Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 173/2 - Februar 2017

 

 

Freies Christentum in der Reformation - Andreas Rössler

Schutz für die Schwachen - Brigitte Hoffmann

Wilhelma und elektrisches Licht - Theo Klink

Friedensmarsch der Frauen in Israel - Karin Klingbeil

Genomchirurgie - Fluch oder Segen? - Jörg Klingbeil

Freies Christentum in der Reformation

Der französische evangelische Humanist Sebastian Castellio (1515-1563) ist bekannt gewor­den als nachdrücklicher Verfechter der religiösen Toleranz und als Gegner des Reformators Johannes Calvin (1509-1564) - und Letzteres nicht erst, aber besonders und definitiv seit der schauerlichen Hinrichtung des spanischen Arztes und Antitrinitariers Michael Servet (1511-1553) ausgerechnet in Genf.

Der gelehrte Castellio, ein Christ ohne Falsch und Tadel, gehört zum »linken Flügel der Reformation« und ist dort am besten unter die »Spiritualisten« einzuordnen. Castellio ist »einer der Väter des liberalen Protestantismus«. So schreibt der Schweizer Kirchenhistoriker Walter Nigg 1937: »Seine Bemühung, das Christentum und die Ratio [die Vernunft] miteinander zu verbinden, macht Castellio zu einem der Väter des liberalen Protestantismus, der die Vernunft aus dem Schlamm der Verachtung ausgegraben hat, wohin sie von einer unbedachten Theologie leichtfertig geworfen worden war.« Der amerikanische unitarische Kirchenhistoriker Earl Morse Wilbur urteilt 1945 in gleicher Richtung: »Castellio darf als der eigentliche Begründer des liberalen Christentums bezeichnet werden. [ ... ] Im Zeitalter eines extremen Dogmatismus war Castellio der erste in der protestantischen Geschichte, der das Prinzip der Toleranz unterstrichen und auf feste und dauerhafte Grundlagen gestellt hat. Es ist deshalb angebracht, ihn als einen der erstklassigen Gründer des liberalen Protestantismus zu ehren.«

Nicht von ungefähr machte der freisinnige Genfer Pfarrer Jean Schorer - er stand mehr als 30 Jahre lang als Pastor der Genfer Kathedrale »auf der Kanzel Calvins in Genf« - den Schriftsteller Stefan Zweig auf Castellio aufmerksam und veranlasste ihn 1938 zu seinem Roman über Castellio: Ein Gewissen gegen die Gewalt. Castellio gegen Calvin. Als »Mücke gegen den Elefanten« - so verstand sich Castellio selbst in diesem Kampf des Machtlosen gegen den Mächtigen.

Irgendwann 1515 wurde Castellio in einem Dorf in Savoyen geboren. Er starb am 29. De­zember 1563 in Basel. Der Bibelwissenschaftler, Altphilologe und Theologe ist bahnbrechend geworden durch seinen leidenschaftlichen Kampf gegen die Verfolgung und Vernichtung von »Ketzern« (Irrlehrern, Häretikern). Calvin war mit seiner Glaubenslehre »Unterricht in der christlichen Religion« einer seiner Wegweiser zum reformatorischen Glauben. 1540 war Castellio in Lyon Augenzeuge, wie Anhänger der Reformation bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Nach solchen traumatischen Erlebnissen floh er nach Straßburg und wurde dort Freund und Mitarbeiter Calvins. Der Reformator Guillaume Farel (1489-1565) holte ihn nach Genf, wo er 1541 Schulrektor wurde. Zugleich erhielt Castellio in der Nähe Genfs einen Pre­digtauftrag. Bald kam es zu Meinungsverschiedenheiten, weil der Bibelübersetzer und Bibelinterpret Castellio die Heilige Schrift wissenschaftlich und damit kritisch auslegte. … Zudem übte Castellio Kritik am Verhalten etlicher Genfer Pfarrer während einer Pestepidemie. Anfang 1545 verließ er mit seiner Familie Genf. In Basel schlug er sich zunächst als Korrektor in einem Verlag durch und übersetzte die Bibel ins Lateinische, bis er 1553 Professor für Griechisch an der Universität zu Basel wurde.

Castellios zweiter großer Schock nach den Ketzerverbrennungen im katholischen Lyon war die besonders grausame Hinrichtung Michael Servets am 27. Oktober 1553 im protestan­tischen Genf. Der Leugner der Dreieinigkeitslehre wurde auf langsamer Flamme lebendig verbrannt. Calvin hatte ihn durch sein theologisches Gutachten dem Ketzertod ausgeliefert. Servets letzte Worte sollen gewesen sein: »Jesus, Sohn des ewigen Gottes, erbarme dich meiner.« Theologisch korrekt wäre es nach protestantischer und katholischer Orthodoxie gewesen zu beten: »Jesus, ewiger Sohn Gottes, erbarme dich meiner«.

Über seine unter dem Pseudonym Martin Bellius 1554 in Basel erschienene Hauptschrift Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll - 2013 in Deutsch mit dem treffenden Obertitel »Das Manifest der Toleranz« versehen - und seine weiteren Schriften ähnlichen Inhalts urteilt Nigg 1949: »Was Castellio, und nicht was seine Gegner über dieses Thema sagten, ist dem Geist des Neuen Testaments verpflichtet. Seine Ansicht ist das endgültige Wort, das vom Evangelium aus zum Ketzerproblem zu sagen ist und das in der Ewigkeit Recht bekommen wird!«

Dabei war Castellio nicht der einzige unter den Reformatoren und ihren Schülern, der die Verfolgung und Hinrichtung andersdenkender Christen ablehnte. Sein Manifest der Toleranz, eine Sammlung eigener Texte und fremder Stimmen zur Frage der christlichen Duldsamkeit, ist mit einem Widmungsbrief an Herzog Christoph von Württemberg (Regent seit 1550) eingeleitet. Hier erwähnt Castellio Christophs theologischen Ratgeber, den württembergischen Reformator Johannes Brenz (1499-1570), der viele Ketzer vor dem Tod bewahrt hat. In der Tat lehnt Brenz in seinen Gutachten über den Umgang mit den Täufern die Todesstrafe gegen die Täufer und andere Ketzer ab. Wie bei Martin Luther in seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit (1523) gilt bei Brenz der Grundsatz: Glaubensirrtum ist allein mit dem Wort zu bekämpfen. Die staatliche Obrigkeit hat nur das Recht und die Pflicht, Menschen zu bestrafen, die gegen die ethischen Gebote und Verordnungen verstoßen. Aus religiösen Fragen dagegen hat sie sich herauszuhalten.

