielfalt als ein Markt der religiösen Möglichkeiten und Angebote, den wir nicht nur akzeptieren, sondern kreativ bewältigen müssen. Dabei werden wir wohl den Begriff »Offenbarung« neu bedenken, allzu radikale Absolutheitsansprüche verabschieden und jene Absolutheit neu denken müssen.

Mit dem Begriff der Offenbarung hängt unsere ganze Gottesvorstellung eng zusammen. Jenes »endlose, nicht-lokale Bewusstsein« ist ja, wie die Erfahrungsberichte zeigen, nicht nur durch eine umfassende Liebe geprägt, sondern zugleich durch eine endlos kreative Intelligenz. »Kosmisches Bewusstsein« haben das die Esoteriker genannt. Solche absolute Liebe und Intelligenz sind klassische Merkmale des christlichen Gottesbegriffs. Wir haben herkömmli­cherweise kein Problem, diese Aussagen mit Gottes Absolutheit zu verknüpfen.

Will man aber denkerisch Gott, wie es unsere Theologen wollten, als reine transzendente Absolutheit fassen, dann bleibt logisch nur der Rückgang auf die Ur-Einheit, das All-Eine, das alles Unterschiedene noch unentfaltet in sich trägt und deshalb auch als reine Leere bezeichnet wird, die gleichzeitig die reine, aber noch verborgene Fülle ist, über die sich aber rein gar nichts sagen lässt. So lehrt es der Buddhismus, weshalb Buddha jede Aussage darüber konsequent abgelehnt hat, und die Mystiker haben es eben darum als das göttliche »Nichts« bezeichnet. Und in diesem Sinn sagt auch der große Philosoph Ludwig Wittgenstein: «Wovon man nicht reden kann, davon muss man schweigen«.

Das müsste auch die christliche Theologie bedenken. In dem Augenblick, wo wir Gott Ei­genschaften zuschreiben wie »Intelligenz« oder »Liebe«, haben wir seine Absolutheit ver­lassen, und ebenso sprengen die Begriffe »Schöpfer« oder »Offenbarer« schon die absolute Ur-Einheit. Der Evangelist Johannes hat das klar erkannt, weshalb er an den »Anfang« das Wort, den Logos setzt, eben jene Größe, in der die Ur-Einheit sich - logisch nicht begreifbar - entäußert in der Fülle alles »Geschaffenen«. »Gott« wird uns deshalb immer nur konkret »im Anfang«, also im Geschaffenen als Licht und Leben der Menschen (Joh.1,4) und wegen unserer Blindheit in seiner Inkarnation in der menschlichen Wirklichkeit Jesu. Die Absolutheit der Transzendenz als solche - der verborgene Gott, der deus absconditus Luthers - kann uns nichts angehen. Wenn wir von Gott etwas aussagen können, dann nur von dem in der Immanenz Transzendenten, dem weltweit wirkenden Logos. Die einzige Bedeutung jener Absolutheit kann nur darin bestehen, dass sie den Manifestationen des göttlichen Logos für den Glauben unbedingte Geltung verleiht, die aber nie objektiv eindeutig und beweisbar ist. Auf jeden Fall aber gewinnt das Metaphysische im Bereich jenes »endlosen Bewusstseins« für den Glaubenden Charakter eines eigenen Bereichs zwischen dem unfassbaren Absoluten und unserer irdischen Realität - für unsere »moderne« Theologie freilich eine peinliche Verlegen­heit!

