Die Warte des Tempels
Monatsschrift für offenes Christentum

Ausgabe 176/1 - Januar 2020

 

 

»Macht euch die Erde untertan«? - Wolfgang Blaich

Ich glaube; hilf meinem Unglauben! - Karin Klingbeil

Die Große Seele und die Bergpredigt - Hermann-Josef Frisch

Churches for Future? - Viola Rüdele

Die verbotene Wildnis bei Tschernobyl - Peter Lange

Randbemerkung zur Künstlichen Intelligenz - Peter Lange

 

Foto: Elias Sch. auf Pixabay

 

Wellen sind faszinierende Phänomene.

Sie können uns als Symbol für das Auf und Ab des Lebens - oder auch eines Jahres dienen; sie können uns hoch hinauf tragen, aber auch kräftig durcheinanderwirbeln.

 

Mit folgenden Gedanken wünschen wir unseren Lesern trotz unserer aufgewühlten Zeiten ein gutes Neues Jahr!

 

Bewahre, was du hast.

Vergiss, was dir wehgetan hat.

Kämpfe für das, was du willst. Schätze, was du hast.

Vergib denen, die dir wehgetan haben,

und genieße die Zeit mit denen, die dich lieben.

Das ganze Leben warten wir auf etwas.

Und das Einzige, was vorübergeht, ist das Leben.

Wir schätzen die wunderbaren Momente erst,

wenn sie zu Erinnerungen werden.

Tue deswegen das, was du schon immer machen wolltest,

bevor es heißt: »Was ich immer machen wollte und nie getan habe.«

Es ist niemals zu spät, um neu anzufangen,

und niemals zu schwierig, um es zu versuchen.

 

Quelle: MadeMyDay

»Macht euch die Erde untertan«?

Gedanken zum Bibeltext 1. Mose 1, Verse 27 und 28

Ich sehe die Bilder einer verletzten und geschundenen Natur, die um ihre Unversehrtheit und Erhaltung ringt. Mir klingen die Sprechchöre der Fridays for Future-Bewegung in den Ohren. In welche Zukunft blicken diese jungen Menschen, blicken wir mit ihnen? Was hinterlassen wir diesen Generationen unserer Kinder und Enkel? Um es ganz drastisch mit den Worten eines »Spiegel«-Titelblattes zu sagen: Sind wir noch zu retten?

Ist es nicht diese Sorge, die uns umtreibt, die Frage, die uns belastet? Aber ich möchte nicht bei der Formulierung meiner Frage stehen bleiben, sondern mehr verstehen, wo wir stehen und warum wir da stehen, was uns helfen kann und was zu tun ist.

Einen eindeutigen Bezug zu diesen Fragen und zur Problematik einer angegriffenen Schöp­fung finden wir im Alten Testament in der Schöpfungsgeschichte im 1. Buch Mose Kap. 1, Verse 27 und 28, wo es heißt: »Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde ... Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan ...«. Ein verhängnisvoller Satz - eine verhängnisvolle Über­setzung? Ein Wort, das falsch verstanden, falsch interpretiert werden kann - mit entsprechend verheerenden Folgen? Denn unter Berufung auf diesen Satz haben Menschen diesen Plane­ten erobert, geplündert und weite Teile der Natur unwiederbringlich zerstört. Deswegen frage ich, ob das so gemeint war, als einer aufschrieb »macht euch die Erde untertan«.

Wie oft wurde das missverstanden und missbraucht! Bedeutete diese angebliche Weisung Gottes, der Mensch könne nun alles mit seiner Schöpfung tun, was er will? Gibt Gott damit einen Freibrief, die Erde auszubeuten? Wird der Mensch zum höchsten Chef alles Geschaffe­nen, zur Krone der Schöpfung? Hat über Jahrhunderte eine falsche Interpretation des Wortes, weil vielleicht falsch übersetzt, unser Denken und Handeln zu unserem eigenen Verhängnis geprägt? Hat die wörtliche Übernahme dieses Wortes unser Verhältnis zur Natur zerstört, zu einer Entfremdung geführt? Verstehen wir nicht mehr, dass wir ein Teil der Natur sind, ein Bau­stein, ein Mosaikteil derselben? Nein, wir sind aus dem Schöpfungskreis gefallen, wir haben uns selbst daraus entfernt. Aber genau da liegt das grundlegende Dilemma - die Menschen können nicht gegen die Natur leben, sonst vernichten wir uns selbst. Die Natur braucht uns nicht, sie hat über Jahrmillionen ohne uns bestanden. Aber wir brauchen sie.