In seinem Brief an Herzog Christoph setzt Castellio, wie auch sonst in seinen Schriften, den Schwerpunkt auf das praktische christliche Leben. Eine Lebensführung im Sinn der Liebe ist von Christus gewollt. Demgegenüber sind Fragen der Glaubenslehre nachrangig, von dogmatischen Spitzfindigkeiten ganz zu schweigen.

»Wer wendet denn allen Fleiß darauf, dass er heiligmäßig, gerecht und fromm lebe in dieser Zeit, in Erwartung der Wiederkunft des seligen Herrn? Nichts geschieht mit weniger Eifer: Wahre Frömmigkeit und Liebe liegen darnieder und sind erkaltet; unser Leben verbringen wir mit Zank und Lastern aller Art. Disputiert wird nicht über den Weg, auf dem man zu Christus gelangen kann, das heißt über die Verbesserung des Lebens, sondern über Christus selbst, seinen Stand und sein Amt, wo er denn jetzt sei, was er tue, wie er sitze zur Rechten des Vaters und auf welche Weise er eins sei mit dem Vater. Dergleichen über die Dreieinigkeit, die Prädestination, den freien Willen, über Gott und die Engel, über den Zustand der Seelen nach diesem Leben und dergleichen Dinge mehr, die [wir] weder für das Heil, das wir durch den Glauben erlangen, zu wissen nötig haben [ ... ] noch überhaupt erkannt werden können, bevor wir ein reines Herz haben.«

Castellio vertritt also ein »undogmatisches«, ethisch akzentuiertes Christentum, wie man es im 20. Jahrhundert bei Albert Schweitzer findet. Er ist insofern einer der Vordenker des freien Christentums. »Die wahre Kirche erkennt man nach Castellio an der Liebe, die wahre Frömmigkeit daran, die Gebote der Bergpredigt zu befolgen: die Feinde zu lieben, zu dürsten und zu hungern nach Gerechtigkeit. Dabei treten Fragen über Trinität, Prädestination und Gnadenwahl als "dunkle Fragen" in den Hintergrund.« (Uwe Plath) Das heißt nicht, dass für ihn Glaubensfragen grundsätzlich unerheblich wären. Auch noch kurz vor seinem Tod bekennt er sich zum reformatorischen Grundsatz »Allein die Gnade«: »Dass wir umsonst durch Gottes Gnade und durch den Glauben an Christus gerechtfertigt und gerettet werden, habe ich immer geglaubt und gelehrt und das bezeugen auch meine Schriften.«

Castellio ist ein früher Vertreter der Lehre von den »Fundamentalartikeln des Glaubens« - wie sein Gesinnungsgenosse Jacobus Acontius aus Trient, der ab 1559 in England wirkte und ebenfalls Ketzerverfolgung und Bekenntniszwang ablehnte. Für Castellio gibt es im Grund drei Fundamentalartikel des Glaubens: Erstens ist der eine Gott der Schöpfer und Vollender von allem. Zweitens ist Christus »Sohn Gottes, Herr und Richter der Welt«. Drittens ist das von uns geforderte Verhalten Gottesfurcht, Barmherzigkeit, gegenseitige Liebe, als Widerschein der Liebe Gottes. »Wer mehr zur Milde neigt als zum Zorn, der lebt nach Gottes Natur.« Auf der Basis der Fundamentalartikel, also eines gesamtchristlichen Konsenses, gesteht Castellio dann unterschiedliche Auslegungen einzelner Glaubenslehren zu:

»Eine goldene Münze, die überall, in welcher Gestalt auch immer, Gültigkeit hat, gibt es in religiösen Dingen. Der Glaube nämlich an Gott, den Vater, und an den Sohn und den Heiligen Geist und die Beachtung der Gebote der Frömmigkeit, wie sie geschrieben stehen in der Heiligen Schrift: Das ist die goldene Münze, beständiger und bewährter noch als Gold. Doch hat diese Münze bis heute ganz verschiedene Prägungen, je nachdem, welche Ansichten die Menschen über das Abendmahl, die Taufe und dergleichen mehr vertreten. Seien wir daher duldsam zueinander und hören wir auf, dauernd den Glauben des anderen, sofern er auf Christus gegründet ist, zu verdammen!«

Castellios »undogmatisches Religionsverständnis« hängt mit seinem Eingeständnis der Vorläufigkeit unserer Wahrheitserkenntnis zusammen. Dies hat Castellio auch in seiner kurz vor seinem Tod 1563 fertiggestellten Schrift Von der Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens festgehalten. Wir können uns der vollen Wahrheit nur annähern. So begnügt sich Castellio mit »dem einfachen und, wie man glaubt, uns von den Aposteln überlieferten Glauben«: »an einen Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer Himmels und der Erde, und an Jesus Christus, seinen einzigen Sohn, unsern Herrn, und an den Heiligen Geist«. Die diesen »Glauben wirklich halten, sind auf dem Wege des Heils«.

