Treffpunkt - Gemeinde aktuell

Jahresrückblick 2013

Überall zu Hause und trotzdem heimatlos (22. November)

Das war der Titel unseres  Freitagabend-Treffs am 22. November, an dem die Deutsch-Araberin Achlam Kabaha aus ihrem kurz zuvor erschienen Buch gleichen Titels vorlas. Das Buch lag zum Verkauf aus, ich besorgte mir ein Exemplar und habe es in den zwei folgenden Tagen verschlungen - obwohl ich eigentlich keine Zeit hatte. Und jetzt, wo ich, wie üblich, einen Rückblick auf die Veranstaltung schreiben will, stellte ich fest, dass ich nicht mehr auseinanderhalten kann, was am Abend gesagt wurde und was ich erst dem Buch entnommen habe. Ich fasse deshalb den Inhalt von beidem in einem Bericht zusammen.

Nur kurz und allgemein zum Abend selbst: Der Saal war so voll wie selten, wir mussten immer noch einmal neue Stühle aufstellen. Zum größten Teil waren die Besucher Verwandte und Freunde von Frau Kabaha, von den Templern waren außer der getreuen »Stammbeleg­schaft« nur wenige gekommen.  Achlam Kabaha - Überall zu Hause und trotzdem heimatlosDas war schade, denn die Weggebliebenen haben etwas versäumt. Frau Kabahas Vortrag war sehr lebendig, teils amüsant, teils tief berührend, und danach ergaben sich noch interessante Gespräche, vor allem beim gemütlichen Beisammensein, das noch bis gegen 23 Uhr dauerte.

Kurz auch zum Buch allgemein: ich würde es nicht unbedingt als das bezeichnen, was man unter einem »guten Buch« versteht. Es ist in einem kleinen Verlag erschienen, ein besseres Lektorat hätte ihm gut getan. Frau Kabaha spricht fließend deutsch, sie hat das Buch auf deutsch geschrieben, aber zum Teil merkt man dem gedruckten Text an, dass sie seit 20 Jahren mit Deutsch als Schriftsprache nicht mehr umgegangen ist; selten beim Ausdruck, häufiger bei Rechtschreibung und Grammatik. Aber das sind Schönheitsfehler, die nur manchmal die Lesefreude trüben (z.B. bei der konsequent inkonsequenten Verwechslung von »Sie« (Anrede) und »sie« (die anderen): da muss man manchmal zweimal lesen, bis man versteht).

Achlam Kabaha will anschaulich machen, was es bedeutet, in zwei Kulturen »zuhause« zu sein - und infolgedessen in keiner »daheim«. Das geht aber nur, indem man von eigenen Erfahrungen berichtet, über konkrete Ereignisse und konkrete Personen.

So wurde ihr Buch zu einer Art Autobiographie, aber zu einer ganz eigenen. Sie erzählt nur bedingt chronologisch, oft nach Themenbereichen. Vor allem aber: sie erzählt nur, was zu ihrem Thema gehört, alles rein Persönliche lässt sie weg.

Trotzdem ist ihre Biographie der rote Faden, der alles zusammenhält. Deshalb kurz die Fakten:

Ihre Familie lebt seit vielen Generationen in einem Dorf im Westjordanland. Sie gehörten zu der Minderheit, die blieb, als ihre Heimat nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 israelisches Gebiet wurde. Sie und ihre Nachkommen sind seither israelische Staatsbürger, formal bis auf einige Ausnahmen (Militärdienst) gleichberechtigt, praktisch in fast jeder Hinsicht Bürger zweiter Klasse.

Der Vater ging in den 60er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland, Mutter und Tochter kamen nach, als Achlam drei Jahre alt war. Es kamen noch vier Geschwister; alle Kinder gingen in Deutschland zur Schule, und obwohl die Eltern mit ihnen arabisch sprachen, sprachen sie untereinander fast nur deutsch und fühlten sich als Deutsche. Alle vier Geschwister leben heute hier, haben hier geheiratet und sich eine Existenz aufgebaut. Frau Kabaha betont, sie habe keinerlei Ausländerfeindlichkeit in Deutschland erlebt. Trotzdem habe sie mit dem Älterwerden das Gefühl gehabt, anders zu sein, nicht ganz dazuzugehören. Erst sehr viel später versteht sie, warum.