Macht euch die Erde untertan ... In neueren Übersetzungen spürt man ein Ringen um eine Deutung dieses Wortes, welche einer christlicheren Weltauffassung dienen kann. Luther hat zu seiner Zeit aus dem damaligen Verständnis der Menschen zur Natur, im begrenzten Wissen um die physischen und biologischen Zusammenhänge alles Welt- und kosmischen Gesche­hens übersetzt, aus der damaligen Sicht zur Stellung des Menschen im Kosmos. Wir stehen da heute woanders. Und deshalb ist es notwendig, die vorliegende Übersetzung des genann­ten Bibeltextes zu hinterfragen.

Neuere Hebräisch-Forschungen gehen dahin, in den Urschriften nach ursprünglichen Wort­lauten zu suchen. Ein Ergebnis dieser Forschung ist, dass ein hebräisches Verb, welches als »herrschen«, »untertan machen« übersetzt wurde, an anderer Stelle mit »als Kulturland in Besitz nehmen«, »dienstbar, urbar machen« verstanden wird. Und ein zweites Beispiel für eine andere Deutung betrifft ein Verb, welches bisher übersetzt wurde mit »königlich, herrschaftlich auftreten«. Es erhält ein wesentlich anderes Gewicht, wenn es im Kontext mit dem Umgang eines Hirten mit seiner Herde verwendet wird: die verantwortungsvolle, fürsorgliche und um­sichtige Umgangsweise für die abhängigen Wesen. So gesehen geht der Auftrag an die Men­schen, die Welt zu betreuen, nicht zu unterjochen, sondern zu verwalten und zu erhalten.

Die Deutungsproblematiken in den Übersetzungen haben vermutlich einen lange nicht wahrgenommenen, nicht verstandenen geschichtlich-kulturellen Hintergrund; das hat zu fal­schen und damit für uns verhängnisvollen Folgen im Bewusstsein des Menschen hinsichtlich seines Umgangs mit der Schöpfung geführt.

»Macht euch die Erde untertan« ...man kann und darf zudem diesen Satz nicht für sich stehen lassen. Es ist unerlässlich zu sehen, was direkt davor steht: »Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde ...«. Damit wird nicht das Aussehen Gottes beschrieben, sondern die Herrschaft Gottes und was der Mensch damit zu tun hat. Um dies zu verstehen, muss man wissen: wenn im Altertum ein König ein großes Reich zu regieren hatte, war das - ohne eine heutige Infrastruktur - nicht einfach. Wie sollte er weit entfernten Gebieten zeigen, dass er der Herrscher ist? Er ließ Standbilder aufstellen, Abbilder von sich selbst - hier herrsche ich, wenn ich auch nicht persönlich anwesend bin.

So verstanden sagt die Schöpfungsgeschichte: der Mensch ist Bild Gottes auf Erden. Er ist Gottes Zeichen in der Welt. Er hat den Auftrag, Gottes Regentschaft auf Erden zu wahren und durchzusetzen. Das will heißen - wo der Mensch lebt, sät und erntet, da ist nicht der Mensch selbst Herrscher. Gott vertraut ihm die Schöpfung an und er will, dass sie weiter geht. Es gilt zu verstehen, dass alles, was wir erhalten, Geschenk aus Gottes Hand ist. Nicht der Mensch ist »Erzeuger« der Güter, sondern der Mensch darf und soll das verwalten, was Gott in seiner Schöpferkraft schenkt und wachsen lässt. Und wie das alles gedeiht, liegt am verantwortungs­vollen Umgang, an der klugen und sorgsamen Pflege des Verwalters! Zur Gottesebenbildlich­keit des Menschen gehört ganz elementar die Verantwortung für diesen Planeten. Die Menschheit kann nicht gegen die Natur leben, sie muss einen Weg finden, schöpfungsverant­wortlich zu wirtschaften. Wir müssen anschauen, wo und wie wir die Kräfte dieser Welt miss­brauchen durch eine Ideologie des ständigen Wachstums, die nur noch an sich selbst denkt und nur noch sich selbst meint. Machen wir uns weiterhin selbst zur vermeintlichen »Krone der Schöpfung«, werden wir bald nur noch ein ödes und lebensfeindliches Reich regieren.