Aber längst vor seinem Hauptwerk Von der Kunst des Zweifelns und Glaubens steht für ihn fest, dass wir unser Leben lang auf dem Weg zur Wahrheit bleiben müssen. Die schlimmen »Zerwürfnisse« unter den Christen, samt gegenseitigen Ketzervorwürfen, »rühren von nichts anderem her als von der Unkenntnis der Wahrheit«. Viele einzelne Glaubensthemen wie Taufe, Abendmahl, Anrufung der Heiligen, Rechtfertigung, freier Wille sind »unklare Fragen«. Deshalb gibt es darüber Streit zwischen Katholiken, Lutheranern, Zwinglianern und Täufern. »Wären diese Dinge ebenso offenkundig, wie es offenkundig ist, dass es nur einen Gott gibt, so würden sich alle Christen darin ebenso einig sein, wie alle Nationen einmütig bekennen, dass es nur einen Gott gibt.« Aber diese »Dinge« sind eben nicht offenkundig! Es gibt größere und geringere Fortschritte in der Wahrheitserkenntnis. Ob einer hier weitergekommen ist oder nicht, zeigt sich am Maß seiner Freundlichkeit und Barmherzigkeit. Theorie und Praxis bedingen sich gegenseitig: Je weiter jemand in der Glaubenserkenntnis ist, desto gütiger ist er, und je gütiger er ist, desto weiter ist er in der Glaubenserkenntnis fortgeschritten!

»Ebenso soll es auch unter den Christen sein, dass wir einander nicht verdammen, sondern wenn wir es besser wissen, so sollen wir auch besser und barmherziger sein. Denn dies ist gewiss, je besser einer die Wahrheit kennt, desto weniger neigt er dazu, die andern zu verdammen, wie es das Beispiel Christi und der Apostel zeigt. Wer nämlich die andern leichthin verdammt, offenbart gerade dadurch, dass er nichts weiß, da er den anderen nicht zu ertragen weiß.«

In seiner kurz vor seinem Tod 1563 abgelieferten Verteidigungsschrift vor dem Basler Rat, mit der er sich erfolgreich gegen den Vorwurf zur Wehr setzte, er sei selbst ein Ketzer, wiederholt er seinen von 1. Korinther 13 geleiteten hermeneutischen Grundsatz: Nur wer vom Geist der Liebe Christi ergriffen ist, kann die Bibel recht verstehen: »Die Streitigkeiten, die es unter den Theologen wegen der Religion gibt, können nicht aus der [Heiligen] Schrift beigelegt werden, wenn nicht zugleich der Geist Christi, der die Gesinnung offenbart, und die Liebe vorhanden sind.«

Aus diesem Ansatz ergibt sich wie selbstverständlich eine ökumenische Haltung. Auch bei den Katholiken (den »Papisten«) etwa findet Castellio gottesfürchtige Christen, obwohl er manche ihrer Lehren ablehnt. …

In seiner kurz nach dem Manifest der Toleranz ebenfalls noch 1554 verfassten Schrift Gegen Calvin fasst Castellio seine Überzeugung zum Umgang mit Ketzern in dem berühmt gewordenen Satz zusammen: »Einen Menschen töten heißt nicht eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten.« Er fügt erklärend hinzu: »Als die Genfer den Servet töteten, haben sie nicht eine Lehre verteidigt, sondern einen Menschen getötet.«

Castellios Argumente zum Umgang mit Ketzern ergeben sich aus drei »Normen«, also Glaubensautoritäten, die für ihn grundlegend sind: erstens die Vernunft; zweitens die vor allem sinnenhafte Erfahrung; drittens die Heilige Schrift. In seiner Kunst des Zweifelns und Glaubens heißt es:

»Oh Gott, Vater des Lichts, wende dieses Unglück [die Ketzerverfolgung] ab [ ... ]! Und du, Nachwelt, bekämpfe es; nimm uns als Beispiel und vermeide es, dich menschlichen Auffassungen kritiklos anzuschließen und sie nicht mehr an der Norm der Vernunft, der Sinne sowie der Heiligen Schrift zu messen. Und ihr, Gelehrte, meidet dieses Unglück, nehmt euch nicht so wichtig und lasset davon ab, eure Autorität durch die körperliche und seelische Gefährdung so vieler Menschen zu bestätigen.«

Über die damaligen schauerlichen Anlässe hinaus sind Castellio Argumente zum Umgang mit »Ketzern« zeitübergreifend bedeutsam für den christlichen Umgang mit andersdenkenden Christen und mit Andersgläubigen. Der biblische Grundgesichtspunkt ist die Liebe Gottes, wie sie sich in der Lehre Jesu und in seiner Nächstenliebe und Feindesliebe widerspiegelt. So ist es dem Geist des Evangeliums zuwider, Menschen wegen ihrer religiösen Auffassungen zu verfolgen oder gar umzubringen, auch wenn ihre Auffassungen von der christlichen Botschaft abweichen sollten. … Vertritt jemand schuldhaft und nicht aus unüberwindbarem Irrtum eine Irrlehre, so ist dies auch in einem solchen Fall nach Matthäus 13,24-30 (Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen) dem Gericht Gottes zu überlassen. Im Bereich der weltlichen Ordnung muss es Strafe für Übeltäter geben, aber selbst wenn dabei (was damals als selbstverständlich galt) einmal die Todesstrafe verhängt werden muss, dürfen die Verurteilten nicht grausam gequält werden.

