Am 4. Dezember 2024 begaben wir uns in die Ludwigsburger Altstadt zur Uraufführung des o.g. Films im Kinotheater Luna. Der ursprünglich als Fasslager erbaute Sandsteinquaderbau wurde 1947 zum Lichtspieltheater. Mit Einzug des Fernsehers in die Privathaushalte gingen die Besucherzahlen stetig zurück. Sexfilme überbrückten noch eine Zeitlang den programmierten Niedergang, aber dann stand das Kino leer, bis sich ein Verein - KinoKult e.V. - gründete, der es von Grund auf renovierte, es im klassisch-modernen Lounge-Stil einrichtete und es 2022 mit neuen, bequemen Kinosesseln bestückte. In dem gemütlichen Kino mit steil ansteigenden Sitzreihen, großer Leinwand und guter Tonqualität fand sich eine Gruppe Interessierter zusammen und ließ sich auf das dargebotene Geschehen - inklusive der Information über das Kino - ein.
Es handelt sich um einen Dokumentar- und Musikfilm von Regisseur Christoph Weinert. Er hatte den Auftritt einer Musikgruppe miterlebt, in der sich verschiedene Musiker zusammengefunden hatten, die Musik jüdischer Künstler:innen neu auf die Bühne brachten. Diese Musik mit ihrem breit gefächerten Repertoire faszinierte ihn so, dass er sich auf die Suche nach ihrem Ursprung begab. Dabei war ihm die 2002 erschienene Dokumentation des jüdischen Musiklebens in Berlin 1933-1938 »Vorbei... Beyond Recall« eine große Hilfe. Das BEAR FAMILY Box-Set besteht aus 11 CDs mit einer Gesamtspieldauer von über 14 Stunden Musik, sowie einer DVD mit der Rekonstruktion des verloren geglaubten und nun erstmals vorgelegten Tonfilmes »Hebräische Melodie« mit dem Geiger Andreas Weissgerber, und ein deutsch-englisches über 500 Seiten starkes Begleitbuch mit zahlreichen Bildern, einem gemeinsamen Text des Biographen Horst J. P. Bergmeier, des Historikers Ejal Jakob Eisler und des Discographen Rainer E. Lotz, einem Geleitwort von Rabbi Andreas Nachama, einem Vorwort von Henryk Broder, einer Einführung in die jüdische Liturgie von Rabbi David Sandor Polnauer sowie einer Erklärung der Tontechnik von Ingenieur Robert M. Laue.
In dieser grandiosen Dokumentation wurde über viele Jahre alles von den genannten Personen zusammengetragen, was sich weltweit noch von dieser besonderen Musik finden ließ, nachdem in der sogenannten »Reichsprogromnacht« am 9. November 1938 diese Musik mitsamt ihren Originalmatrizen, Texten und Noten gewaltsam eliminiert worden war. Bis dahin hatten Mitglieder eines Jüdischen Kulturbundes in Berlin unter ständiger Kontrolle der Gestapo ihre Kunst ausüben, Schallplatten aufnehmen und vertreiben können. Einige dieser in Berlin aufgenommenen Titel wurden 1934-1936 in Palästina herausgegeben - das war die Vorgeschichte der Plattenindustrie Israels. Danach galt sie - bestehend aus klassischer Musik, jiddischen Komikern, deutschem Kabarett, palästinensischen Volksliedern und vor allem kantoralen Gesängen von unerhörter Ausdruckskraft - und somit ein wichtiger Teil jüdischer Kultur der 1920er und 30er Jahre als endgültig verloren.
Die beiden Sammler Jakob Eisler und Rainer Lotz hatten unabhängig voneinander lange schon Schellackplatten gesammelt. Im Jüdischen Kulturbund in Berlin waren neben kleineren besonders die beiden Labels Semer und Lukraphon mit der Herstellung von Schallplatten befasst. Diese waren über die ganze Welt verstreut und existierten zumeist nur als Einzelstücke oder Testpressungen.
Der Film zeigt in spannenden Interviews mit den beiden Sammlern, die aufgrund ihrer gemeinsamen Leidenschaft zusammengefunden hatten, den Rechercheprozess - darunter auch die spektakuläre Aktion Jakob Eislers, der während seines Militärdienstes von einem Abbruchhaus in Tel Aviv erfuhr, in dessen Keller sich Regale und Kisten voller Schellackplatten befinden sollten. Er musste Urlaub nehmen und bekam vom Hausbesitzer, der gerade damit anfangen wollte, das Haus abzureißen, lediglich eine Stunde Zeit, um die Platten zu sichten. Das gelang ihm in dieser Zeit für nur einen kleinen Teil, den er retten konnte, danach versanken tausende alte Schellackplatten unwiederbringlich in Schutt und Asche. So wurden durch die Leidenschaft der beiden Sammler in gemeinsamen Anstrengungen unschätzbare Tondokumente gerettet, mit enormem technischem Aufwand restauriert und nach sechzig Jahren wieder für alle Zeiten zugänglich gemacht.
Außerdem nimmt die Musik weiten Raum in dem Film ein. Das international hochkarätig besetzte Ensemble studierte ausgewählte Lieder nach den nun wieder vorliegenden Tondokumenten ein und bringt sie neu auf die Bühne - so lebendig und mitreißend, dass ich nach jedem Stück versucht war, zu klatschen. Auch die Musiker wurden interviewt und erzählen begeistert vom Neuentstehen des für immer verloren Geglaubten.
In unserem Fall war Jakob Eisler an diesem Abend auch anwesend und stellte sich im Anschluss an den Film den Fragen der Zuschauer.
Mich hat der Film sehr angesprochen und berührt; nicht nur, weil wir Jakob Eisler - und seine Leidenschaft für das, was er tut - gut kennen. Die ganze Thematik, die Musik, die Recherche, die Originalstimmen der beiden Sammler und der Musiker sind mitreißend und nehmen einen für 90 Minuten völlig aus dem Alltag heraus in eine andere Welt. Ich kann ihn nur empfehlen!
Einen Eindruck vermitteln der offizielle trailer (Englisch) sowie der Beitrag in »Kulturzeit« (3sat) (Deutsch).