Was hilft? Wie kann ich dieses innere Dilemma bearbeiten, um eigene Schritte zu finden, Schritte, die mir helfen, eine eigene und gemeinsame Kraft der Kreativität zu finden, um eine Wende im Denken und im Tun herbeizuführen?

Oft sind es kleine Veränderungen, welche große Wirkung bringen können. Machen wir aus dem uns vorliegenden Text »Macht euch die Erde untertan« ein »Macht euch der Erde untertan«, so entsteht eine neue Welt, ein neuer Mensch. Wir gewinnen ein vollkommen verändertes Verständnis des Auftrags im Bibelwort. Ein derart veränderter Blickwinkel im Verständnis kann allen laufenden Bemühungen zum Erhalt der Schöpfung einen neuen Schub geben. Vielleicht einen entscheidenden zu einem Aufbrechen veralteter und hinderlicher Strukturen. Neue Sicht, neues Denken, verändertes Verhalten liegen eng beieinander.

Dementsprechend äußert sich Papst Franziskus: Theologen haben den Satz »Macht euch die Erde untertan« lange falsch interpretiert. Wir sind nicht Gott. Die Erde war vor uns da und ist uns gegeben worden. Die Harmonie zwischen dem Schöpfer, der Menschheit und der Schöpfung ist zerstört durch unsere Anmaßung, den Platz Gottes einnehmen zu wollen. Die bisherigen Fortschritte im Klima- und Umweltschutz seien zu gering, die Widerstände von konservativen Seiten zu groß, Gleichgültigkeit, leichtfertige Verantwortungslosigkeit und fata­listisches Verhalten zu bestimmend. Soweit einige Aussagen des Papstes.

Ich sehe mich vor die Frage gestellt, was ich tun kann, sind nicht meine Möglichkeiten zu begrenzt? Bin ich zu klein, um etwas zu bewirken; fehlt es mir am entschlossenen Willen, meinen Lebensstil, mein Konsumverhalten zu ändern? Will ich mich der Frage einer nach­folgenden Generation stellen, was wir ihnen hinterlassen, was für eine Zukunft?

Ich habe mich überzeugen lassen, dass ich nicht nichts tun kann. Es ist das Beispiel der Jugendlichen, die bewiesen haben, dass man auch als Einzelner etwas bewirken kann - nämlich Mitmenschen aufzurütteln, um nicht mehr als Einzelner, sondern mit der Kraft des Gemeinsamen Dinge zu verändern. Mag man vielleicht auch nicht mit allen Schritten der Fridays for Future einig sein - eine Greta Thunberg hat gezeigt, welche sich rasch ausbrei­tende Wirkung die Entschlossenheit einer Jugendlichen haben kann, eine Wirkung bis in höchste politische Ebenen. Dieser Initiative kann sich keine Gesellschaft, keine Regierung, keine Wirtschaftsmacht wirklich entziehen. Aus einer solchen Bewegung kann die Hoffnung, die Zuversicht gewonnen werden, noch eine Chance zu haben, die »Spirale der Selbstzer­störung« verlassen zu können. Wir haben die Chance, darauf vertrauen zu lernen, dass die Intelligenz des Lebens und der Schöpfung dem Menschen als Teil der Schöpfung die Möglichkeit und die Fähigkeit gibt, Probleme, welche er geschaffen hat, auch lösen zu können! Das führt dahin, dass statt zu herrschen das Dienen an diese Stelle tritt. Was ist das Bemühen eines guten Dieners? Er kümmert sich mit all seiner Kraft um das Wohl seines Herrn und dessen Reiches. Dienen heißt nicht unterwerfen, sondern mit der ganzen Kraft und Anstrengung dem Wohlergehen dieses Planeten und der gesamten Schöpfung zu dienen.

Wolfgang Blaich in der Morgenfeier am 27.10.2019

BIBELWORTE - KURZ BETRACHTET

Ich glaube; hilf meinem Unglauben!