Aber eben dieser Zwischenbereich war beispielsweise für die frühchristliche Mystik oder die jüdische Kabbala ebenso wie für den mahayanischen Buddhismus seit je selbstverständlich. Und analog dazu hat in heutiger Zeit der große Philosoph Alfred North Whitehead, der angelsächsische »Kant« des 20. Jahrhunderts, deshalb den Mut gehabt, den Gott, der für den Menschen Bedeutung hat, seinsmäßig zu unterscheiden von dem absoluten Grund, der für uns keine Bedeutung haben kann. So gewinnt jenes »endlose Bewusstsein« theologisch eine Bedeutung, über die wir neu nachdenken müssen, zu allererst in Hinsicht auf unsere Art der Vorstellung Gottes und unserer Beziehung zu ihm. Auf das Gebet z.B. wird ein neues Licht fallen, besonders auf die Fürbitte. Vor allem aber gewinnt die Schöpfung als Tätigkeitsbereich des göttlichen Logos wieder ihr religöses Gewicht zurück, was die altklassische Theologie der Vergangenheit immer gewusst hat.

Auch die schon angesprochene Frage, ob der Mensch eine »Seele« hat, muss neu beant­wortet werden. Denn wenn wir an jenem »endlosen Bewusstsein« Anteil haben, dann besitzen wir eben tatsächlich so etwas wie jene von unserer Theologie so eifrig bestrittene »unsterb­liche Seele«, wie immer sie auch zu verstehen ist. Die weiteren theologischen Konsequenzen (für Anthropologie und Eschatologie) daraus zu ziehen bleibt dann wiederum Aufgabe unserer theologischen Vernunft, jedenfalls werden wir Begriffe wie Sünde/Erbsünde und Erlösung neu überdenken müssen.

Und ebenso damit hängt das zusammen, was Bibel und Kirchenlehre mit dem Wort »Aufer­stehung« sagen, primär »Auferstehung« Jesu, dann aber ebenso unser aller »Auferstehung«. Ich setze das Wort in Anführungszeichen, denn in diesem Begriff spiegelt sich ja die ganze israelitische Religionsgeschichte von der anfänglichen Anschauung des Schicksals der Verstorbenen in der Unterwelt, der Scheol, das aber nicht als »ewiges Leben« bezeichnet werden kann (Psalm 30,10), bis hin zu der später aus Persien eingeströmten Hoffnung auf ein zukünftiges Gottesreich mit »ewigem Leben«. Aus diesem Gegensatz rettete sich die israelitische Theologie auf dem Boden ihrer Ganztod-Auffassung (Prediger 3,19f.!) nämlich dadurch, dass Gottes Schöpfergeist diese radikal Toten schöpferisch wieder belebt und zu neuem Dasein erweckt. Aber diese Auffassung wird von Jesus und später von weiteren Stellen des NT nicht unbedingt geteilt (s. Markus 2,26f.; Lukas 23,43). Deshalb brauchen wir uns auch nicht an jene zeitgebundene, so problematische »Auferstehungs«-Vorstellung zu halten. Was am Begriff der Auferstehung wesentlich ist, das ist Jesu unzerstörbare Lebendigkeit, die begreiflich wird auf dem Grund jenes »endlosen Bewusstseins«, dessen Urgrund das göttliche Ur-Wort ist. An dieser todüberwindenden Lebendigkeit haben auch wir Teil. Das »Wie?« aber wird immer ein Geheimnis bleiben, das wir glaubend-denkend umkreisen.

Auch die Lehre vom »letzten Gericht« taucht durch die NTE in ein neues Licht: Denn die vielfach erlebte Lebensrückschau ist ja in der Regel mit einer kritischen und doch liebenden Beurteilung verbunden, die ganz anders als gewohnt ausfallen kann und für viele zum Wende­punkt in ein neues Leben in ethischer Verantwortlichkeit geworden ist. Alle Gerichtsver­kündigung als Angstmacherei kann so ein Ende finden, was gewiss im ursprünglichen Sinn Jesu gewesen ist; dafür wird unsere humane Verantwortlichkeit füreinander umso gewichtiger. Allzu gerne wird dagegen von theologischer Seite darauf hingewiesen, dass manche NTE negativer Art sind, Erfahrungen von »Höllen«. Über deren Bedeutung lässt sich viel speku­lieren, Fakt ist aber, dass sich in der Regel in den NTE eine Bewegung vom Dunkel ins Licht vollzieht (Tunnel!), wobei freilich das Dunkel von sehr unterschiedlicher Dauer sein kann. Doch wenn dieses Licht eine unendliche Liebe ausstrahlt, dann wird diese ihre Zugkraft auch im tiefsten Dunkel wirksam erweisen.