Castellio fragt, was überhaupt christliche Ketzerei sei. Häufig würden Ketzer mit Böswilligen und Übeltätern gleichgesetzt, aber beides sei streng auseinanderzuhalten, zumal christliche Ketzer oft eindrucksvoll das Gebot der Liebe praktizierten. Manche Christen hielten schlicht ihre eigene Auffassung für wahr und andere Auffassungen für ketzerisch. Da setze man sich selbst absolut: »Jeder gilt für einen Ketzer, der anders denkt als wir.« Castellio vollzieht hier eine Grundunterscheidung: Es gibt erstens »lobenswerte« Gemeinschaften, in denen die christliche Liebe praktiziert wird. Es gibt zweitens »gottlose«, schlicht die ethischen Grundsätze verleugnende Gemeinschaften. Und es gibt drittens Gemeinschaften, die »die Religion bewahren und an die Heilige Schrift glauben, aber sie falsch verstehen«. Hier ordnet Castellio die »Ketzer« ein. Nun behauptet Castellio, Ketzerei zu verabscheuen. Damit bekennt er sich zur Wahrheitsliebe, zur Mühe um eine immer tiefere Wahrheitserkenntnis. Ketzer darf man aber nicht verfolgen, zumal »die Verfolger selbst mit nicht weniger schweren Irrlehren, wie ich glaube, und auf höchst verbrecherische Weise vorgehen«. Am widerlichsten sind für Castellio jene Glaubenswächter, die aus »Eifer für Gott« und aus »Eifer für Christus« Andersdenkende verfolgen und töten. Schließlich ist immer wieder zu fragen, ob gewisse Ketzer wirklich »in manchem irren« oder doch nur »zu irren scheinen«.

Dazu kommen Argumente aus dem Arsenal des gesunden Menschenverstandes und der damaligen oft leidvollen Lebenserfahrung. Etwa: Wer von einem Land in andere Länder reist, findet sich je nach herrschender Konfession das eine Mal als rechtgläubig, das andere Mal als irrgläubig wieder. Ferner: Wer sich mit seinem Glauben in einer Minderheitensituation befindet, wird sich mit Ketzereivorwürfen gegen andere zurückhalten. Wer aber auf einmal zur Mehr­heitsmeinung gehört, hat Macht gewonnen, die er leicht gegen die neue Minderheit ausspielt. Ferner: Wenn mir jemand Ketzerei vorwirft, ist das nicht nur Rufmord, sondern vielleicht der Anfang einer bösen Tötungsmaschinerie. So kann man Gegner fertigmachen. Ferner: Wer selbst schon wegen Ketzerei angeklagt und verhört worden ist, wird am ehesten Mitgefühl haben mit anderen, denen es nun ebenso ergeht. Ferner: Wenn Christen sich gegenseitig aus Glaubensgründen bekämpfen, verfolgen und umbringen, bieten sie Andersgläubigen, die sie doch zu Christus bekehren wollten, ein jämmerliches und abschreckendes Bild dar.

Dr. Andreas Rössler ist Pfarrer i.R. und ehemaliger Schriftleiter des Bundes für Freies Chris­tentum. Sein ungekürzter Beitrag ist in »Auf der Suche nach neuen Wegen« Nr. 4/2015 mit zahlreichen Quellenverweisen erschienen. Literaturhinweise:

Sebastian Castellio: Das Manifest der Toleranz. Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll. Eingeführt von Wolfgang F. Stammler. Aus dem Lateinischen von Werner Stingl; mit Beiträgen von Stefan Zweig und Hans R. Guggisberg, 2013, 440 Seiten mit 38 Abbildungen, Leinen (ISBN 978 -3-939973-61-4), 34 Euro.

Sebastian Castellio: Die Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens. Ins Deutsche übersetzt von Werner Stingl. Kommentiert und bearbeitet von Hans-Joachim Pagel, 2015, 403 Seiten mit Abbildungen, Leinen (ISBN 978-3-939973-65-3), 38 Euro.

Mirjam van Veen: Die Freiheit des Denkens. Sebastian Castellio - Wegbereiter der Toleranz (1515-1563). Eine Biographie. Aus dem Niederländischen übersetzt von Andreas Ecke, 2015, 351 Seiten mit Abbildungen, Leinen (ISBN 978-3-939973-71-3), 32 Euro.

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Schutz für die Schwachen

2. Mose 22, V. 20-26

So lautet die Überschrift dieses Abschnitts im Buch Exodus; in der neuen Lutherbibel 2017 ist sogar von »Rechtsschutz« die Rede. Auch das übrige Kapitel macht deutlich, dass die Thora für das Volk Israel nicht nur die Grundlage des Glaubens, sondern auch die des Rechts gewesen ist, mit strengen - teilweise aber durchaus nach dem Maß der Schuld differenzierten - Strafen. Und Gott, der hier selbst spricht, lässt keinen Zweifel daran, dass er auf der Seite der Schwachen steht. Das zeigt sich vor allem in den Versen 21-23, wonach Witwen und Waisen nicht »bedrückt« werden sollen. Diese Forderung zielt offenbar auf ein gravierendes soziales Problem der damaligen Zeit. Die Witwen hatten ja nicht nur ihren Ernährer verloren, sondern auch den Ehemann, der sie in der Öffentlichkeit, z.B. vor Gericht, vertreten konnte; sie standen vor dem Nichts und konnten sich nicht wehren. Diese Forderung ist zudem als einzige in diesem Abschnitt mit einer Strafandrohung Gottes bewehrt, was ihre hohe Bedeutung unterstreicht. Auch die Propheten haben später wiederholt ähnliche Forderungen erhoben; wie die Geschichte leider gezeigt hat, ohne nachhaltigen Erfolg. Auch die göttliche Weisung in Vers 20, »Fremdlinge« nicht zu bedrängen und zu bedrücken, blieb bis in die Gegenwart nur mäßig erfolgreich. Damals war sie neu und einzigartig, denn sie ging über den bisherigen (Rechts-)Rahmen des eigenen Volkes hinaus und bot einen Ansatz für das, was wir heute Minderheitenschutz nennen. Allerdings gab es in Judäa nur sehr wenige solche Fremdlinge (Flüchtlinge, ehemalige Kriegsgefangene u.ä.), die zwar (vor dem Exil) nicht vertrieben wurden, aber ohne den Rückhalt einer Sippe rechtlos und damit jeder Art von Ausbeutung ausgesetzt waren. Bemerkenswert ist auch die Begründung: keine Strafandrohung, sondern der Appell an das eigene Mitgefühl in Erinnerung an das eigene Fremdarbeiterdasein der Israeliten in Ägypten. Insgesamt will der Abschnitt die Barmherzigkeit Gottes zeigen und in der realen Welt konkretisieren: die Menschen sollen ihr Verhalten ändern und selbst Barmherzig­keit üben, weil das Gottes Wille ist. Die direkte Wirkung eines solchen Appells an Solidarität und Barmherzigkeit mag oft gering, weil vage und allgemein sein. Aber vielleicht ist es gerade das, was ihn lebendig erhalten hat. Man musste immer wieder neu über Deutungen und Wege streiten, neue Versuche wagen, über anderthalb Jahrtausende hinweg. Vieles an Hilfe, was damals undenkbar war, ist heute Gesetz, dank unserer größeren Mittel und dank eines (sicher noch steigerungsfähigen) Gefühls unserer Verantwortung für die Not anderer. Die Probleme sind geblieben. Und so sind, in dieser sehr langen Sicht, diese Bibelverse doch das geworden, was sie sein sollten: ein - sehr unvollkommener - Schutz für die Schwachen.