(Markus 9,24)

Die Jahreslosung für 2020 stammt aus dem Markusevangelium und beschreibt Jesu Heilung eines 'besessenen' - wahrscheinlich epileptischen - Jungen, den sein Vater zu Jesus bringen will, damit er ihn heilt. Zunächst trifft er nur die Jünger an, die aber nicht helfen können. Als Jesus hinzukommt, streiten sie sich mit einigen Schriftgelehrten und es hat sich bereits eine Menschenmenge gebildet, die den Fortgang der Geschichte verfolgt.

In Jesu Anwesenheit erleidet der Junge einen heftigen Anfall und in höchster Not bittet der Vater erneut: Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! Darauf antwortet Jesus: Du sagst: Wenn du kannst! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Sofort schreit der Vater: Ich glaube; hilf meinem Unglauben! Daraufhin heilt Jesus den Jungen.

Was vermittelt uns diese Heilungsgeschichte? Wie verstehen wir Jesu Bemerkung, sein Tun? Wo finden wir uns wieder?

Der Vater leidet unendlich an der Krankheit seines Jungen, die dieser von klein auf hatte. Im Glauben, dass Jesus ihnen helfen kann, ist er zu ihm gekommen - aber seine Unsicherheit, ob Jesus wirklich helfen kann, bleibt dennoch. Sicherlich hat er bereits alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgeschöpft, inklusive intensivem und häufigem Beten - und nun kommt Jesus und sagt: Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Heißt das, er hat nicht genug geglaubt und gebetet, nicht intensiv genug? Und wenn wir nur genug glauben und beten, sind wir dann zu allem imstande?

Wenn wir so denken, befinden wir uns schon in einer Sackgasse. Ganz sicher geht es Jesus nicht um ein gewisses Maß an Glauben, 'richtige' Glaubensinhalte oder Methoden, die erfüllt sein müssen, um dadurch etwas zu erreichen. Gerade in Bezug auf Heilung gibt es aber eine eindeutige Verbindung zwischen Heilung und Selbstmotivation: aus der Psychologie wissen wir, dass Menschen, die an ihre Heilung glauben, eher wieder gesund werden als solche, die das nicht tun; und die Placebo-Forschung zeitigt dieselben Ergebnisse.

Nein, Jesus geht es um Vertrauen und Liebe - entweder wir vertrauen oder nicht, entweder wir lieben oder nicht. Ein bisschen lieben geht nicht, auch wenn immer mehr möglich ist. Wenn wir Glaube als das rückhaltlose Vertrauen auf die Liebe und das Erbarmen Gottes verstehen, dann führt diese Überlegung zu Selbsterkenntnis und Demut - und damit auch dazu, dass wir unsere Beziehung zu Gott nicht durch unsere Wünsche instrumentalisieren sollten. Anne Ramsayer hatte sich notiert: Was mich loslassen lässt, bevor ich ergreife, und mich hoffen lässt, bevor ich sehe, ist das Vertrauen. Ein schönes Motto für das neue Jahr.

Karin Klingbeil

Die Große Seele und die Bergpredigt

Mahatma Gandhi liebte Jesus - die konkrete Gestalt des Christentums weniger

Während eines Gefängnisaufenthalts im Jahr 1923 schreibt Mohandas Karamchand Gandhi: »In meinen Augen ist Jesus einer der größten Propheten und Lehrer, die der Welt je gegeben worden sind. Meine Zuneigung zu Jesus ist wirklich groß. Seine Lehre, seine Einsicht und sein Opfertod bewegen mich zur Verehrung.« Gandhi war zutiefst im Denken und in der Religion seiner Heimat Indien verwurzelt. Aus den hinduistischen Traditionen entnahm er seinen Glauben an ahimsa, unbedingte Gewaltlosigkeit, die zur Leitlinie seines Wirkens wurde.

Doch Gandhi, der Mahatma - sans-krit für Große Seele -, blickte über seine religiöse Heimat hinaus, er befasste sich intensiv auch mit dem in Indien weit verbreiteten Islam und mit dem Christentum, das er in Südafrika, in England und auch in seiner Heimat kennengelernt hatte. So las er nicht nur die Schriften indischer Tradition, vor allem die Bhagawadgita, die zentrale Schrift des Hinduismus, die ihm Trost und Hoffnung schenkte. Gandhi las auch den Koran und die Bibel und besonders die Evangelien, vor allem die Bergpredigt...