Jedes Jahr fährt die Familie in den Ferien in die alte Heimat, und dort, in ihrem Dorf, lernt Achlam einen etwas älteren Mann kennen, israelischer Araber wie sie, verliebt sich allmählich in ihn, und nach vier Jahren heiratet sie ihn, und zieht mit ihm nach Palästina bzw. Israel. Nun muss sie sich einleben, in eine völlig andere Welt: in eine andere Sprache - sie muss erst richtig arabisch lernen - , andere Sitten und Umgangsformen, eine andere Mentalität - spontaner, emotionaler, in die Vor- und später die Nachteile des Clan-Lebens in Dorf und Kleinstadt, wo jeder jeden kennt und beobachtet und ungeniert in das Leben der anderen hineinredet u.s.w. Sie gibt sich alle Mühe, will jetzt endlich dazugehören. Aber das gelingt nur halb, denn ein Teil von ihr denkt und fühlt deutsch. Sie wird akzeptiert, aber sie bleibt für die (meisten) anderen »die Deutsche«.

Frau Kabaha schildert das alles, meist ohne zu analysieren oder zu bewerten, in vielen kleinen und größeren Episoden aus ihrer persönlichen Erfahrung, und in jeder scheint etwas auf von den verschiedenen Wertvorstellungen, von der Kleidung über das Verhältnis der Geschlechter bis hin zur Religion.

Manche dieser Episoden sind bedrückend, viele höchst amüsant. Nur ein kleines Beispiel: Nach der Geburt von zwei Söhnen wünschen sie und ihr Mann sich sehnlichst eine Tochter. Mit dem Beginn der Wehen kommt sie ins Krankenhaus, der Vater darf sogar mit in den Kreißsaal, die extra angereiste Großmutter nicht. Als es so weit ist, ruft der Vater mit Stentor-Stimme: »Gelobt sei Allah, wir haben eine Tochter!«- so laut, dass auch die Großmutter vor dem Haus es hört und versteht. Es gibt eine riesige Aufregung, im Krankenhaus samt Umgebung, später in Dorf und Verwandtschaft. Nicht wegen der ungehörigen Ruhestörung - die interessiert niemand - , sondern wegen der ungehörigen Einstellung der Eltern: man freut sich über Söhne, Töchter sind nur eine unvermeidliche Nebenwirkung. Niemand glaubt den beiden, dass ihre Freude echt sei.

In ihrer Gesamtheit ergeben diese Episoden ein höchst lebendiges Bild des Zusammen­lebens, sie machen auch deutlich, wie schwierig ein solcher »Clash of Cultures« sein kann. Zusammen machen sie anschaulich, wie schwierig ein solches Leben in zwei Kulturen sein kann.

Vor allem aber machen sie deutlich, wie reich das macht und wie man daran wachsen kann, wenn man guten Willens ist. Wenn man mit Menschen auskommen muss oder will, die anders sind und die Welt anders sehen, dann muss man versuchen, diese andere Sicht zu verstehen, und auch bereit sein, die eigene zu überprüfen, zu fragen, ob sie nicht auf Vorurteilen beruht. Man kann die Sicht des anderen meist nicht übernehmen, man soll es auch nicht, aber man kann dann besser verstehen, warum er so denkt; oder sich klar werden, was einem wichtiger ist: das gute Verhältnis zu dem Anderen oder die Bewahrung des eigenen Standpunkts.

Das ist Frau Kabahas Botschaft, der Grund, warum sie dieses Buch geschrieben hat, der rote Faden, der es durchzieht: einen Weg zu zeigen, wie man mit anderen umgehen und auskommen kann, die anders sind und anders denken.

Sie will so objektiv wie möglich berichten. Das gelingt nicht immer. Manchmal spricht sie zornig oder abschätzig oder auch verzweifelt. Aber fast immer nimmt sie danach einen Teil ihres Zorns wieder zurück. Ein sehr eindrucksvolles Beispiel für ihre Haltung und ihre Entwicklung ist ihre Einstellung gegenüber Juden. Am Anfang sind Juden für sie, wie für die meisten Araber, das Böse schlechthin: der Feind, der ihnen ihr Land geraubt hat, im politischen und oft genug auch im wörtlichen Sinn, der sie unterdrückt und erniedrigt und gegen den man sich abschottet, soweit es irgend geht. Dann lernt sie über ihren Mann einzelne Juden kennen und stellt fest: das sind Menschen wie du und ich, mit ihren Ängsten und Freuden, ihren Stärken und Schwächen. Gegen Ende des Buches zählt sie, neben der engsten Familie, 5-6 Freunde auf, denen sie bedingungslos vertraut; zwei davon sind Jüdinnen.

Über Politik im eigentlichen Sinn sagt sie wenig. Zum Glück, denn da ist sie oft naiv, auch einseitig, und verwendet doch die Klischees, die sie eigentlich ablehnt.

Trotz solcher gelegentlichen Schwächen: ich habe selten ein Buch gelesen, in dem ein Autor sich so sehr um Ehrlichkeit bemüht, anderen und vor allem sich selbst gegenüber. Ich kann es nur empfehlen: Achlam Kabaha, »Überall zuhause und trotzdem heimatlos«. Esch Verlag, ISBN 978-3-943760-17-0, 10 €.

Brigitte Hoffmann

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