Brigitte Hoffmann

Wilhelma und elektrisches Licht

Veranlasst durch die Feststellung von Ruth Danon, einer Bewohnerin von Bnei-Atarot (früher: Tempelkolonie Wilhelma bei Jaffa), dass es anfänglich in diesem von ihrer Familie bewohnten Moshaw keine Stromzuleitung aus einem Kraftwerk gegeben habe, und ihrer Anfrage, ob die früheren Bewohner von Wilhelma denn damals ohne Strom gelebt hätten, erkundigten wir uns bei dem in Wilhelma aufgewachsenen TGD-Mitglied Theo Klink, ob dem so gewesen sei.

Wilhelma hatte tatsächlich keinen elektrischen Anschluss, so lange ich dort lebte. Das war bis Ende 1939. Von meiner Kusine Olga Kroh-Löbert habe ich erfahren, dass bis zu ihrer Deportation 1948 und der Übernahme von Wilhelma durch den jüdischen Staat, also bis 1948, an der Beleuchtungstechnik nichts geändert wurde.

Wir lebten zu meiner Zeit im Haus und Stall nur mit Petroleumlicht. Kerzen wurden weniger benützt, sie flackerten zu sehr und stellten auch wegen der offenen Flamme eine gewisse Gefahr dar. Bei den Petroleumlampen, deren Flamme bei allen Typen mit einem Glaszylinder nach außen abgeschirmt war, erinnere ich mich an vier Bauarten:

Die gängigste Petroleumlampe war die robuste »Stall-Laterne«, die auf den Boden gestellt oder auch am Haken aufgehängt werden konnte. Stall-LaterneSie war komplett aus Blech gefertigt, bis auf den bauchigen Glaszylinder, der separat einge­setzt wurde. Bei Rußverschmutzung konnte dieser zum Reinigen heraus­genommen werden. Das Zylinderglas war durch ein Drahtgitter vor me­chanischer Beschädigung geschützt. Weil auch der Petroleumvorratsbe­hälter aus Blech gefertigt war konnte man allerdings den Füllstand nicht einsehen. Die Laterne hatte einen schmalen länglichen Docht, der mit Kordelschraube rauf (hellere Flamme) oder runter (dunklere Flamme), gefahren werden konnte. Die Stalllaterne war eine bessere »Funzel«, aber ausreichend für den Zweck. Und sie war unverzichtbar für unseren landwirtschaftlichen Betrieb, bei dem so viele Arbeiten im Stall durchge­führt werden mussten, häufig auch nachts. In stockfinsterer Nacht wurde die Lampe auch mal beim Gang zum Nachbarn in der Hand mitgeführt.

KüchenlampeIm Haus wurde meistens die »Küchenlampe« benützt. Sie bestand ganz aus Glas, bis auf die Einheit mit dem Dochtmechanismus, auf den dann der hohe, klare Glaszylinder aufgesteckt wurde. Weil auch das Unterteil der Lampe aus Glas bestand, ließ sich leicht erkennen, wie viel Petroleum noch im Behälter war und auch welche Länge der im Petroleum liegende Docht noch hatte. Die Form des Dochtes war etwas dicker und breiter als bei der Stalllaterne, lieferte deshalb ein recht helles Licht. Es war diese »Küchenlampe«, die mitgenommen wurde, wenn man in der Nacht von einem Zimmer in das andere ging. Für das Abstellen der Lampe musste allerdings ein waagrechter und fester Untergrund aus­gewählt werden, wie zum Beispiel Tisch, Nachttisch, Fenstersims oder auch Fußboden. Solch fester Untergrund war im Haus überall vorhanden.

In unserem Wohnzimmer auf dem Tisch stand die sogenannte »Wunderlampe«. Der Name war, glaube ich, ein Markenzeichen der Lampenfirma. WunderlampeDie Wunderlampe war bedeutend größer und schwerer als die Küchenlampe, hatte einen geschwungenen und blankgeputzten Glaszylinder, und darüber thronte auf einem Gestell eine farbig getönte Glashaube, die für eine Verteilung des Lichtes im Raum sorgte. Bei dem hier verwendeten Runddocht brannte eine kreisförmige Flamme mit besonders heller Flamme. Auch hier konnte die Helligkeit mit Verstellung der Dochthöhe reguliert werden. Ich erinnere mich, wie ich oft im Schein dieser Lampe spät abends meine Hausaufgaben für die Schule machte. Das ging ganz gut, solange keine Zeichnungen mit Farbe gefordert waren. Das Licht, das uns Kindern nachts weiß erschien, war in Wirklichkeit gelb. Bei Tageslicht zeigte sich dann, dass wir im Lampenlicht oft den falschen Farbstift gewählt hatten!