Hermann-Josef Frisch, Autor des Buchs »Gott neu lernen«, ISBN 9783749484300

 

Dieser Artikel ist für die Internetausgabe der »Warte« leider nicht freigegeben. Lesen Sie den vollständigen Artikel in der gedruckten Ausgabe der »Warte« oder in »Publik-Forum«, kri­tisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 19/2019, Seite 17.

Churches for Future?

Die Kirchen suchen das Gespräch mit Fridays for Future. Wollen sie sich wirklich darauf ein­lassen - oder nur bei der Jugend punkten?

Aufgereiht sitzen die Podiumsteilnehmer auf ihren Stühlen. Links der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick, der Ökonom Ottmar Edenhofer und die Philosophin Christine Heybl. Zur Rechten die »Jury«, darunter Vertreter von Fridays for Future und Parents for Future. Die Katholische Akademie in Bayern hat sie zusammengebracht unter der Frage »Churches for Future«? Direkt nach der Münchner Freitagsdemonstration sollten die Klimaaktivistinnen ihre Forderungen an die Kirchen stellen. Das erwarten sie: Volle Unterstützungen ihrer Forde­rungen an die Politik. Klimaschutz in den Lehrplänen des Religionsunterrichts unter den Aspekten Nächstenliebe und Bewahrung der Schöpfung. Regelmäßige Umweltgottesdienste. Reduktion der Emissionen, die die Kirchen verursachen. Konkret: mehr vegetarisches Essen bei kirchlichen Veranstaltungen oder bessere Wärmedämmung ihrer Gebäude. Rückzug aus allen Geldanlagen, die Gewinne aus fossilen Energieträgern erwirtschaften.

Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, erklärt, wie schlecht es um den Planeten bestellt ist. Darin ist man sich einig. Die Sprache ist drastisch und deutlich. Von einem »kollektiven Suizidversuch« ist die Rede und von einer »letzten Chan­ce«.

Ein echter Dialog kommt allerdings nicht auf. Viel öfter als mit den jungen Aktivisten wird über sie gesprochen: als sei die Klimakrise eine Chance für die Kirche, um bei der Jugend punkten zu können...

Viola Rüdele

 

Dieser Artikel ist für die Internetausgabe der »Warte« leider nicht freigegeben. Lesen Sie den vollständigen Artikel in der gedruckten Ausgabe der »Warte« oder in »Publik-Forum«, kri­tisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 20/2019, Seite 28.

Die verbotene Wildnis bei Tschernobyl

Im Umkreis von 30 Kilometer um den am 26. April 1986 durch Kernschmelze explodierten Re­aktor von Tschernobyl wurde nach dem verheerenden GAU (größter anzunehmender Unfall) eine Schutzzone eingerichtet, aus der alle Bewohner (etwa 160.000 Menschen) umgesiedelt und die dort befindlichen über 70 Ortschaften der Ukraine und Weißrusslands aufgegeben wurden. Seither herrscht eine strenge Grenzbewachung des Schutzgebiets - das Polesische Staatliche Radioökologische Schutzgebiet, wie es offiziell genannt wird -, in das kein mensch­licher Zutritt gestattet ist.

Die Stadt Tschernobyl liegt nahe der Mündung des Pripyat in den dort aufgestauten 2200 Kilometer langen Dnjepr (drittlängster Fluss Europas). Der Pripyat durchfließt ein weites, aus Sümpfen, Wiesen und Auenwald bestehendes Tiefland, in dem es noch großräumige intakte Lebensräume gibt. Die sogenannte »Polesie« ist eine der größten Naturlandschaften Europas mit einer West-Ost-Ausdehnung von 900 Kilometern. Sie überwindet im wahrsten Sinne des Wortes Grenzen, denn sie erstreckt sich über weißrussisches, polnisches, russisches und ukrainisches Territorium. Etwa 85 Prozent der Polesie liegen in der Ukraine und in Weiß­russland. Aufgrund seines geringen Gefälles fließt der Pripyat sehr langsam und bedeckt weite Flächen mit Sümpfen und Seen. Ich kann mich persönlich noch gut an die Kriegsberichte im Zweiten Weltkrieg erinnern, in denen vom schweren und mühsamen Durchkommen der deut­schen Wehrmachts-Einheiten durch die Pripyat-Sümpfe die Rede war.