Ich muss zum Schluss kommen: Das alles konnten jetzt nur wenige bescheidene Andeu­tungen und Gedankenanstöße sein - es gäbe noch unendlich vieles mehr zu bedenken. Aber wenigstens die Notwendigkeit dazu sollte fürs Erste herausgestellt werden. Freilich, schon allein das bisher Gesagte ist vielleicht für manche unter uns, ganz gewiss aber für die traditionelle Theologie und Kirche eine äußerst schwer verdauliche Kost. Ich halte sie aber für unverzichtbar um der Wahrhaftigkeit willen, die uns immer wieder zum Umdenken heraus­fordert, denn eben das ist der Preis von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, um die es uns im Christentum doch nachdrücklich gehen sollte. Und allen Widerständen zum Trotz: Erwiesene Wahrheit kann auf die Dauer nicht verdrängt, verleugnet oder totgeschwiegen werden, sie wird sich durchsetzen, wenn auch zunächst gegen heftige Widerstände und in einem harten und langen Ringen der Anschauungen.

Wolfram Zoller, Vortrag beim Regionaltreffen am 19. November 2016,
abgedruckt in Nr. 2-2017 der Zeitschrift des Bundes für Freies Christentum

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Der alte und der neue Adam

Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben (Römer 5,12).

Dieser Satz aus dem Römerbrief des Apostels Paulus gilt als eine der Schlüsselstellen zur dogmatischen Rechtfertigung der Erbsünde, die durch (den alten) Adam in die Welt gekom­men und erst durch den (Opfer-)Tod des (neuen Adam) Jesus für alle Menschen getilgt worden sei. Dabei kommen der Sündenfall und die Erbsünde den Evangelien zufolge bei Jesus gar nicht vor. Und es ist auch nur schwer zu begreifen, dass Adams Ungehorsam alle Menschen zu Sündern gemacht haben soll. Paulus scheint hier wie ein Teil seiner jüdischen Zeitgenossen und später die kirchliche Lehre von der Erbsünde eine biologische Vererbung der menschlichen Sündhaftigkeit angenommen zu haben. Jesus Christus sieht er wegen seiner epochalen und universalen Bedeutung als »zweiten« Adam an, zugleich aber auch als dessen totales Gegenbild, weil Jesus eben für das Heil und das (ewige) Leben steht, Adam hingegen Sündhaftigkeit und (ewigen) Tod verkörpert. Die Ableitung des Todes aus der Sünde (»Der Tod ist der Sünde Sold«, Römer 6,23), wie sie Paulus vertritt, verkennt indessen, dass das Sterben zum menschlichen Dasein und damit zur (guten) göttlichen Schöpfung dazu­gehört. Sie vermittelt zudem ein problematisches Verständnis von Gott, denn dieser hätte dann ja die gesamte Menschheit in Haftung dafür genommen, dass die ersten Menschen seinen göttlichen Befehl missachtet haben. Das mag zu den Mythen über die Entstehung der Welt gehören; theologisch verbindliche Aussagen lassen sich damit nicht begründen. Dessen ungeachtet hat sich das Dogma von der Erbsünde im Verlauf der Kirchengeschichte als wirksames Instrument der Amtskirche zur Disziplinierung der Gläubigen erwiesen.

Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius wirft in einer Streitschrift (Warum Luther die Reformation versemmelt hat, Rowohlt, 2017) dem Reformator vor, insoweit unhinterfragt sei­nem Lehrmeister Augustinus gefolgt zu sein, durch den die »Frohbotschaft« zur »Drohbot­schaft« geworden sei. Delius schildert auch die Auseinandersetzungen in der Erbsündefrage Anfang des fünften Jahrhunderts, die zwischen Augustinus und seinen Gegenspielern Pela­gius und Julian von Eclanum herrschten. Die kirchenhistorisch bemerkenswerte Pointe: Au­gustinus soll Kaiser Honorius durch das Geschenk von achtzig Zuchthengsten erfolgreich dazu bewogen haben, auf Papst Zosimus Einfluss zu nehmen, damit dieser die Gegner als Ketzer verdammte. Erbsünde dank Bestechung? Letztlich - so Delius - sei das Christentum nur wegen der (Lehre von der) Erbsünde zur Staatsreligion geworden.

Jörg Klingbeil

Gott lacht kräftig, auch über uns

Trotz aller Trübseligkeiten: Der Humor in den Kirchen kommt voran, sagt der Theologe und Kabarettist Fabian Vogt. Das ist ja mal eine gute Nachricht. Nicht nur zur Fassenacht.

 

Publik-Forum: Herr Vogt, warum sind die Religionen oft so humorlos?

Fabian Vogt: Ganz einfach: Weil sie die Heiligkeit Gottes mit der gefühlten Heiligkeit ihrer Institution verwechseln. Die nehmen sich selbst zu wichtig.

 

Hat Ihr Gott Humor?

Vogt: Da wir im Reformationsjahr sind, antworte ich mit dem jungen Martin Luther: »Wenn Gott keinen Humor hätte, dann wollte ich auch nicht in den Himmel kommen.« Das sagte immerhin einer, dem es jahrzehntelang darum ging, den Himmel um jeden Preis zu erobern. Ich meine: Humor hat viel damit zu tun, dass man über den Dingen stehen kann. Und das trifft auf Gott sicherlich zu. In diesem Sinne nochmals Luther: »Wer immer und überall lachen kann, der ist ein wahrer Doktor der Theologie.«

 

Worüber lacht Gott?

Vogt: Von Platon haben wir gelernt, dass Humor etwas mit der Unterscheidung von Schein und Sein zu tun hat. Und wenn Gott vom Himmel zu uns herunterguckt und feststellt, was alles nicht so ist, wie es sein könnte, also wenig Sein und viel Schein, dann hat er doch ordentlich was zu lachen. Glaube ich jedenfalls...

Thomas Seiterich

 

Dieser Artikel ist für die Internetausgabe der »Warte« leider nicht freigegeben. Lesen Sie den vollständigen Artikel in der gedruckten Ausgabe der »Warte« oder in »Publik-Forum«, kri­tisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 4/2017, Seite 30.

Famagusta

Famagusta war bis 1974 der bedeutendste Hafen an der Ostküste der Insel Zypern. Dort legte am 22. April 1948 die Korvette »Empire Comfort« der Royal Navy an. Eine Gruppe von 300 Palästinadeutschen stieg aus und wurde mit Lastwagen in das Zeltlager »Golden Sands« in den Sanddünen, etwa drei Meilen von Famagusta entfernt, überführt. Sie kamen aus dem Lager Wilhelma (Palästina), das sie innerhalb von 48 Stunden verlassen mussten; mitnehmen durften sie an Handgepäck lediglich 40 kg für Erwachsene bzw. 25 kg für Kinder, die Kisten kamen noch nach. Acht Omnibusse und fünf Lastwagen hatten sie nach Jaffa zur weiteren Verschiffung nach Zypern gebracht (vgl. »Richard Eppinger: Die Zypern-Gruppe«, Der besondere Beitrag, Beilage der Warte des Tempels Nr. 12/2005). Seit ich diesen Bericht, der zunächst im Templer Record 1969 erschienen war, abgeschrieben hatte, damit er auch hier einmal veröffentlicht werden konnte, hat mich Famagusta immer wieder beschäftigt.