Dann gab es noch, vor allem in späteren Jahren, die sogenannte »Luxlampe«. Auch dies war wohl der Markenname der Herstellerfirma. Diese Lux-Lampen waren zunächst von der Gemeinde bei Großveranstaltungen eingesetzt worden, Luxlampezum Beispiel bei Festveranstaltungen oder Feierlichkeiten in der »Stiftshütte«, die entwe­der für den Abend angesagt waren, oder die sich, bei einer Hochzeitsfeier zum Beispiel, bis in die Abendstunden hinein ausdehnten. Die Luxlampen lieferten ein gleißend helles Licht mit großer Lichtflut, mit der die Nacht zum Tag gemacht werden konnte. Diese Lampen besaßen sogenannte Glühstrümpfe anstelle eines Dochtes, ähnlich wie heutige Gaslampen sie benützen. Die Lampe musste minutenlang mit Spiritus vorgeheizt werden. Wenn die erforderliche Temperatur erreicht war, wurde die eingebaute Luftpumpe betätigt. Durch den Überdruck wurde Petroleum durch die heiße Düse gepresst, das dort verdampfte und als Gas verbrannte, und mit dieser Hitze den weißen Glühstrumpf zum Leuchten brachte. In spä­teren Jahren konnten sich auch normale Haushalte solch teure Lampen leisten, deren Bedie­nung aber gewisse Fertigkeiten erforderten.

Ich selbst lernte die Elektrizität über meinen Fahrraddynamo kennen. Ich war fasziniert da­von, weil man beim Radfahren immer ein Nachtlicht bereit hatte, das zuverlässig funktionierte. Vorher gab es am Fahrrad zwar die Karbidlampe, die aber vor Gebrauch umständlich präpariert werden musste und nur gelegentlich funktionsfähig war. Ich war so begeistert vom neu entdeckten elektrischen Licht, dass ich das Fahrrad abends ins Wohnzimmer trug, es mit den Rädern nach oben auf den Boden stellte, und mit der Hand die Tretkurbel betätigte. Damit konnte ich zwar einen kleinen Lichtkegel an die Wand werfen, dieser konnte aber in keiner Weise das Petroleumlicht ersetzen. Außerdem hielt meine Leidenschaft für das Kurbeln nicht lange an.

Punktuell kam Elektrizität für bestimmte Verwendungszwecke immer wieder in Wilhelma zum Einsatz. Zum Beispiel, wenn vor Einbruch der Regenzeit die Heuhäckselmaschine von Hof zu Hof zog, um die riesigen Heustapel vor dem Stall zu häckseln und gleichzeitig die Häcksel über große Rohre in den Heuboden über den Stallungen zu blasen. Diese Arbeiten wurden, vielleicht der Hitze wegen, meistens in den Nachtstunden durchgeführt. Ein großer Traktor trieb über Lederriemen die Häckselmaschine an und lieferte gleichzeitig den Strom für eine überaus helle Nachtbeleuchtung. Der elektrische Strahler wurde hoch oben an den First des Stallgebäudes gehängt und machte die Nacht zum Tage. Ähnlich ging es an den Tagen zu, an denen das Dreschen der haushoch aufgetürmten Getreidegarben eines Hofes abge­arbeitet wurde. Die Arbeiten mit der riesigen Dreschmaschine begannen zwar frühmorgens und sollten abends enden, setzten sich aber oft bis tief in die Nacht hinein fort. Dann wurde halt mit Hilfe der elektrischen Strahler weitergearbeitet.

Aber ein einziges Gebäude gab es in Wilhelma, das in späteren Jahren wohl vollkommen elektrifiziert war. Es war die 1937 neu errichtete Molkerei in der oberen Kolonie, nicht weit von Schule und Gemeindehaus entfernt. Diese Molkerei wurde von der landwirtschaftlichen Ge­nossenschaft Wilhelma nach modernsten Gesichtspunkten der Milch-, Butter- und Käseverar­beitung geplant und mit neuesten elektrischen Maschinen, Zentrifugen und Kühleinrichtungen ausgestattet. Im Keller des Gebäudes stand ein robuster Dieselmotor, der fast den ganzen Tag angeschaltet blieb und den erforderlichen Strom lieferte. Für die fachmännische Leitung der neuen Molkerei erhielt ein für diese Aufgabe ausgewählter Bürger, Max Vollmer, eine spezielle Ausbildung in einem Molkerei-Fachbetrieb auf der Schwäbischen Alb in Deutschland. Recht­zeitig zur Eröffnung der neuen Molkerei war der neue Leiter dann wieder zurück in Wilhelma.

Dass wir in Wilhelma eine neue Molkerei mit modernster Technik bekommen hatten, haben wir Schulkinder damals kaum bemerkt. Als aber ein findiger Bürger auf die Idee kam, einen Unterhaltungsfilm in unserem Schulhaus vorzuführen, waren wir total begeistert. Möglich ist das geworden, weil nun mit einer langen Kabelrolle Strom von der Molkerei ins Schulhaus gebracht werden konnte. Zum ersten Mal haben wir mit eigenen Augen einen Tonfilm erlebt, von dem wir bisher nur aus Berichten von Reisenden gehört hatten. An eine der ersten Filmvorführungen erinnere ich mich noch, vor allem wegen des ungewöhnlichen Titels: »Petermann hat nichts dagegen« oder so ähnlich. Für uns Schüler war eine aufregende Zeit angebrochen.

Theo Klink

Friedensmarsch der Frauen in Israel

Im Oktober 2016 fand eine beeindruckende Aktion in Israel statt - völlig ignoriert von den Medien. Ich hatte von einer Freundin den link auf ein youtube-Video erhalten, das mit »The Prayer of the Mothers« betitelt war. Als ich dann unter »Friedensmarsch Israel« im Internet suchte, fand ich mehrere Informationen zu der Geschichte:

Die Frauenorganisation Women Wage Peace (»Frauen wagen Frieden«, entstanden im Sommer 2014 auf dem Höhepunkt der Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis und der militärischen Operation »Tsuk Eitan« im Gazastreifen) initiierte diese Aktion, an der Frauen jeder Religion und Herkunft teilnahmen.