Als Förderer der Naturschutz-Arbeit der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF) habe ich deren Zeitschrift »Gorilla« über die Hilfsprojekte in der Polesie gelesen. Trotz starker Eingriffe in die Natur in sowjetischer Zeit sind große Bereiche noch immer vollkommen vom Menschen unberührt geblieben. Ortsschild der Geisterstadt Pripyat Nordukraine - Foto: Adam Jones - Wikimedia CommonsAusgedehnte Wälder bieten großen Säugetieren wie Wolf, Luchs, Elch und Wi­sent ein Refugium, und in letzter Zeit werden auch immer öfter Braunbären gesichtet. Die Flussauen des Pripyat stellen einen wichtigen Rastplatz für Wasservögel dar, deren Zugroute im Frühjahr und Herbst durch die Polesie führt. Viele Gebiete der Polesie sind von internationaler Bedeutung für den Naturschutz und beispielsweise als UNESCO-Bio­sphären-Reservate anerkannt.

Darüber hinaus tritt nun seit 1986 in dem strah­lenverseuchten Gebiet der Polesie ein Naturschutz ganz besonderer und ungeplanter Effektivität ein, der selbst in streng geschützten Nationalparks anderswo in der Welt seinesgleichen sucht: in einem abgegrenzten Stück Erde gibt es dort seit über 33 Jahren keinen neuen »menschlichen Fußabdruck« mehr. Diese Zone ist wie vor Urzeiten völlig sich selbst überlassen. Das Schutz­gebiet ist ein gigantisches ungewolltes Experimentierfeld, ein Studienobjekt von größter Ein­maligkeit in der Welt.

In der Wissenschaft wurde schon seit Jahren heiß darüber diskutiert, wie sich Radioaktivität auf Wildtiere, Pflanzen und Biotope auswirkt. Solche »Laborbedingungen« wie hier sind für die Forschung deshalb so interessant, weil sie den Kleinmaßstab bei weitem verlassen haben. Sie sind aber gleichzeitig am äußersten Rand der Zugänglichkeit und Zumutbarkeit für den Men­schen, da es für die Strahlenbelastung der »Laboranten« keine einfachen »Schutzwesten« gibt.

Trotz dieser Gefahren haben sich nach einem Bericht in »Gorilla« vor sechs Jahren der ZGF-Mitarbeiter Michael Brombach und mehrere englische Wissenschaftler einen halben Tag lang im weißrussischen Teil der Schutzzone von Tschernobyl bewegt. »Unsere Fahrt durch die Chernobyl Exclusion Zone war beeindruckend, aber auch bedrückend«, erinnert sich Brombach. »Zeitweise hatte man das Gefühl, sich durch eine ursprüngliche europäische Wildnis zu bewegen. Wir sahen aber auch immer wieder verlassene Häuser mit persönlichen Gegenständen, die die Menschen 1986 bei der Evakuierung aufgeben mussten. Und spätes­tens die markanten gelb-roten Radioaktivitäts-Warnschilder erinnerten uns schlagartig daran, dass sich diese Wildnis hier erst seit relativ kurzer Zeit entwickeln konnte.«

»Menschliche Eingriffe in die Natur scheinen manchmal einen stärkeren Einfluss auf Tiere und Pflanzen zu haben als die aktuelle Strahlungsbelastung«, schreibt ZGF-Trainee Christina Götz. »Arten wie der Weißstorch, die sich an das Leben in der Nähe menschlicher Siedlungen angepasst haben, nahmen nach 1986 ab. Stattdessen wanderten vermehrt Beutegreifer in die Sperrzone ein. Allen voran Bussarde und Habichte, die sich als neuen Lebensraum die brach­liegenden Agrarflächen erschlossen. Aber auch große Tierarten, wie der Schelladler und der Braunbär, kehrten in die Region zurück.«

Den Naturforschern zufolge leben über 2.000 Elche im Schutzgebiet, zudem Wölfe und Luchse, Tendenz steigend. Eine internationale Studie hatte 2015 gezeigt, dass Elche, Rotwild, Damwild und Wildschweine genauso häufig waren wie in anderen, unbelasteten Schutzgebie­ten der Region. Lediglich die Wölfe waren siebenmal häufiger, sie scheinen sich in der Ver­botszone sehr wohlzufühlen.