Als nun eine Reise nach Nord-Zypern angeboten wurde, also in den türkischen Teil Zyperns, dachte ich sofort wieder an Famagusta, das wir vor 29 Jahren, als wir Südzypern, den griechi­schen Teil der Insel, bereisten, nicht sehen konnten. Ankunft auf ZypernWird man Spuren des Lagers »Golden Sands« noch finden oder wenigstens erahnen können? Es war mir klar, dass in den bald 70 Jahren seither sich Städte wie auch Famagusta gewaltig verändert haben. Dies bestätigte sich, als wir durch Famagus­ta nordwärts fuhren. Unseren türkischen Reiseleiter fragte ich sehr bald nach »Golden Sands«, zeigte ihm auch ein Foto vom damaligen Auffanglager mit seinen Zelten. Der Reiseleiter und auch der türki­sche Busfahrer interessierten sich beide sehr für die damalige Zeit. Wie sich herausstellte, gibt es »Gol­den Sands« zwar noch, freilich total verändert; die Stadt hatte sich weiter nach Norden ausgedehnt. Das Gebiet befindet sich jetzt innerhalb der Stadt­be­bauung, ist aber nun militärisches Sperrgebiet, das nicht besucht werden kann; außerdem herrscht natürlich Fotografierverbot. Wir sahen kasernenartige Gebäude, als wir mit unserem Bus vorbeihuschten. Hier also befand sich der unfreiwillige Zwangsaufenthalt der Palästinadeutschen von März 1948 bis März 1949; erst dann durften sie mit der »Partizanka« nach Australien ausreisen.

Auch wenn wir den Ort des damaligen Geschehens nicht näher besichtigen konnten, möchte ich doch einige Reiseeindrücke wiedergeben, denn Famagusta ist sehenswert; eine noch weitgehend original erhaltene, imposante Festungsmauer aus dem 16. Jahrhundert, 3500 m lang, umgibt die Altstadt. Dort finden sich auch Ruinen aus der venezianischen Zeit (um 1500); von den Palästen der Kreuzritter und reichen Kaufleute in der Altstadt sind freilich nur noch Ruinen vorhanden. Im Zentrum der Altstadt steht u. a. die immer noch eindrucksvolle gotische St. Nikolaus-Kathedrale (geweiht 1326), die 1571, als Zypern für 300 Jahre osma­nisch wurde, in die Lala-Mustafa-Pascha-Moschee umgewidmet wurde. »Golden Sands« in FamagustaBis 1925 hatte dann Großbritannien Zypern vom Osmanischen Reich gepachtet, die Insel wurde schließlich britische Kronkolonie. 1974 kam es zu einer türkischen Be­setzung von Nordzypern; die Griechen Nordzyperns flohen in den Süden. Spuren des Konflikts sind noch heute zu sehen. Zu einer Geisterstadt wurde die einst blühende Vorstadt Varosha, die von den rd. 40.000 griechisch-zyprischen Einwohnern verlassen wurde. Die Hotels mit Einschuss­löchern zerfallen, ein trauriger Anblick. Varosha ist durch einen Stacheldrahtzaun vom übrigen Famagusta abgetrennt. Kein Staat der Welt - außer der Türkei - hat bis heute den türkisch besetzten Norden der Insel diplomatisch anerkannt. Inzwischen ist das Verhältnis zwischen Nord- und Südzypern aber etwas entspannter geworden. Es gibt Verhandlungen wegen einer Wiedervereinigung. Ob das gelingen wird?

Richard Eppinger hatte in seinen Tagebuch-Notizen über die Zypern-Gruppe geschrieben, »dass uns auch schöne Tage beschieden waren bei allgemein guter Gesundheit und bei einzigartigen Besichtigungen vieler hochinteressanter Altertümer von Burgen, Schlössern, Kirchen, Kapellen und Hafenfestungen im ganzen Land, vorwiegend aus der Kreuzfahrerzeit. Dann der wunderbare Badestrand!«. Deshalb haben wir stets bei unseren Besichtigungen dieser Insel die Vorstellung gehabt, dass unsere Vorfahren auch schon vor uns dagewesen waren und trotz allem ebenfalls schöne Tage erlebt haben.

Klaus Eppinger

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