Am 4. Oktober begaben sich 20 Frauen in Rosh Ha-Niqra auf den »Marsch der Hoffnung« und marschierten bis zum 19. Oktober durch das ganze Land nach Jerusalem vor den Amts­sitz Netanjahus, um gegen die aktuelle Situation zu protestieren und die Regierung ihres Landes aufzufordern, den Friedensprozess mit den Palästinensern wieder aufzunehmen. Immer mehr Frauen schlossen sich dem Zug an, in Jericho 3000 Frauen, darunter etwa die Hälfte Palästinenserinnen, und auch wenn die mei­sten palästinensischen Frauen das Westjordanland nicht verlassen durften, war dieser gemeinsame Marsch ein starkes Zeichen des Friedens. Die Frauen marschierten für den Frieden - nicht nur mit Palästina, sondern mit allen Nachbarn Israels.

Bei der Abschlusskundgebung am Ende des Marsches - vor Netanjahus Amtssitz sollen schließlich 15.000 Frauen demonstriert haben - kamen verschiedene Frauen zu Wort: Eine Israelin aus Tel Aviv, deren Sohn im Gaza-Krieg gekämpft hatte, weigerte sich schließlich, die Armee-Uniformen zu waschen - sie wolle Frieden! Eine arabische Israelin aus Haifa hofft, dass die Stimmen der Frauen endlich gehört würden, denn »Frauen können miteinander sprechen, sie kämpfen nicht mit ihrem Ego gegeneinander.« Auch eine junge religiöse Jüdin, die erst im Januar des vergangenen Jahres von einem palästinensischen Teenager niedergestochen wor­den war, und die ihr vier Monate altes Kind mitgebracht hatte, kam mit ihrer bemerkenswerten Einstellung zu Wort: »Das Leben zu wählen bedeutet, die Komplexität der Situation hier anzuerkennen. Zu lernen - aus Notwendigkeit - sein Leben zu verteidigen, aber auch das Elend wahrzunehmen und eine helfende Hand auszustrecken. Jemand, der tot ist, fühlt nichts mehr. Ich wählte zu fühlen und dem gesamten Spektrum der Gefühle in mir Raum zu geben - dem Schmerz, dem Ressentiment, aber auch der Vergebung und der Liebe. Tod ist Trennung. Leben ist Begegnung, Leben ist Frieden. Leben wird hier nur möglich sein, wenn wir aufhören, uns gegenseitig zu beschuldigen und aufhören, Opfer zu sein. Wir alle müssen das überwinden und Verantwortung übernehmen und anfangen, für das Leben zu arbeiten.«

Auch die liberianische Frauenrechtlerin und Friedensnobelpreisträgerin Leymah Roberta Gbowee begleitete den Marsch. Diese hatte mit ihrer Frauenorganisation, die vor allem aus im Bürgerkrieg zwischen 1989 und 2003 verwundeten und vergewaltigten Frauen bestand,  Friedensmarsch der Frauen in Israeldie Beendigung des Krieges in Liberia mit herbeigeführt und hatte für diese Bemühungen im Friedenspro­zess ihres Landes die Auszeichnung erhalten. Sie zeigte sich begeistert und bezeichnete den Frie­densmarsch als den «new deal« für Frieden zwi­schen Israel und Palästina.

Die israelische Sängerin Yael Deckelbaum singt in diesem neuen offiziellen Video der Bewegung Women Wage Peace »Das Gebet der Mütter« zusammen mit anderen Frauen abwechselnd auf Hebräisch und Arabisch (mit deutschem Untertitel). Eindrucksvoll wird der Marsch gezeigt und auch die Botschaft der o.g. Friedensnobelpreisträgerin zur Unterstützung der Frauen in ihren Bemühungen um den Frieden in dieser Region, an den gerade nicht viele glauben.

Karin Klingbeil

Genomchirurgie - Fluch oder Segen?

Die einen preisen es als »Gotteswerkzeug«, die anderen verdammen es als vermessenen Versuch, »Gott zu spielen«. Die Rede ist von neuen genomchirurgischen Verfahren (z.B. CRISPR/Cas9). Dabei wurde - vereinfacht gesagt - aus der Selbstverteidigung von Bakterien gegen Viren eine Methode abgeleitet, präzise in ein Genom, also das Erbgut eines Lebe­wesens, einzugreifen und es zu verändern, also exakte Veränderungen der DNA in lebenden Zellen vorzunehmen. Ein defektes Gen kann dabei entfernt, repariert oder ausgetauscht werden. Revolutionär ist dieses Verfahren nicht nur im Hinblick auf das menschliche Genom, sondern auch mit Blick auf Pflanzen und Tiere; es wurde bereits als die »medizinische Entdeckung des Jahrhunderts« bezeichnet. In den USA wird über die dort »genome editing« genannte neue Methode der Erbgutveränderung schon seit einigen Jahren heftig diskutiert; auch in Deutschland nimmt die Diskussion über die ethischen Dimensionen zunehmend Fahrt auf. Denn einerseits könnten damit eines Tages unheilbare Krankheiten geheilt werden, andererseits kann die Entwicklung auch zu »Designerbabys« führen. Bisher befindet sich das alles noch in einer experimentellen Phase, aber die Aussichten auf neue Behandlungsme­thoden sind sehr groß.