Je nach Entfernung zum ehemaligen Reaktor variiert die Strahlungsbelastung im Schutz­gebiet. Daher können auch heute noch Mutationen im Genom der Tier- und Pflanzenarten auftreten. Erforscht wird, ob sich diese Mutationen lediglich negativ auf die Lebenserwartung einzelner Individuen auswirken oder ob sich ganze Populationen verändern. Möglicherweise wird die Strahlenbelastung sogar durch Wanderungen von Tieren aus der Sperrzone weit hinausgetragen.

Auch wenn noch nicht alle Wechselwirkungen untersucht wurden, verdeutlicht die Entwick­lung der Tier- und Pflanzenbestände in den letzten 30 Jahren zunächst eines: Auch nach einer atomaren Katastrophe läuft ein Prozess einer natürlichen Sukzession ab. Wo die Landschaft um Tschernobyl vor 1986 von Offenland und Agrarflächen geprägt war, entwickeln sich wieder Wälder und zunehmend artenreiche Lebensräume, auch für seltene Arten. Die Einzigen, für die das Gebiet für Jahrhunderte oder Jahrtausende verloren sein wird, sind wohl wir Men­schen.

Peter Lange, in Anlehnung an ZGF Gorilla 1/19

Randbemerkung zur Künstlichen Intelligenz

Hier noch ein Beitrag zum Thema des Gemeindeseminars 2019

Verfolgt man gegenwärtige Äußerungen und Darstellungen zu den zahlreichen neuen techni­schen Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz (KI), mag man sich vielleicht in das Szenario Goethescher Verse des »Zauberlehrlings« versetzt fühlen. Tatsächlich haben in modernen Werk­stätten Besenstiele auf mysteriöse Weise plötzlich zwei Beine und oben einen Kopf aufgesetzt bekommen. Sie können hin und her gehen, mit uns sprechen und Arbeiten für uns verrichten. Wir sind zu Lehrlingen in eines Hexenmeisters Versuchslabor geworden. Aber können wir zukünftig diese Kreaturen auf einen Befehl hin »zur Räson bringen« oder sie auch wieder abschalten?

So einfach wie im Gedicht werden sich die Konsequenzen unserer Erfindungen wohl nicht wieder rückgängig machen lassen. Mit dem Spruch des Hexenmeisters »In die Ecke, Besen, Besen! Seid‘s gewesen!« wird es wahrscheinlich nicht funktionieren. »Was einmal gedacht worden ist, kann nicht mehr zurückgenommen werden« hat ein Wissenschaftler unserer Tage gesagt. Was sollen wir denn auch zurücknehmen? Unseren Einfallsreichtum? Unsere Technikgläubigkeit? Das möchten wir doch wohl nicht. Vieles an modernen Annehmlichkeiten ist inzwischen tief eingebrannt in unser Gehirn. Geht das Mögliche und Machbare so einfach abzuschalten, um seinen Missbrauch zu verhindern? Dem Problem der Beherrschung unserer Erfindungen werden wir uns wohl in jedem Fall stellen müssen. Also sind wir dann doch die Hexenmeister selbst, die den Besenstielen die Kommandos geben müssen. Also Los! oder Stopp! Vorwärts! oder Zurück!

Nun scheint unser Hexenmeister neuerdings auch Konkurrenz zu bekommen. Klammheim­lich, ohne dass wir es so recht bemerken, schleichen sich Konkurrenten in das Hexenlabor. Da ist vor allem einer, der dem alten Hexenmeister den Platz streitig machen will. Er ist kein blo­ßer Technik-Verbesserer mehr, sondern ein neuer Meister des Hexens: der Humangenetiker. Er braucht die Besenstiele nicht mehr. Er greift tief in das Lebendige der Welt direkt ein und erschafft Neues.

Seine Intelligenz schlägt alle Rekorde. Aber wehe! Er hat noch keine »Wort‘ und Werke« erfunden, mit denen wir Lehrlinge seine Schöpfungen zähmen oder zurücknehmen könnten. Kommen wir dann nicht erst recht in Not und müssen resigniert feststellen: »Die ich rief, die Geister, die werd‘ ich nun nicht los!«

War unser Dichterfürst Goethe in dieser Hinsicht vielleicht ein »Vorahner«? Kann diese Intelligenz dann noch »künstlich« genannt werden, so wie ein Roboter oder ein selbstfahren­des Auto, wenn sie aus demselben Material besteht wie wir Menschen? Wenn die Geschöpfe selbst zu Schöpfern werden?

Peter Lange

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