Nach Meinung des früheren EKD-Ratsvorsitzenden Prof. Dr. Wolfgang Huber, der 2001-2003 auch dem Deutschen Ethikrat angehörte, würden sowohl euphorische als auch apoka­lyptische Bewertungen der neuen wissenschaftlichen Möglichkeit, soweit sie auf Gott Bezug nehmen, ein merkwürdiges und unreflektiertes Gottesverständnis offenbaren: Gott sei eben kein »Handwerker«, der mit dafür geeigneten Werkzeugen die Evolution kausal steuere, sondern er ziele auf den Sinn der Welt als »gute Schöpfung« und auf die Bestimmung des Menschen, zu dieser Güte beizutragen. Die kritische Auseinandersetzung mit den Möglich­keiten wissenschaftlicher Erkenntnis werde durch eine religiöse Überhöhung oder eine Verteu­felung eher blockiert. Eine ethische Reflektion erfordere vielmehr eine sorgfältige Abwägung der Chancen und Risiken ebenso wie der Ziele und Folgen. Im Bereich der sogenannten grünen Gentechnik könnten mit der neuen Methode zum Beispiel Pflanzen entwickelt werden, die gegen Trockenheit, Schädlinge oder hohen Salzgehalt des Bodens immun sind oder sich besser zur Energiegewinnung eignen. Wenn in das Erbmaterial von Pflanzen oder Tieren direkt eingegriffen wird, zum Beispiel um die Widerstandskraft gegen bestimmte Infektions­erreger zu erhöhen, können aber ggf. dauerhafte Veränderungen die Folge sein, d.h. es wird nicht nur die einzelne Pflanze oder das einzelne Tier verändert, sondern möglicherweise der Genpool der jeweiligen Pflanzen- oder Tiergattung im Ganzen. Das kann u.U. auch für den Menschen bedeutsam sein, wie man am Beispiel der Gelbfiebermücke sehen kann, die Zika-Viren auf den Menschen überträgt. Und wenn es beispielsweise gelänge, Gene aus dem Genom von Schweinen »auszuschalten«, die (bisher) für den Menschen gefährlich sind, würde die Möglichkeit der Transplantation von Tierorganen auf den Menschen näher rücken.

Soweit es um die unmittelbare Anwendung auf den Menschen geht, wird das ethische Dilemma noch augenfälliger: Grundsätzlich ist zwischen der Genomchirurgie an Körperzellen und an Keimzellen zu unterscheiden. Der Eingriff in Körperzellen bezieht sich nur auf das jeweilige Individuum, wogegen Eingriffe in die Keimbahn Folgen für alle Nachkommen dieses Individuums haben. Die zweite Variante ist also unvergleichlich folgenreicher, allerdings nicht ganz neu. Bereits im Zusammenhang mit der Präimplantationsdiagnostik (PID) sind Gentests an Embryonen gesetzlich zulässig, wenn aufgrund einer genetischen Vorbelastung eine schwere Erbkrankheit zu befürchten ist. Von da ist es nicht mehr weit bis zu der Vorstellung, durch gezielte gentechnische Eingriffe in Körperzellen oder gar in Keimbahnen derartige Erbkrankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen. China hat bereits sein erstes - zunächst noch gescheitertes - Laborexperiment mit Embryonen vermeldet, um zu lernen, wie man das bewerkstelligen könnte.

Wo genau die Grenze zwischen einer »negativen« (therapeutischen) Eugenik und einer bewussten »Verbesserung« bzw. Optimierung der menschlichen Erbanlagen verläuft, lässt sich angesichts der rasanten biomedizinischen Entwicklung zunehmend weniger bestimmen. Im Moment werden therapeutische genomchirurgische Verfahren im Rahmen klinischer Studien nur bei schweren Krankheiten durchgeführt, wobei die Modifikation der Körperzellen außerhalb des Körpers (»ex vivo«) stattfindet, so dass die möglichen Nebenwirkungen beherrschbar bleiben. Das Embryonenschutzgesetz verbietet derzeit jede künstliche Verände­rung der Erbinformation von Keimbahnzellen und deren Verwendung zur Befruchtung; aller­dings wirft das Gesetz zahlreiche Auslegungsfragen auf und sieht selbst einige Ausnahmen vor. Es wurde 2011 geschaffen, um unverantwortliche Humanexperimente durch die (seinerzeit) begrenzten technischen Methoden zu verhindern. Wenn es eines Tages aber sichere Möglichkeiten zur Keimbahntherapie geben sollte, greift der bisherige Schutzzweck des Gesetzes nicht mehr. Vielfach wird argumentiert, dass mit einer Keimbahntherapie eine schiefe Ebene betreten werde, die am Ende unweigerlich zu einer »positiven« Eugenik führe, also zum bewussten »Optimieren« von Menschen. Dann würden sich weitere grundsätzliche Fragen stellen: Wie geht die Gesellschaft mit Behinderten um, wenn die Verhinderung genetisch bedingter Behinderungen technisch möglich wird? Führt die Entwicklung am Ende zu einer Vereinheitlichung der genetischen Ausstattung der Bevölkerung? Wie steht es um die Würde und Identität des Menschen, wenn das menschliche Erbgut technisch ohne weiteres manipulierbar wird, und von welcher »Identität« reden wir dann eigentlich? Diesen Bedenken ist auf der anderen Seite entgegenzuhalten, dass genetische Eingriffe in die Keimbahn bisher beispielsweise auch durch Impfung, Bestrahlung oder Chemotherapie nicht auszuschließen (und daher gesetzlich zulässig) sind. Auch das Argument der »Künstlichkeit« derartiger Verfahren taugt nur bedingt, sonst müssten ja alle Therapien durch Menschenhand verboten werden. Mittlerweile herrscht in Deutschland die Auffassung vor, dass es keine moralisch eindeutige »richtige« oder »falsche« Lösung gibt. Solange die Folgen nicht überschaubar sind, sollten die Möglichkeiten der Genomchirurgie für therapeutische Zwecke zwar weiter erforscht, aber genchirurgische Experimente an der menschlichen Keimbahn vorerst gestoppt werden, um die Chancen und Risiken im Rahmen eines breiten gesellschaftlichen Diskurses über die rechtlichen und ethischen Fragen der Keimbahntherapie offen zu diskutieren.

Jörg Klingbeil

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